Inge Geschrieben 15. März 2008 Teilen Geschrieben 15. März 2008 Dreisprung bei der Figurenentwicklung Seit einigen Wochen arbeite ich an der Figurenentwicklung meines dritten Romans. Da ich eine Krimiserie schreibe, muss ich die Figuren des Ermittlers und seiner Kollegen nicht neu erfinden, allerdings weiter entwickeln. Aber weiteres Personal wird gebraucht. Insbesondere ein in seiner Motivation, seinem Handeln und Denken glaubhafter Täter. Das mache ich nicht zum ersten Mal und stoße bei dieser Figur (wie auch bei anderen) immer wieder auf die gleichen Probleme, die ich nun für mich benannt und einsortiert habe. Du gleichst dem Geist, den du begreifst ... Eigentlich ist das wie früher in der Schule. Ich kann Stoff lernen, notfalls auswendig runterbeten, um eine zufrieden stellende Note zu erhalten. Um aber ein „sehr gut“ zu erhalten muss ich den Stoff nicht nur verstanden haben und in der Lage sein ihn mit eigenen Worten wiederzugeben, sondern muss auch eigenständige Fragestellungen und Versuche von Antworten daraus ableiten können. Im übertragenen Sinn bedeutet das für das Schreiben, dass ich nur Figuren erschaffen kann, die meine eigenen Fähigkeiten nicht übersteigen. Einen Physiker wird es als tragende Rolle in meinen Romanen daher nie geben. Ich könnte zwar in seinem Fachgebiet recherchieren, mit Experten sprechen, mich beraten lassen. Aber solange ich es nicht wirklich verstehe, wird es mir nicht gelingen, die Vision, die ich von der Figur habe, glaubhaft Gestalt annehmen zu lassen. Sie würde nie in der Lage sein interessante Dialoge zu führen und originelle Gedanken zu entwickeln. Mein Personal kann daher nur dem Geist gleichen, den ich begreifen kann. Soweit zur intellektuellen Ebene. ... nur ein Dunkelsein in mir. Warum greift der Leser zum Buch? Er will unterhalten werden, will mit den Figuren mitleiden, mitfiebern, um sie bangen, sie abgrundtief hassen oder lieben, sie verabscheuungswürdig finden oder zum Niederknien. Natürlich müssen es nicht immer die überbordenden Emotionen sein; die leisen Töne tun es auch. Eine still Trauernde, die aus der sie umgebenden Düsternis in ein Frühlingserwachen tritt, findet ebenso ihre Leser wie ein Actionheld der die Welt rettet. Nur eines darf nicht geschehen: Emotionale Leere. Wie aber findet man als Autor Zugang zu all diesen Emotionen? Unter Umständen gar nicht und dann sollte man von der Entwicklung der Figur absehen. Oder um es mit den wunderbaren Worten Konstantin Weckers zu sagen: Denn was ich von dir weiß, ist niemals mehr, als ich von meinem Wesen will und kenne, und alles, was ich an dir ungefähr oder gar falsch und unbewiesen nenne, ist nur ein Dunkelsein in mir. Wenn ich dieses Dunkelsein nicht ausleuchten kann, muss ich auf die emotionale Facette einer Figur verzichten, notfalls auf die ganze Figur. Bring sie auf die Bühne! Soweit die Theorie. Wenn ich glaube, mir sei die intellektuelle und emotionale Ausstattung einer Figur gelungen, stelle ich sie auf die Probenbühne, schreibe also eine Szene aus ihrer Perspektive. In der Regel war ich noch nie in den Situationen, in die ich meine Figuren werfe. Zunächst muss ich mir also über die Gefühlslage klar werden, in der meine Figur steckt, dann in mir eine Situation suchen, in der ich so oder so ähnlich empfunden habe und dann wie ein Schauspieler in meine Figur schlüpfen und aus der Figur heraus mit dieser implantierten Emotion arbeiten. Da geschieht oft Erstaunliches, wenn man sich darauf einlässt. Wenn auch die Generalprobe gelungen ist, dann habe ich die Gewissheit, mit dieser Figur arbeiten zu können. Ich bin gespannt, ob mein neuer Bösewicht und seine Gegenspielerin die an diesem Wochenende stattfindende Probe bestehen werden. LG Inge Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
(Saskia) Geschrieben 15. März 2008 Teilen Geschrieben 15. März 2008 Liebe Inge, das hast du sehr anschaulich beschrieben und sehr nachvollziehbar. Ich bin im Moment auch ziemlich mit Personenentwicklung beschäftigt, da helfen mir deine Gedankengänge schon ein Stückchen weiter. (vor allem zu verstehen, warum manches einfach um die Burg nicht funktioniert!) Ich wünsche dir ein erfolgreiches Aufeinanderprallen! Saskia Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
(JuttaW) Geschrieben 15. März 2008 Teilen Geschrieben 15. März 2008 Das mit der Probenbühne gefällt mir. Ähnlich mache ich das auch. Mit jedem meiner Charaktere. Ich schreibe eine kleine Szene in der Ich-Perspektive, beobachte meinen Charakter dabei, wie er redet, wie er sich bewegt, was er tut und vor allem - was er denkt!! Es ist manchmal gar nicht so einfach, in die Haut des Antagonisten zu schlüpfen, die Welt durch seine Augen zu betrachten. Aber erst, wenn ich auch seine Gedanken richtig mitdenken und -fühlen kann, bin ich "in ihm drin", kann ich ihn auch von außen packen und agieren lassen. Schreiben ist ein bisschen so, wie Theater spielen. Und der Autor ist der Schauspieler, der abwechselnd in jede Rolle schlüpft. Und in einem guten Theaterstück muss auch die kleinste Rolle überzeugend gespielt werden, muss sich der Schauspieler auch in die kleinste Rolle hineinversetzen können, dann stimmt das Zusammenspiel. Ob ich nur die Rollen spielen kann, deren Geist ich vollkommen verstehe, das weiß ich nicht. Ist es nicht die Kunst des Schauspielers/Autors, eben auch in die Figuren zu schlüpfen, die nicht unbedingt dem eigenen Wissen und Denken entsprechen. Auch ich bin z.B. absolut kein Mathematiker/Physiker, aber müsste ich ihn auf der Bühne als Schauspieler nicht dennoch erarbeiten können? Und hat man diesen Anspruch nicht auch an einen Autor? Fragende Grüße Jutta Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
Andrea S. Geschrieben 15. März 2008 Teilen Geschrieben 15. März 2008 Ist es nicht die Kunst des Schauspielers/Autors' date=' eben auch in die Figuren zu schlüpfen, die nicht unbedingt dem eigenen Wissen und Denken entsprechen. Auch ich bin z.B. absolut kein Mathematiker/Physiker, aber müsste ich ihn auf der Bühne als Schauspieler nicht dennoch erarbeiten können? Und hat man diesen Anspruch nicht auch an einen Autor?[/quote'] Genau das unterscheidet einen Sachbuchautor von einem Romanautor - dass er es kann. Wozu sonst braucht man Phantasie, Empathie und Vorstellungsvermögen, mithilfe deren man aus einer Faktenlage (Figurenentwicklung/Rollenvorgabe) einen lebendigen Charakter entstehen lassen kann. Den Zugang zu den Personen und ihrer Tiefe findet man nicht verstandesgemäß, sondern intuitiv. Man muss sich da schon ein bisschen auf sein Unbewusstes verlassen, seine Träume und Spinnereien. Dabei kann die Figur dann auch über einen selbst hinaus wachsen, böser, besser, kleiner oder größer werden als man selbst. Geht man dieses Wagnis nicht ein, bleiben die Protagonisten holzgeschnitzte Konstrukte. Gruß Anna Neu: Das Gold der Raben. Bald: Doppelband Die Spionin im Kurbad und Pantoufle Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
Inge Geschrieben 15. März 2008 Autor Teilen Geschrieben 15. März 2008 Hallo Saskia, schön, dass dir mein Dreisprung ein wenig helfen konnte. Hallo Jutta, das „In-die-Haut-des-Antagonisten-schlüpfen“ empfinde ich immer als schwierig. Irgendwie muss man sich da seinen eigenen dunklen Anteilen stellen. Der Autor ist aber nicht nur Schauspieler sondern Schreibender und Spielender in Personalunion und dazu noch der Regisseur. Als Schauspieler kann ich ausloten wie die Figur empfindet, wie der Dialog auf die Bühne zu bringen ist. Aber der muss vom Autor erst einmal geschrieben werden! Und damit bin ich wieder beim Geist, den man begreift. Nicht jede Figur erfordert diese umfassende intellektuelle Verinnerlichung, das hängt von der Handlung ab. Habe ich beispielsweise einen Quantenphysiker als Helden - wobei bei meinem geringen Verständnis für Physik schon ein Physiklehrer reichen würde, um mich zur Verzweiflung zu bringen – und spielen dessen Wissen und Fähigkeiten eine entscheidende Rolle für die Handlung, dann muss ich die Materie meiner Figur beherrschen. Schicke ich den Physiker hingegen in eine Situation, in der sein Fachwissen nicht gebraucht wird, dann ist es nebensächlich, dann genügt das oberflächliche Wissen. Hallo Anna, genau! Dieses sich Einlassen auf das Unterbewusste, auf die verborgenen Schätze, wahlweise schwarzen Löcher in uns selbst, das ist spannend und faszinierend und, wenn man es schafft, sehr befriedigend. Dann kann es auch passieren, dass die Figuren versuchen, die Macht über ihren Plot an sich zu reißen. LG Inge Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
Ulf Schiewe Geschrieben 17. März 2008 Teilen Geschrieben 17. März 2008 Hallo Inge, das ist schon sehr interessant, wie du das angehst. Natürlich gibt es viele Wege nach Rom, denn ich habe instinktiv eine sehr andere Methode gefunden. Für mich ist eine Person das Produkt seines Umfelds und seiner Vita, gepaart mit ganz eigenen Charaktereigenschaften. Ich versuche für eine wichtige Figur seinen Background zu erforschen. Ich stelle mir vor, aus welchem Milieu er kommt, Eltern, Großeltern, Jugenderfahrungen, Schlüsselerlebnisse, Erfolge und Misserfolge im Leben. Das schreibe ich auf (vielleicht 1-2 Seiten) bis ich damit zufrieden bin. Auch wenn diese Dinge im Roman nicht erwähnt werden. Dann überlege ich mir, was hat der für Ziele, wo will der hin, was sind seine Werte, seine Glaubensätze. Daraus ergibt sich die Psyche der Person, sein Antrieb und Motivation. Auch Leute, die etwas Verrücktes tun, haben ihre innere Logik. Natürlich hat die Figur eine Rolle in der Story. Antagonist, Berater, Partner, etc. Das definiert die Zielrichtung der Figur und dann beginne ich die Figuren/Rollen zu verknüpfen, in Interaktion zu bringen, die Ziele einzelner Figuren geraten in Konflikt miteinander oder verstärken sich in ihrem Bestreben. Jede Figur in der Story muss ihren Auftrag erfüllen, meinen Auftrag. Das muss man natürlich im Konzeptstadium tun, damit es beim Schreiben logisch und konsistent bleibt. Ich habe bemerkt, wenn man die Figur so mit allem Hintergrund aufbaut, wird es leicht, sich in die Person hineinzuversetzen und auch die Psyche zu emulieren. Aber andere Methoden sind auch interessant und ivh probier's mal anders. Gruß Ulf Die Montalban-Reihe, Die Normannen-Saga, Die Wikinger-Trilogie, Bucht der Schmuggler, Land im Sturm, Der Attentäter, Die Kinder von Nebra, Die Mission des Kreuzritters, Der Eiserne Herzog, www.ulfschiewe.de Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
Inge Geschrieben 17. März 2008 Autor Teilen Geschrieben 17. März 2008 Hallo Ulf, deine Methode ist sehr professionell. Dass du dir das intuitiv erarbeitet hast; Hut ab! Ich musste, um soweit zu kommen, erst einmal in eine Sackgasse geraten, dann ein Fachbuch lesen und einen Workshop besuchen. Der von mir beschrieben Dreisprung ist meine letzte Disziplin in der Figurenentwicklung. Natürlich mache ich es bis dahin sehr ähnlich wie du. Zuerst wird die Rolle festgelegt, beispielsweise „Der Bösewicht“. Im aktuellen Fall hatte ich zuerst die Leiche (die sprang mich förmlich an ), ich musste mir also überlegen, wer der Kerl ist, der so mordet und bin darüber auf seinen Beruf gekommen und über den auf sein soziales Umfeld. Ich erforsche seinen Lebenslauf, seine Familie, seine Freunde, seine Arbeit (da lese ich gerade ein fünf Kilo schweres Buch), seine Freizeit, seine psychischen Befindlichkeiten, sein Aussehen; erkunde, was er gerne isst und trinkt, welches Auto er fährt, wie er spricht, was er liest, etc. etc. Wenn ich all das über ihn weiß, dann muss ich den Kerl aber in mir finden – intellektuell wie emotional, das ist dann der Dreisprung. LG Inge Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
Ulf Schiewe Geschrieben 17. März 2008 Teilen Geschrieben 17. März 2008 Hallo Inge, dann liegen wir also doch auf derselben Schiene. Dass mit den Emotionen ... ich versuche mich in die Figur hineinzufühlen. Und dann überlege ich mir, diese Person muss irgendwie Profil haben, vielleicht auch einen Tick, einen Fehler, eine Besonderheit, damit sie nicht so flach wirkt. Vielleicht eine Ungerechtigkeit, die ihr widerfahren ist, oder etwas im Charakter, dass anziehend wirkt. Ich versuche dann auch, jede Figur anders zu gestalten, damit jede unverkennbar wird. Wenn du das Emotionen nennst, dann bin ich bin dir. Das mit der Probebühne. An so etwas habe ich noch gar nicht gedacht. Gute Idee. Gruß Ulf Die Montalban-Reihe, Die Normannen-Saga, Die Wikinger-Trilogie, Bucht der Schmuggler, Land im Sturm, Der Attentäter, Die Kinder von Nebra, Die Mission des Kreuzritters, Der Eiserne Herzog, www.ulfschiewe.de Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...