Zum Inhalt springen
KarinG

DER TURM - Uwe Tellkamp, Roman, Suhrkamp-Verlag

Empfohlene Beiträge

Uff, geschafft! Neunhundertdreiundsiebzig Seiten-Stufen bin ich langsam auf diesen viel diskutierten TURM hinaufgestiegen, habe öfter verschnaufen, immer wieder einige Stufen zurückgehen müssen, um die unendlich vielen, oft ausnehmend detailreichen Bilder zu verdauen, die sich auf jeder Stufe boten. Einblicke in ein versunkenes Land wurden versprochen: die DDR. Doch ich entdeckte vorzugsweise Dresden in der düsteren Endphase dieses Staates – mit den Trümmern der Frauenkirche, maroden Straßen, vom Zahn der Zeit stark angenagten Villen am Elbhang, aber auch mit der wiedererstandene Semperoper.

Und immer wieder Szenen aus dem grauen, schwierigen Dasein der Bürger dieser Stadt, die wie die meisten Einwohner der DDR einen missglückten Sozialismus-Versuch mit massiver Bespitzelung selbst im privatesten Bereich, mit Mangelwirtschaft, dem Fehlen persönlicher Freiheit usw. erleiden mussten: Schlangen vor Läden, Jagd nach banalen Alltagsdingen, nach Informationen, ausländischen oder „nicht erwünschten“ Büchern, nach Schallplatten ... Schikanen und ausufernde Bürokratie der Staatsmacht. Eher unterschwelliger Widerwille gegen das System, der allmählich zum Widerstand wurde.

 

Vielen Menschen verschiedener Generationen, meist Intellektuellen Dresdens – Ärzten, Schriftstellern, Wissenschaftlern, Künstlern -, kaum dem Proletariat dieses „Arbeiter- und Bauernstaates“, bin ich unterwegs begegnet, oft nur sehr flüchtig. Auch jene, die ich immer wieder traf, sind mir eher fremd geblieben, voller Rätsel, trotz oft ausufernder Beschreibung ihres Alltags, ihrer Ausflüge in die Welt der Philosophie, Kunst, Literatur. Gern hätte ich mehr erfahren von ihnen, so vom Naturwissenschaftler/Lektor Meno, seiner Schwester Anne, von beider Jugend in der Sowjetunion. Nur Annes Sohn Christian, der sich zu hartem, entwürdigendem Militärdienst verpflichten musste, um irgendwann mal Medizin studieren zu dürfen, ist mir ein wenig vertrauter geworden ...

 

Uff, das war also die DDR, stöhnt eine Freundin, die den Aufstieg gleichfalls geschafft hat. Dir sind die vielen Stufen wahrscheinlich leichter gefallen, du wirst vieles wiedererkannt und besser verstanden haben als ich – schließlich hast du mal dort gelebt, sagt sie.

Nur in den Anfangsjahren, wehre ich ab. Und ich habe durchaus auch hellere Bilder in Erinnerung. Doch schon damals wurden hehre Ideale der Menschheit in der Theorie hoch gehalten, in der Praxis jedoch ständig ausgehebelt und wir jungen Leute fragten uns, wieso selbst gestandene Antifaschisten zu diktatorischen Bürokraten werden konnten.

 

Die Freundin seufzt, sie sei froh, diesen mühsamen Aufstieg endlich hinter sich zu haben. Er habe sich durchaus gelohnt, Erinnerungen an die Nachkriegszeit seien aufgetaucht und sie wisse jetzt viel mehr über die DDR, doch manches sei ihr auch unverständlich geblieben. Es habe einfach zu viele Stufen gegeben, zu viele, oft zu komplizierte Bilder für ein einziges Roman-Bauwerk, fährt sie fort und berichtet von Anderen, die bereits nach einem Drittel der Strecke aufgegeben hätten.

 

Ich muss ihr Recht geben und nehme mir vor, den schwierigen und faszinierenden Aufstieg irgendwann noch einmal zu wagen, mir Zeit zu lassen für die in überaus reichen Wortfarben gemalten Erinnerungsbilder und Gedanken des TURM-Erbauers Uwe Tellkamp.

 

Von der Spitze des Turms schauen wir hinunter auf das versunkene Land und fragen uns, wie es seinen Bewohnern zwanzig Jahre nach Ende des „real existierenden Sozialismus“ wohl ergehen mag, angekommen in der Welt von Neoliberalismus und  „Raubtierkapitalismus“. Sie dürfen endlich rund um den Globus reisen, haben Meinungs- und Redefreiheit. Dresdens Frauenkirche ist neu erstanden, die Zentren der ehemaligen DDR-Städte leuchten in farbenfroher, oft nahezu kulissenhafter Pracht. Doch in zu vielen Randbezirken, Plattenbausiedlungen und Dörfern dominieren noch immer die Farbe Grau und eine andere Art von Hoffnungslosigkeit: Langjährige, früher nicht gekannte Arbeitslosigkeit dämpft das Selbstwertgefühl und die Lebensfreude zu vieler Menschen gewaltig.

 

KarinG

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Hallo liebe Karin,

 

schön, dass sich hier jemand an dieses üppige, vielstimmige Werk heran gewagt hat!

Danke für Deine Leseeindrücke!

Ich werde den Turm trotz Höhenangst auch noch besteigen.

 

Herzlichst

jueb

"Dem von zwei Künstlern geschaffenen Werk wohnt ein Prinzip der Täuschung und Simulation inne."  

AT "Aus Liebe Stahl. Eine Künstlerehe."

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

(Hans-Juergen)

Hallo Karin,

 

vielen Dank für deine ausführlichen Eindrücke, die mir wirklich gut gefallen haben. Du hast meine bisher vorhandene Skepsis gegen das Buch bestätigt. Das liegt aber nicht an dir, sondern an der ewig gleichlautenden Auseinandersetzung mit der DDR. Ich finde es schade, dass nach all den Jahren die DDR nur auf Stasi, grauen Alltag, Verfolgung und Mangel reduziert wird. Wenn man heute die Leute so hört, dann gab es in der DDR zu 95 % Widerstandskämpfer. Da fragt sich nur, warum der Staat dann immerhin noch bis 1989 durchgehalten hat.

 

Vielleicht zur Erklärung: Ich habe die DDR bis zum Ende miterlebt und bin 1991 wegen Arbeitslosigkeit in den Westen gegangen. Ich jammere nicht dem verflossenen Staat hinterher, denn ich zähle mich eindeutig zu den Gewinnern der Wiedervereinigung. Aber ebenso wie früher die Chefideologen nur schwarz-weiß sehen konnten, sieht heute die Welt mit Scheuklappen auf die Vergangenheit. Und das finde ich furchtbar.

 

Hans-Jürgen

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Hallo Karin, wie ist die Luft da oben?

Ich verschnaufe auf 2/3 der Turmbesteigung. In meinem Alter ;D schafft man so üppige Kost nur noch in Happen. ;) Im Moment liegt der Roman auf meinem Lesetürmchen neben dem Bett erst wieder an 3. Stelle von oben.

 

Ich lese das Buch mit Interesse, es öffnet mir immer wieder die Augen für Bemerkungen gleichaltriger Freunde und Bekannte, die es in der ehemaligen DDR bis zum Schluss ausgehalten haben. Das Buch ufert für meine Begriffe jedoch immer wieder zu sehr aus. Allein die philosophischen Ausflüge hätten ein eigenes Werk verdient. Folgenden Kritikpunkt muss ich bestätigen: Tellmann schreibt aus der Sicht Intellektueller und über ihr Leben, ihre Schwierigkeiten, die übrigen Bevölkerungsschichten werden nur angedeutet. Nun gut, dieses Thema mögen andere bearbeiten, aber bei fast 1000 Seiten hätte ich mir für diese große wichtige Gruppe Menschen ein paar Seiten mehr gewünscht. So wirkt es ein wenig ignorant.

 

... die in überaus reichen Wortfarben gemalten Erinnerungsbilder und Gedanken des TURM-Erbauers Uwe Tellkamp.

Die haben mich von Anfang an das Buch hinein gezogen.

 

Danke für deine Zusammenfassung.

 

LG Gertraude

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

@ Hans-Juergen

Ja, auch ich ärgere mich über oft zu düstere Schilderungen des Lebens in der DDR. Viele meiner Freunde dort (auch Intellektuelle  ;) ) haben es durchaus verstanden, ihrem Dasein bunte, heitere Seiten abzugewinnen.  

 

@ Gertraude

Bist du inzwischen auf der Turmspitze angekommen? Ich fand die Luft dort oben erfrischend nach dem zeitweise mühsamen Aufstieg.

Inzwischen habe ich mich davon erholt, merke aber, dass ich öfter an die Turmbesteigung denke – sie wirkt im Gegensatz zu manch leichter verdaulicher Lektüre auf mich ziemlich „nachhaltig“. Ich gebe dir Recht - mit der Fülle des Materials hätte Tellkamp einen ganzen „Gebäudekomplex“ errichten können. Und hätte er seinen Turmbewohnern mehr Leben eingehaucht, wäre auch der Spannungsbogen nicht immer wieder so verblasst.

 

DER TURM wird gelegentlich mit BUDDENBROOKS verglichen – das kann ich kaum nachvollziehen. Im Alter von 13 Jahren erhielt ich (in der DDR) Thomas Manns Roman als Prämie in der Schule (erst Jahre später gehörte er zum Unterrichtsstoff)  – und habe ihn sofort „verschlungen“. Den TURM hätte ich in so jungen Jahren wohl nicht bewältigt.

 

Und doch haben beide Bücher etwas gemeinsam: Das Wiederlesen lohnt sich!

 

LG Karin

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Hallo Karin,

nein, ich bin immer noch nicht oben. :(

Ich war sechs Wochen in Australien, wegen der Höchstgepäckgrenze konnte ich den "Schinken" nicht einpacken. Jetzt bin ich seit drei Wochen wieder hier, habe unser Tagebuch überarbeitet, die Fotomenge halbiert, den Rest bearbeitet, die Schweigeminute, den Kaiser von China und einen Krimi (muss zwischendurch sein!) gelesen. Aber Tellkamp liegt jetzt wieder oben auf dem Stapel neben dem Bett. :D

 

Und hätte er seinen Turmbewohnern mehr Leben eingehaucht, wäre auch der Spannungsbogen nicht immer wieder so verblasst.

 

Ja, das ist ein echter Mangel. Teilweise mag es auch daran liegen, wann er die Schnitte gesetzt hat.

 

DER TURM wird gelegentlich mit BUDDENBROOKS verglichen – das kann ich kaum nachvollziehen. Im Alter von 13 Jahren erhielt ich (in der DDR) Thomas Manns Roman als Prämie in der Schule (erst Jahre später gehörte er zum Unterrichtsstoff) – und habe ihn sofort „verschlungen“. Den TURM hätte ich in so jungen Jahren wohl nicht bewältigt.

 

Ich war im selben Alter, als ich die Buddenbrooks in einem Anfall von Lesesucht mehr oder weniger am Stück gelesen habe. Wie habe ich mit Toni gelitten! Der Grünlich hat mich schier zum Kotzen gebracht! (Entschuldigung) Das Schicksal der Turmbewohner geht mir längst nicht so nahe, aber das hängt vermutlich auch mit meinem abgeklärten Alter zusammen. ;D

Der Vergleich hinkt, da gebe ich dir Recht, und ja, auch ich hätte den Turm mit 13 Jahren sehr bald aus der Hand gelegt. Ich wäre gar nicht reif dafür gewesen, so lesenswert er ist.

Ich habe Deutschlands Osten und meine Bekannten dort erst nach der Wende kennen gelernt. Vieles bestätigen sie, aber sie hatten sich notgedrungen eingerichtet und ihr Leben bis zur Wende nicht in Depressivität verbracht. Sie gehören zu jenen, die geblieben und glücklich darüber sind, wie positiv sich ihr Leben verändert hat.

 

Wenn ich oben bin, werde ich verschnaufen und dann Vollzug melden.

 

LG Gertraude

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Da das Thema Schullektüre hier kurz angeklungen ist:

 

In meiner Abiturjahrgangsstufe wurde dieses Jahr Tellkamps Romanausschnitt "Der Schlaf in den Uhren" behandelt, unter dem Aspekt der Literaturkritik.

Ich war so fasziniert von seinem Stil, seiner Art und Persönlichkeit, dass ich "Der Turm", als es denn dann veröffentlicht wurde, sofort verschlungen habe.

 

Tellkamp wird also sogar an Schulen gelesen - zum Leid der meisten Schüler.

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Geschafft! Endlich! :s17

Toller Blick von hier oben, ich genieße eine grandiose Sicht auf die Verhältnisse damals. ("hüstel")

Im Moment fühle ich mich ein wenig ausgelaugt, die letzten Seiten über die letzten Atemzüge der DDR fand ich äußerst anstrengend, ich musste mich mehrmals setzen, die eine oder andere Passage zweimal lesen.

Die Struktur am Schluss des Romans, das Aufeinanderprallen verschiedener Erzählstränge, sollte wohl das Gefühl der Menschen wiedergeben, die den plötzlichen Umbrüchen ausgesetzt waren.

Tellkamp hat das gekonnt in Szene gesetzt, man wird beim Lesen in einen Strudel gezogen, aber wie in seinem gesamten Werk wäre auch hier weniger mehr gewesen. Es würde sich lohnen, das Buch noch einmal zu lesen, da ich mit Sicherheit nicht alles aufgenommen habe, was wichtig war. Schon seine vielen kreativen sprachlichen Einfälle würden eine Wiederholung lohnen. Aber ganz ehrlich:

Noch einmal tue ich mir die 973 Stufen - äh Seiten - nicht an.

 

Gertraude

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Glückwunsch, Gertraude! Ich hebe mir den (vielleicht nur teilweisen) Wiederaufstieg für spätere Zeiten auf, noch muss ich die vielen Eindrücke verdauen. Zunächst reihe ich sie ein in meine Sammlung von selbst erlebten und von Freunden erzählten sehr unterschiedlichen DDR- und Wende- Geschichten. Ja, die Ereignisse von 1989 haben viele Menschen in einen wahren Strudel der Gefühle gerissen und zahlreiche Lebensläufe dramatisch beeinflusst.

 

Ich Ossi-Wessi werde meinen Freudenrausch bei der Nachricht "Die Mauer ist offen" nie vergessen! Ich bin gerade zurück von einem Besuch meiner Heimatstadt Weimar - die Stadt ist so attraktiv wie noch nie und das Leben der meisten Menschen, die ich dort noch kenne, hat sich seit der Wende zum Glück positiv verändert.

 

Karin

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Bitte melde Dich an, um einen Kommentar abzugeben

Du kannst nach der Anmeldung einen Kommentar hinterlassen



Jetzt anmelden


×
×
  • Neu erstellen...