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Angelika Jo

Victorija Tokarjewa

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Ich möchte gerne Victorija Tokarjewa vorstellen, mittlerweile 70 Jahre alte grande dame der russischen Erzählliteratur, in ihrer Heimat außerordentlich populäre Literatin, auch von der hiesigen Kritik hoch gelobt und für mich bei weitem das Beste seit den Klassikern des vorletzten Jahrhunderts.

 

Frau Tokarjewa schreibt Erzählungen, Liebesgeschichten, einige nur 20 Seiten lang, andere (Mara, Happy End, Glücksvogel, Eine Liebe fürs ganze Leben) vom Ausmaß eines schlanken Romans. Vom Gesamtwerk betrachtet (auch wenn einem nur die deutschen Übersetzungen zugänglich sind), hat sie darin einen Kosmos an Figuren in Balzacscher Größenordnung geschaffen: Da gibt es die Angehörigen der russischen Intelligentsija – Professoren, Lehrer, Wissenschaftler, und Ärzte, Künstler, aber auch den Kioskbesitzer, Automechaniker, Militärangehörigen, Bauern, Kinder, Großmütter. Nicht zu vergessen die Figur der hoffnungsvollen jungen Russin, die ihr Glück im Westen sucht und sich dort in der Rolle der selbstbewussten Semi-Prostituierten wieder findet.

 

So vielfältig wie die Figuren sind ihre Geschichten: Die der Geliebten, die der beste Freund dem Helden ausspannt, des Liebhabers, der heimlich eine andere heiratet, der Mutter, die ihren Sohn an die unmögliche Schwiegermutter abtreten muss, die unerwiderte, hoffnungslose und doch lebenslange Liebe: „Einatmen – Kirejew! Ausatmen – Kirejew!“ – so das tägliche Taktmaß der unglücklich in ihren Kollegen verliebten Pianistin.

 

Das alles spielt sich ab im Russland der jüngeren Vergangenheit: Von der Breschnew-Ära über die Perestrojka bis zur Gegenwart hat die Tokarjewa mit ihren unsentimentalen Liebesgeschichten gleichzeitig auch ein Sittengemälde der modernen russischen Gesellschaft geschaffen. Über das eigentümliche Selbstbild des russischen Mannes etwa, der sich selbst als Kostbarkeit betrachtet und gar nicht verstehen kann, wieso er sich mit einer Frau zufrieden geben soll, wo es doch „wie auf der Speisekarte eines chinesischen Restaurants so viel Auswahl gibt, dass es lächerlich wäre, würde er nur eine Speise wählen“. Über die Zustände in einem russischen Krankenhaus. Über das friedliche und doch säuberlich separierte Nebeneinander der Kulturen in Baku zu Sowjetzeiten.

 

Man merkt der Autorin an, dass sie zu Beginn ihrer Karriere als Schriftstellerin Drehbücher geschrieben hat. Die Geschichten haben ein unglaubliches Tempo und sind herrlich visuell. Der blonde Eiskunstläufer, wie er über das Eis schwebt, „sich wie eine Wasserlilie im See wiegend“ und seine unglückliche Partnerin, die „eher wie eine gut zusammengenagelte Holzkiste“ aussieht, die „Keramikaugen“ einer jungen Kirgisin, wie ein verärgerter Mann mit misstrauischen Blicken durch die Wohnung stampft - „ein Bison im Dschungel“ oder der Gymnasiast, der etwas zu viel Wodka abbekommen hat  und "im Spiegel sein Gesicht erblickt: grün wie ein junges Salatblatt."

 

Gibt es eine Moral? Aber ja. Immer wieder stehen die Figuren vor der Frage, wie sie sich ihr Schicksal zusammenreimen sollen: „Das Leben ist grobschlächtig. Aus einem kleinen, engelsgleichen Kind macht es einen Greis und dann einen Toten.“ Und wenn Pascha nichts hat und Pawluscha alles? Wie soll man sich das erklären? Bei Vivtorija Tokarjewa nicht mit der (sonst weit verbreiteten und eher widerlichen) Häme, wonach der Bösewicht am Ende unter dem Gelächter der Guten die Rechnung zu bezahlen hat. Und auch nicht mit dem ebenso unerträglichen Kitsch der gewöhnlichen Happy Ends. Bei Tokarjewa gilt das „Gesetz der Kompensation“: „Das Prinzip ‚Wie du mir, so ich dir’ funktioniert also nicht, denn das Gute ist uneigennützig. Wie du mir, so ich einem anderen und der einem dritten – und so weiter durch Zeit und Raum. Wenn nur die Kette nicht abreißt.“

 

Ich finde, Victorija Tokarjewa schreibt weise, intelligent, beobachtend und voll sinnlichem Zauber. Na ja, einfach schön, würde ich sagen.

 

Bei diogenes kann man alles von ihr kaufen.

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

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Hallo Angelika,

 

habe heute Morgen etwas über poetische Sprache gelesen. Die Beispiele, mit denen du die Tokarjewa anpreist, machen mich deshalb neugierig auf ihre Texte.

 

Habe gerade ein wenig bei Amazon gestöbert und mir den Glücksvogel in den Einkaufskorb gelegt. Dabei ist mir aufgefallen, dass die Übersetzerin deinen Vornamen trägt. ...?

 

Danke,

Editha

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Zu viel der Ehre, Editha!

 

Mein Russisch reicht gerade mal dazu, dass ich die in kyrillischen Lettern vorne angegebenen Originaltitel entziffern kann. Ich war tatsächlich fast gerührt, als ich feststellte, dass der im Deutschen mit "Happy End" betitelte Roman im Original - ich schreibe jetzt wieder um auf Lateinisch: "Cheppi End" heißt. Vielleicht sind die zwei Sprachen ja doch nicht so weit auseinander?  ;)

 

Schön, dass sich gleich eine hat mitreißen lassen. Eigentlich ist alles gut bei dieser Autorin, aber "Sag ichs oder sag ichs nicht" hat mich ganz besonders beeindruckt.

 

Übrigens habe ich heute festgestellt, dass die Autorin schon einmal hier - kurz, aber gleichfalls enthusiastisch - besprochen worden ist. Im Jahr 2005. Ich hätte vorher nachsehen sollen, schäm. Vielleicht kann uns Andreas zusammenbeamen?

 

Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

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Angelika war so freundlich, mich darauf hinzuweisen, dass Tokarjewa in diesem Thread bereits besprochen wurde. Also poste ich meine Gedanken einfach mal hier:

 

In einer relativ kurzen Zeit habe ich drei Bücher der russischen Schriftstellerin Viktorija Tokarjewa inhaliert (auf Deutsch, die Ausgaben des Diogenes-Verlags). Angefangen mit „Eine Liebe fürs ganze Leben“, über „Happy End“ bis hin zu „Mara“. Vom ersten Buch war ich absolut hingerissen. Tokarjewa schreibt auktorial in einem sehr nüchternen Stil, bei dem kein Wort zu viel ist. Dennoch habe ich gespannt die Geschehnisse zur Umbruchszeit Russlands verfolgt und war fasziniert von den Charakteren, die sehr subtil und dennoch nachhaltig dargestellt werden. Man lernt die Figuren im wahrsten Sinne des Wortes kennen – aus ihren Handlungen und nicht aus den Behauptungen der Autorin. Die Heldin Irina wird einige Male mit einem Bison verglichen, und diesen Eindruck gewinnt man auch allein durch die Art, wie Tokarjewa die Geschichte ihrer Figur niederschreibt: Zusammen mit der Protagonistin galoppiert der Leser durch ihr Leben und die 146 Seiten des Romans.

 

Tokarjewa schreibt nie kitschig, obwohl es um komplexe Gefühle ihrer Figuren geht. Ich glaube, sie hat mich auf den Gedanken gebracht, wodurch der Kitsch tatsächlich entsteht und wie man ihn beim Schreiben meiden kann. Er schleicht sich bei weitem nicht automatisch durch die großen Gefühle in den Text ein, sondern durch ihre Überstrapazierung und vor allem durch die abgenutzten Beschreibungen, die man in dieser Art schon hunderte Male in anderen Romanen gelesen hat. Tokarjewas Beschreibungen sind nie schablonenhaft oder beliebig, und das macht sie einzigartig, genauso wie die Gefühle, die diese Beschreibungen transportieren.

 

Bei „Happy End“ sank meine Begeisterung jedoch ein wenig. Denn der Bison-Stil zeichnete auch diesen Roman aus, obwohl die Figuren andere Anlagen hatten. Ist sie das, die befürchtete Beliebigkeit? Hat die Autorin sich die Gedanken gemacht, welcher Stil zu welchem Roman passt, so wie ich es gern lernen möchte, oder einfach auf ihre bewährte Erzählweise zurückgegriffen? Ich weiß es nicht.

 

Als ich „Mara“ aufgeschlagen habe, war ich wie elektrisiert: eine Ich-Perspektive! Also doch kein Einheitsbrei in der Umsetzung. Aber bereits nach fünf Seiten war ich ernüchtert. Wieder der Bison-Stil, wieder die auktoriale Sicht, durch welche die Ich-Einschübe durchschimmern. Ich muss zugeben, ich habe nicht ganz verstanden, warum die Autorin diese Konstruktion gewählt hat. Um dem Leser den Eindruck zu vermitteln: „Solche Menschen wie Mara kennst auch du?“ Diesen Eindruck hätte ich auch ohne die Ich-Erzählerin gehabt. Auch die Handlung war diesmal weniger tiefgehend und die Charaktere – bei weitem nicht so vielschichtig, wie in anderen beiden Romanen.

 

Vielleicht entsteht hier jetzt ein recht negativer Eindruck von Tokarjewa, das sollte aber nicht sein. Ich bin nach wie vor fasziniert von ihren Sätzen und glaube, dass ich noch vieles von ihr lernen kann. Wenn ich die drei Romane betrachte, dann habe ich den Eindruck, als würde ich in Wirklichkeit nur einen Roman lesen – über die Entwicklungen Russlands zur Zeiten des Umbruchs - mit eben verschiedenen Figuren: Irina, Mara, Elja. Denn ähnlich werden auch die (Neben-)Charaktere in den jeweiligen Romanen vorgestellt: Manchmal tauchen sie auf und verschwinden dann aus der Geschichte, die an ihnen vorbeifließt. Ob gerade das die Absicht der Autorin war? Einen Russland-Roman zu schreiben, der aus vielen eigenständigen Romanen besteht? Auch das weiß ich nicht.

 

Vielleicht liegt meine Ernüchterung einfach an der Menge, die ich so schnell verschlungen habe. Vielleicht kann man Tokarjewa nicht wie ein Bier runterkippen, sondern sie Zug um Zug, Buch um Buch wie guter Wein genießen. Ganz sicher werde ich auch zu anderen Romanen der Autorin greifen. Nur später. Irgendwann.

 

Liebe Grüße,

Olga

 

P.S. Den Text habe ich für meinen Blog (Link ungültig) (Link ungültig) geschrieben, und dort hat unsere Angelika schon ein paar sehr interessante Kommentare abgegeben.

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Danke, Angelika und Olga! Ich kenne Viktorija Tokarjewa noch nicht und eure Beschreibungen klingen, als könnte ich hier etwas finden, das ich suche...Kennt ihr Andreij Kurkov und seinen depressiven Pinguin? Wenn nicht, würde ich ihn euch empfehlen!

Liebe Grüße

Claudia

Baronsky&Brendler: Liebe würde helfen  Ein Staffelroman 
Februar 21, Kampa

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Ja, den kenn ich, Claudia. Der hat mir auch gut gefallen. Ist aber von der Schreibe her, soweit ich mich erinnere, schon sehr anders als Tokarjewa. Langsamer, innerlicher, etwas satirischer, würde ich sagen. Tokarjewa stürmt wirklich in einem Mordstempo dahin, wie Olga schreibt. Ein ganzes Leben wird gezeichnet - aber nicht episch breit, sondern in gerader Fahrt voran auf 120 Seiten.

Aus dem Klappentext von "Zickzack der Liebe":

 

"Victorija Tokarjewa schreibt wie die Transsibirische Eisenbahn auf Ecstasy - mit Volldampf in die herrliche Katastrophe." Doris Dörrie

 

Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

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Liebe Claudia,

 

Magst du zu Kurkov eine kleine Buchkritik schreiben? Ich bin immer auf der Suche nach einer guten Lektüre, und der Stil interessiert mich dabei ganz besonders.

(Im Moment lese ich "Fräulein Smillas Gespür für Schnee" und komme sehr schleppend voran. Die Geschichte und die Charaktere sind sehr interessant, aber zum Stil finde ich noch keinen Zugang)

 

Liebe Grüße,

Olga

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Ja, mach ich gerne, die Bücher sind nur nicht mehr besonders neu. Aber wenn sie noch niemand besprochen hat...Ich mag ihn sehr. Mehr folgt demnächst, wenn ich mehr Zeit habe. Mit Smilla ging es mir übrigens ähnlich.

Liebe Grüße

Claudia

Baronsky&Brendler: Liebe würde helfen  Ein Staffelroman 
Februar 21, Kampa

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