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TobiasB

Schreiben im Präsens

Empfohlene Beiträge

Hallo,

 

ich lese gerade einen Roman von Steve Alten "2012 - Schatten der Verdammnis". Es handelt sich dabei um einen hochrasanten Endzeit-Thriller. Aber ob einem die Thematik oder die inhaltliche Umsetzung gefällt, soll nicht die Frage dieses Threads sein. Vielmehr erstaunte mich der Stilgriff des Autors, den kompletten Roman im Präsens geschrieben zu haben. Das erstaunlichste daran ist jedoch: es funktioniert. Meiner Meinung nach wird dadurch die Spannung, oder sagen wir lieber, der "Page-Turner-Effekt" immens verstärkt.

 

Was mich als Leser begeistert, irritiert mich jedoch als Autor. In jedem noch so schlechten Schreibratgeber steht, dass das Schreiben in Präsens ein Novum ist. "Das darf man nicht", sagt ein jeder und ist die einhellige Meinung, auch sämtlicher Verlage.

 

Wieso darf das nun dieser Steve Alten? Warum wird einem davon abgeraten? Mir gefällt das eigentlich recht gut. Ich finde es ungewohnt, und vielleicht gerade deshalb schön zu lesen. Alten pflegt natürlich auch einen schnörkellosen Stil. Die Erzählweise ist rasant, temporeich, actiongeladen. Kurze Sätze und viele Szenen im Dialog.

 

Ich dachte mir, dass es lohnenswert ist, einmal darüber zu diskutieren, Vor- und Nachteile zu erörtern, nicht nur vom Schreiben im Präsens, sondern vielleicht generell darüber, gängige Schreibnormen über Bord zu werfen, und dennoch damit erfolgreich und gut zu sein.

"Kein Buch oder Gedicht ist je fertig. Es wurde lediglich aufgegeben." (Sprichwort, unbek. Verf.)

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"Das darf man nicht", sagt ein jeder und ist die einhellige Meinung, auch sämtlicher Verlage.

So ein Quatsch! (Ich habe gerade nicht so viele Ausrufezeichen, wie ich setzen möchte) Und besonders, dass Verlage gegen Präsens sind, ist ein Mythos. Viele erfolgreiche Romane sind im Präsens geschrieben, darunter sogar Jugendbücher, bei denen Verlage umso mehr auf die Ausführung achten..

zB. "Schattenblüte" von unserer Dorothee (Jugendbuch). Oder "Vom Atmen unter Wasser" von unserer Lisa (kein Jugendbuch).

Oder: "Die Tribute von Panem", "Die Auswahl", und und und

 

Ich vertrete die Meinung: Man darf alles. Man muss sich nur über die Wirkung bewusst sein. Was erzeugt Präsens?

Er verlangsamt ein wenig das Tempo (nach meinem Gefühl), da Präsens eine "unvollendete" Handlung beschreibt. "Ich gehe" (es dauert noch) vs. "Ich ging" (es ist vorbei).

Dadurch lenkt Präsens den Fokus auf die Vorführung der Handlung und rückt ein wenig von der Figur ab. Die Handlung wirkt intensiver, nicht die Figur. (Was man mit anderen Stilmitteln dann wieder ausgleichen kann)

 

Wenn man also weiß, welche Zeitformen/Perspektiven was erzeugen, kann man für den eigenen Roman die beste Wahl treffen, eben das, wonach der Roman verlangt. Das darf Steve Alten aber auch du und ich.

Und wenn es nötig ist, kann man auch in einer "Du-Perspektive" schreiben und erfolgreich sein.

 

Liebe Grüße,

Olga

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Hallo,

 

die derzeit überaus erfolgreiche Jugendbuchreihe "Die Tribute von Panem" wird auch im Präsens erzählt, Ich-Perspektive. Übrigens auch so etwas wie Endzeit - möglicherweise gibt es da einen Zusammenhang.

 

Es ist einfach unmittelbarer, unberechenbarer. Ich bekomme nichts aus Abstand nacherzählt, sondern bin gleich dabei. Man fühlt sich als Leser weniger "sicher". Dass der Ich-Erzähler stirbt ist ja nun doch recht selten (und wenn, erzählt er aus dem Grab?), diese Sicherheit - die erzählende Figur überlebt - gibt es im Präsens nicht.

Mir gefällt das sehr, sehr gut. Ich werde das im nächsten Roman, der aus der Ich-Perspektive erzählt wird, vermutlich auch ausprobieren.

Es liegt für mich nahe, wenn ich den Leser dichter an die Figur & in die Situation bekommen möchte.

 

Gängige Normen & Schreibratgeber-Tipps sind immer so eine Sache. Jeder Rat gilt eben nur so lange, bis sich jemand erfolgreich drüber hinweg setzt. Und der wichtigste Tipp, was Ratschläge betrifft, lautet ohnehin:

"Richte dich nie nach Ratschlägen, in denen es "nie" oder "immer" heißt. Ignoriere sie immer!"

 

Ich frage mich gerne nach Gründen dieser Ratschläge, nach dem Warum. Wenn ich das Warum nicht verstehe, ist das kein Rat für mich. Was so schändlich am Präsens sein soll, konnte mir noch niemand erklären. Ich muss aber auch zugeben, dass ich diese Regel noch nie gelesen habe.

 

LG Jenny

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Lieber Tobias,

 

deine Aussage erstaunt mich. Dass Romane im Präsens erzählt werden, ist kein Novum. Wer im Präsens schreibt, wirft daher auch keine "gängigen Schreibnormen" über Bord. Welche Schreibratgeber behaupten das?

 

Es gibt viele Romane im Präsens, z. B. "Das Glück der anderen" von Stewart O'Nan (Du-Perspektive und Präsens); "Nixenkuss" von Samantha Hunt (komplett im Präsens); Dan Winslow: "Tage der Toten" (Genre-Literatur); Jenny Erpenbeck "Heimsuchung"; "Paula Spencer" von Roddy Doyle; "Die Farbe Lila" von Alice Walker; und last not least auch "Vom Atmen unter Wasser" von unserem Forumsmitglied Lisa.

 

Liebe Grüsse

Andreas

"Wir sind die Wahrheit", Jugendbuch, Dressler Verlag 2020;  Romane bei FISCHER Scherz: "Die im Dunkeln sieht man nicht"; "Die Nachtigall singt nicht mehr"; "Die Zeit der Jäger"

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Ihr Lieben,

 

es gibt in der Tat viele Romane, die im Präsenz geschrieben sind. Da erzählt der Ratgeber wohl eindeutig Quatsch.

 

Ich als Autor würde diese Form allerdings nie wählen, weil ich sie als Leser sehr anstrengend finde. Na, gut, bei mir stellt sich die Frage auch nicht, weil meine Geschichten immer in der Vergangenheit spielen. Trotzdem: Meine erste Wahl wäre das nicht.

 

Viele Grüße

Micaela

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Auf die Schnelle werfe ich auch noch etwas ein: Habe nämlich gerade zwei Bücher hintereinander gelesen, die beide im Präsens geschrieben sind, es funktioniert hervorragend und nervt mich beim Lesen überhaupt nicht. Genre "anspruchsvolles Frauenbuch", beide von 2005, 2006, vom ehemaligen Forumsmitglied Petra van Cronenburg.

Herzliche Grüße

Claudia (die sich immer noch fragt, wie die weibliche, politisch korrekte Form von Mitglied heißen könnte... ;))

Baronsky&Brendler: Liebe würde helfen  Ein Staffelroman 
Februar 21, Kampa

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Hallo,

 

ich darf als Beispiel noch das grandiose "Wenn ein Reisender in einer Winternacht" von Italo Calvino ins Rennen schicken. Calvino erdreistet sich, den Roman nicht nur im Präsens zu schreiben, sondern auch noch in der Du-Perspektive und macht so den Leser zum Protagonisten. Funktioniert wunderbar.

 

Viele Grüße

 

Thomas

"Man schreibt nicht, was man schreiben möchte, sondern was man zu schreiben befähigt ist."&&- Jorge Luis Borges -

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Hallo Tobias,

 

bei so vielen Beispielen dürften dem "Das darf man nicht" schnell die Argumente ausgehen. Und um noch einen drauf zu geben: Ich würde behaupten dass 95% aller ChickLit/DickLit in Präsens (und dazu in der ersten Person) verfasst sind. Das hat so was von Fernsehen/Kino: alles was passiert, passiert exakt *jetzt*, mit den entsprechenden Vor- und Nachteilen...

 

Herzliche Grüße

Jochen.

"La carte est plus intéressante que le territoire" (Michel Houellebecq)

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John le Carré in seinem letzten Thriller mischt beides. Normalerweise Vergangenheit, aber wenn es sehr kurzlebig und unmittelbar sein soll, verfällt er plötzlich in den Präsens, und das mitten in der Szene. Es ist gekonnt gemacht, denn meistens fällt es einem gar nicht auf, außer man konzentriert sich darauf. :)

 

Ich überlege gerade, etwas nicht ganz so Radikales zu machen. Meine Geschichte selbst soll in der Vergangenheit und ER-Form erzählt werden. Aber um die größeren Abschnitte rankt sich eine Rahmenhandlung, zwar gleichzeitig, aber örtlich weit entfernt. Und die Hauptfigur der Rahmenhandlung, da sie weit weniger häufig auftritt, möchte ich dem Leser aber doch sehr nahe bringen, denn sie ist wichtig. Deshalb überlebe ich, diese Rahmenhandlung in der Ich-Form und Präsens zu schreiben.

 

Bin mir noch nicht sicher, aber die Idee hat ihren Charm.

 

LG

Ulf

Die Montalban-Reihe, Die Normannen-Saga, Die Wikinger-Trilogie, Bucht der Schmuggler, Land im Sturm, Der Attentäter, Die Kinder von Nebra, Die Mission des Kreuzritters, Der Eiserne Herzog, www.ulfschiewe.de

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Ich finde die Erzählzeit Präsens ist ein wichtiges Stilmittel, mit dem man das Lesegefühl bewusst beeinflussen kann. Ich finde auch die Kombination von Präsens und Präteritum in verschiedenen Erzählperspektiven spannend. Auch das erzeugt eine bestimmte Wirkung.

 

LG Janet

PS. Das hat sich jetzt mit Ulfs Beitrag überschnitten.

"Singe, fliege, Vöglein stirb", Loewe, 2014&&"Rachekind", Heyne, 2013&&"Sei lieb und büße", Loewe, 2013&&"Schweig still, süßer Mund", Loewe, 2012&&"Ich sehe dich",  Heyne, 2011

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Ich finde auch die Kombination von Präsenz und Präteritum in verschiedenen Erzählperspektiven spannend. Auch das erzeugt eine bestimmte Wirkung.

Welche Wirkung erzeugt es für dich? Kannst du vielleicht ein paar Beispiele nennen?

Über die Wirkung von Stilmitteln zu diskutieren finde ich es immer sehr spannend und (für mich) lehrreich.

 

Liebe Grüße,

Olga

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Estaunlicherweise mag ich das Präsens als Leser nicht. Warum, keine Ahnung. Vermutlich habe ich bis jetzt wenige gute Bücher im Präsens in die Hand gekriegt. Lese ich in einer Buchhandlung ein Buch an und es ist im Präsens geschrieben, lege ich es wieder weg.

 

In einem meiner Romane habe ich mich allerdings entschieden, einen Handlungsstrang, der sich immer kapitelweise mit dem anderen abwechselt, durch das Erzählen im Präsens abzuheben.

 

LG Cornelia

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Ich finde auch die Kombination von Präsenz und Präteritum in verschiedenen Erzählperspektiven spannend. Auch das erzeugt eine bestimmte Wirkung.

Welche Wirkung erzeugt es für dich? Kannst du vielleicht ein paar Beispiele nennen?

Über die Wirkung von Stilmitteln zu diskutieren finde ich es immer sehr spannend und (für mich) lehrreich.

 

Liebe Grüße,

Olga

 

Hallo,

 

wenn ich mich da mal mit einem Beispiel einmischen darf, das ich erst kürzlich gelesen habe: "Die Reise des Elefanten" von José Saramago. Da ist mir die Vermischung von Präsens und Präteritum sehr stark aufgefallen. Immer, wenn Saramago an eine Szene näher rangegangen ist, hat er dafür das Präsens verwendet - teils im gleichen Absatz ohne Vorwarnung um genau so plötzlich ein paar Zeilen weiter unten oder vielleicht sogar nur einen Satz später wieder rauszuspringen. Am Anfang war's gewöhnungsbedürftig, doch der Effekt der Unmittelbarkeit war gut zu merken.

 

Viele Grüße

 

Thomas

"Man schreibt nicht, was man schreiben möchte, sondern was man zu schreiben befähigt ist."&&- Jorge Luis Borges -

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wenn ich mich da mal mit einem Beispiel einmischen darf' date=' das ich erst kürzlich gelesen habe: "Die Reise des Elefanten" von José Saramago. Da ist mir die Vermischung von Präsens und Präteritum sehr stark aufgefallen. Immer, wenn Saramago an eine Szene näher rangegangen ist, hat er dafür das Präsens verwendet - teils im gleichen Absatz ohne Vorwarnung um genau so plötzlich ein paar Zeilen weiter unten oder vielleicht sogar nur einen Satz später wieder rauszuspringen. Am Anfang war's gewöhnungsbedürftig, doch der Effekt der Unmittelbarkeit war gut zu merken.[/quote']

Das ist eine Möglichkeit, das Präsenz einzusetzen: Wenn die Handlung bedrohlich wird.

 

Ich wanderte durch den wunderschönen Schwarzwald, die Täler grün, die Höhen noch voll Schnee. Die Straße war leer und ich ging in der Mitte.

Plötzlich rast ein rotes Autos um die Kurve auf mich zu ...

 

Präsenz wirkt unmittelbarer, näher dem Film (zumindest auf mich), der Leser ist mehr drinnen. Aber neu ist das nicht, zumindest im letzten Jahrzehnt ist es manchmal schon Mode geworden.

 

Und welcher Schreibratgeber behauptet, das dürfe man nicht? Ich kenne zwar sehr viele, kann mich aber an keinen erinnern, der das behauptet.

 

Hans Peter

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"Ich gehe" (es dauert noch) vs. "Ich ging" (es ist vorbei).
Was mir bei diesen Beispiel als erstes auffiel, war die Tatsache, dass ich selbst auch ganz automatisch auf die Ich-Form verfallen bin, als ich mir beim Lesen der Eingangsfrage Beispiele für Präsenssätze überlegt habe. Wenn ich allerdings versucht habe, mir Präsenssätze mit dem üblichen "er" vorzustellen, fühlte sich das irgendwie fremd an. Und in einigen anderen Postings klang die Verbindung von Präsens mit dem Ich-Erzähler ja auch an.

 Meine weitergehende Frage wäre also, wie andere das empfinden: Gibt es, wenn man eine Erzählung im Präsenz zulässt, eine gewisse Affinität zum Ich-Erzähler? Funktioniert es damit leichter, besser, natürlicher? Oder sind mein Empfinden und die hier genannten Beispiele eher Zufall?

 

Geht Präsenz nur mit Ich-Erzähler wirklich gut?

Sinn ist keine Eigenschaft der Welt, sondern ein menschliches Bedürfnis (Richard David Precht)

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Hallo Hans Peter,

 

weshalb es mir bei Saramago besonders aufgefallen ist, hat nicht mit dem Einsatz des Präsens zur Steigerung der Spannung zu tun, denn das Buch hat im Grunde keinen stark ausgeprägten Spannungsbogen, es ist sogar ein sehr leises, bedächtiges Büchlein. Aber gerade deshalb ist es mir auch aufgefallen - weil eben die Handlung den Schwenk zum Präsens auf den ersten Blick betrachtet gar nicht hergibt. Aber trotzdem hat es funktioniert. War interessant zu sehen.

 

Viele Grüße

 

Thomas

"Man schreibt nicht, was man schreiben möchte, sondern was man zu schreiben befähigt ist."&&- Jorge Luis Borges -

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Wenn ich allerdings versucht habe' date=' mir Präsenssätze mit dem üblichen "er" vorzustellen, fühlte sich das irgendwie fremd an.[/quote']

 

Lieber Spinner,

hier ein Textauszug aus der Leseprobe eines Krimis (Dan Winslow "Tage der Toten"), Präsens plus personaler Erzähler:

 

Sie hält ihr totes Baby in den Armen.

Aus der Position der Leichen schließt Art Keller, dass die Mutter ihr Kind schützen wollte. Es muss ein Instink gewesen, denkt Keller, sie muss gewusst haben, dass sie die Kugeln einer Kalaschnikow nicht mit ihrem Körper aufhalten kann. Nicht aus dieser Entfernung. Trotzdem hat sie sich weggedreht, als sie erschossen wurde, und fiel auf ihren kleinen Sohn.

Hat sie wirklich geglaubt, ihr Kind retten zu können? Vielleicht wollte sie ihm den Blick ins Mündungsfeuer ersparen, denkt Keller. Vielleicht sollte ihre mütterliche Brust sein letzter Eindruck von der Welt bleiben. Geborgen in Liebe.

(...)

Hier ist der Link zur Leseprobe:

(Link ungültig)

 

Und hier einen Auszug aus einem meiner Lieblingsbücher, Präsens plus personaler Erzähler (mit auktioralen Tendenzen):

(...)Von den hundertzwanzig Menschen im Wagon ersticken während der zweistündigen Fahrt ungefähr dreißig. Weil sie ein elternloses Kind ist, gilt sie, wie auch einige Alte, die nicht mehr gehen können, und ein paar, die während der Fahrt den Verstand verloren haben, als Hindernis für den reibungslosen Ablauf und wird deshalb gleich nach der Ankunft beiseite getrieben, an einem Kleiderhaufen vorüber, der so hoch ist wie ein Berg, Nackliger, muss sie denken und erinnert sich an ihr eigenes Lächeln, dass sie damals gelächelt hat, als sie vom Gärtner den komischen Namen der Untiefe erfuhr. Zwei Minuten lang wölbt sich über ihr ein leicht bewölkter weißlicher Himmel, so wie am See immer kurz vor dem Regen, zwei Minuten lang atmet sie den Geruch nach Kiefern ein, den sie so gut kennt, nur die Kiefern selbst kann sie wegen des hohen Zauns nicht sehen. Ist sie tatsächlich nach Hause gekommen? Zwei Minuten lang spürt sie den Sand unter den Schuhen, auch ein paar kleine Feuersteine und Kiesel aus Quarz oder Granit, bevor sie die Schuhe für immer auszieht und sich auf das Brett stellt, um sich erschießen zu lassen.

 

Aus "Heimsuchung" von Jenny Erpenbeck.

 

Ich habe viele Bücher im Präsens gelesen, sowohl Icherzähler, als auch personale Erzähler, als auch die Du-Perspektive (z.B. auch Stewart O'Nan), oder die Wir-perspektive. Das funktioniert für mich alles genauso wie im Präteritum.

 

Liebe Grüße

Lisa

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Als ich das erste Mal davon las, dass ein Mischen von Gegenwart und Vergangenheit zur Spannungssteigerung verwendet werden darf, fiel bei mir erst der Groschen ::) Ich hatte nämlich einige Zeit zuvor ein Buch gelesen, in dem genau das getan wurde - und es hat mich völlig verwirrt. Beim ersten Wechsel dachte ich: Ha, erwischt, Tippfehler! Beim zweiten dachte ich: Hm, haben die das Buch vielleicht umgeschrieben und so viel übersehen? Erst als sich das System noch weiter durch den Text zog, kam ich dahinter, dass das wohl Absicht war.

Als Leser fand ich es störend. Unnötig verwirrend, weil ich ständig dachte, da wäre ein Fehler im Text.

 

Inzwischen, da ich den "Kniff" kenne, nehme ich das anders wahr, aber umsetzen würde ich persönlich es trotzdem nicht, da es Leser, die das vielleicht nicht als stilistisches Mittel kennen, aus dem Text reißen kann.

Eine Ausnahme sind vielleicht Szenen, die besonders herausstechen sollen. Traumszenen z.B., Visionen, etc. in denen man nach Möglichkeit durch die sprachliche Gestaltung auch die Anormalität darstellen will, als Hinweis: Hier ist etwas *anders*.

 

Zur Steigerung des Tempos ist es ein imA unnötig riskantes Mittel, das eigentlich nur dann funktioniert, wenn der Leser es nicht bewusst wahrnimmt. Nimmt er es wahr, reißt es ihn eher raus, weil er erstmal überlegen muss: War das jetzt Absicht oder ein Fehler? Nicht unbedingt das, was man erreichen will, wenn's schnell geht.

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Mein demnächst erscheinendes Kinderbuch "Eine Insel nur für Patti-Lee" ist im Präsens verfasst. Ich schreibe selten im Präsens, finde aber, dass es sich gerade für die Perspektive eines Kindes sehr gut eignet.

Hier der Anfang (für alle Neugierigen: Eine längere Leseprobe findet sich unter (Link ungültig)):

 

Auf dem Hochstand mitten im Kornblumenmeer sitzt Patti-Lee.

Der Hochstand ist eine Insel. Patti-Lee wackelt mit den Zehen – über den Wellen, die spritzen und schäumen und sich an den dürren Skelettbeinchen des Hochstands brechen. Die Luft riecht nach Dünger, Salz und Fisch. Patti-Lee atmet tief ein. Tief aus. Tief ein. Sie kneift die Augen zusammen und blinzelt, bis sie den großen, schwarzen Umriss am Horizont sieht.

Das Schiff heißt „Der Rächer“, und Yorick ist sein Kapitän.

http://www.barbaraschinko.eu

NEU: Das Lied des Leuchtturms, ISBN 978-3959591249

Ein Mantel so rot, ISBN 978-1542356527/ Schneeflockensommer, Tyrolia Verlag 2015

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Ich arbeite inzwischen sehr gern mit kurzen Präsens-Einschüben - und zwar immer dann, wenn eine Figur sich an irgendetwas Belastendes erinnert, quasi ein Flashback, der sie aus der normalen Gegenwart reißt. Durch das Präsens wird die Unmittelbarkeit deutlicher, der sich die Figur nicht entziehen kann.

 

Gruß, Melanie

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Hallo Thomas,

 

weshalb es mir bei Saramago besonders aufgefallen ist' date=' hat nicht mit dem Einsatz des Präsens zur Steigerung der Spannung zu tun, denn das Buch hat im Grunde keinen stark ausgeprägten Spannungsbogen, es ist sogar ein sehr leises, bedächtiges Büchlein. Aber gerade deshalb ist es mir auch aufgefallen - weil eben die Handlung den Schwenk zum Präsens auf den ersten Blick betrachtet gar nicht hergibt. Aber trotzdem hat es funktioniert.[/quote']

Spannende Teile zu betonen, ist sicher nur eine Möglichkeit, bei der das Präsens (verdammt, jetzt muss ich mich richtig zusammennehmen) wirken kann.

 

Vermutlich die häufigste Form (jedenfalls bei den Texten, die ich kenne), aber garantiert nicht die Einzige.

 

Übrigens merke ich auch, dass ich Präsens und Ich-Perspektive automatisch verbinde. Aber Lisa, du hast recht, auch das ist nicht zwingend.

 

Und welcher Schreibratgeber das mit dem Du-darfst-nicht-Präsens Schreiben behauptet, das interessiert mich jetzt doch.

 

Hans Peter

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Das ist eine Möglichkeit, das Präsenz einzusetzen:

 

PräsenS ;-)

Wieso? Das Präsens ist doch ein Mittel die Präsenz zu erhöhen

<duckundweg>

 

Und du hast Schreibratgeber in deiner Signatur stehen ;-) ;-) ;-) ;-) ;-)

<duckundweg>

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