Inge Geschrieben 18. April 2007 Teilen Geschrieben 18. April 2007 Marina Lewycka : Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch Eine Buchbesprechung habe ich noch nie geschrieben, aber jetzt versuche ich es einfach aus dem Bauch raus. Oder gibt es dafür Regeln? Wenn ja, dann bitte verzeiht mir. „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ ist auf ähnliche Art grandios, wie Charles Lewinskys Buch „Melnitz“, das mein persönliches Buch des Jahres 2006 ist. In beiden Büchern werden Familiengeschichten vor tragischem politischem Hintergrund in Zeiten des Umbruchs behandelt. Schwer verdaulicher Stoff, möchte man denken, aber beiden Autoren gelingt das leichthändig und im Falle der ukrainischen Familie mit reichlich Humor und Selbstironie gewürzt. Gewissermaßen als Transportmittel für die eigentliche Geschichte oder die Geschichte hinter der Geschichte, benutzt Marina Lewycka die sich anbahnende (und dann später tatsächlich stattfindende) Ehe zwischen dem 84jährigen Vater der Ich-Erzählerin Nadeshda und der 36jährigen wasserstoffblonden vollbusigen Valentina, einer Ukrainerin mit festem Willen ins gelobte England zu emigrieren. Der alte Herr, ein seit Jahrzehnten in England lebender ukrainischer Ingenieur mit einem Faible für Traktoren und Titten, will sich von seinen beiden Töchtern natürlich nicht in sein spätes Glück hineinpfuschen lassen. Dass er dabei ausgenommen und benutzt wird, nimmt er in Kauf, verspricht doch Valentinas prächtiger Busen das Paradies noch auf Erden. Anfangs sieht der Bräutigam sein einziges Problem in der nicht so recht funktionierenden Hydraulik eines wichtigen Körperteils. Aber schnell entwickelt sich die Ehe zum Desaster, wird aus der holden Verlobten ein Miststück von Ehefrau und Nadeshda und ihre Schwester Vera müssten eigentlich ihren Dauerstreit beilegen und einschreiten. In diesen turbulenten Erzählstrang baut die Autorin in Rückblenden die Familiengeschichte von Nadeshdas Eltern ein; und die handelt von Kriegen, Flucht, Vertreibung, Willkür, Mord und Hunger, von der Ankunft in England und der Angst wieder vertrieben zu werden. Das ist harter Stoff, berührend erzählt. Eine weitere Erzählebene ist die „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“, ein Buch, das der Vater schreibt und in das die Autorin dem Leser Einblick gewährt. Das sind knappe, informative Abschnitte über die technische Entwicklung und die umwälzenden wirtschaftlichen und politischen Folgen, die mit der Erfindung des Traktors und der zunehmender Technisierung der Landwirtschaft einhergingen. Ein beeindruckendes und facettenreiches Buch, das sich leichthändig mit großen Themen beschäftigt, meint die Inge Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
eva v. Geschrieben 19. April 2007 Teilen Geschrieben 19. April 2007 Liebe Inge, danke für die Rezi! Das Buch liegt schon seit Monaten auf meinem SUB und wird jetzt dank deiner Beschreibung ein ganzes Stück weiter nach oben wandern! LG, eva v. Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
ChristineN Geschrieben 20. April 2007 Teilen Geschrieben 20. April 2007 Hallo Inge, ich habe das Buch gelesen und es ebenfalls genial gefunden - ein wahres Meisterwerk. Nicht nur die Charakterisierungen sind wunderbar dreidimensional gelungen, auch die Geschichte und die dazwischen beschriebenen Geschichten, eben die Liebe des alten Mannes zu der derben, einfach gestrickten, aber sehr erotischen Frau, die er gegenüber seiner gebildeteten, sehr emanzipierten Töchter zu verteidigen versucht, und die Geschichte über sein Buch über die Traktoren und die politischen Hintergründe. Leicht zu lesen, spannend, humorvoll und absolut informativ. mlG Christine Information zu Christine Neumeyer Mein Youtube Kanal Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
(Lionne) Geschrieben 23. Juni 2007 Teilen Geschrieben 23. Juni 2007 Hallo Inge Ich habe das Buch jetzt auch gelesen, dank Deines Hinweises und unterschreibe mal die bisher geäußerten Besprechungen kommentarlos. Es wurde schon alles gesagt Trotzdem poste ich hier, damit vielleicht noch ein paar Leute auf ein Buch aufmerksam werden, das sich sicher zu lesen lohnt. Lieber Gruß, Lionne Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
(SusanneG) Geschrieben 23. Juni 2007 Teilen Geschrieben 23. Juni 2007 Von mir auch eine dicke Empfehlung für dieses Buch - unterhaltsam, anrührend, witzig. Gruß, Susanne Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
(GerdR) Geschrieben 9. August 2007 Teilen Geschrieben 9. August 2007 Ich hasse es ja, den Bösewicht in dieser Runde zu spielen, aber ich habe mich bis zur Hälfte durchgekämpft und das Buch dann weg gelegt - ich konnte einfach nicht mehr. Es ist sicher eine nette Story, aber vielleicht eher für Leserinnen als für Leser... Ich fand es einfach nur langweilig..... Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
(ChristineB) Geschrieben 9. August 2007 Teilen Geschrieben 9. August 2007 Hallo Gerd, schön, dass ich nicht allein bin ! Ich fand die ersten zwanzig, dreißig Seiten sehr amüsant, hab mich wohlig zurückgelehnt, um zu genießen - und bin dann total raus- und nicht mal bis zur Hälfte gekommen. Aufgrund der begeisterten Kommentare hier habe ich das Buch allerdings noch einmal hervorgeholt und werde bei Gelegenheit einen zweiten Anlauf versuchen, Christine Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
Angelika Jo Geschrieben 11. August 2007 Teilen Geschrieben 11. August 2007 Ich hatte mir vorgenommen, das Buch zu kaufen - und zwar nur wegen des Titels - den fand ich herrlich: konkret, grobkörnig, Neugier weckend, auch mutig formuliert. So fing ich also froh gestimmt mit Lesen an. Der Anfang - na ja, flott, frauenromanmäßig, ein paar sehr originelle Ideen wie die Toshiba-Äpfel des vom Vermüllungsyndrom bedrohten alten Vaters. Erster Ausflug in die Technologiegeschichte vom Herrn Papa - auch das las ich noch mit einer Vorschusslorbeere als Lesezeichen, weil ich annahm, dass sich aus diesem Segment was weiterentwickelt, das wiederum dem Romangeschehen auf die Sprünge hilft. Und dann wurde es schwieriger mit dem Amusement. Mit dem ersten Auftritt der vollbusigen Ukrainerin sind nämlich die Rollen klar verteilt: Miss Busen will nur Aufenthaltsgenehmigung, hat nur materialistische Ziele, ist also die böse Täterin, der tattrige Papa das Opfer, dem man sich immer mehr zuneigen soll, je übler ihm die junge Frau mitspielt. Von dieser Konstellation lässt die Autorin nicht mehr, Seite um Seite häufen sich die Untaten auf eine Weise, dass vom Leser offenbar erwartet wird, er möge der Valentina auch noch zur Last legen, dass nur wegen so einer, eine ehemals feministisch, progressiv und international solidarische Intellektuelle (die Icherzählerin/Autorin) sich auf den Zeitgeist besinnt und auf "Ausländer raus"-Gedanken kommt. Eine Versöhnung mit England, Heimat, Familie und (dem eigentlich unmöglichen) Vater ist dann auch das Ziel, auf das der Roman zusteuert - und das hat ihn mir dann auch höchst langweilig gemacht, weil außer Beweisstücken für die Notwendigkeit dieser Entwicklung nicht mehr viel folgt. Obwohl durchzogen von politischen Fragestellungen, ist das Buch kein Tendenzroman, der den Leser auf eine besondere Linie zwingen will. Umgekehrt. Die Autorin geht so sehr davon aus, dass der herrschende politische Zeitgeist das Leserauge lenkt, dass sie kein Problem damit hat, die Aussagen im eigenen Text für etwas zu verwenden, das eigentlich im Gegensatz zu ihrer Beweisabsicht steht: So ist ihrer Familie selbstredend furchtbar viel Unbill durch das Schreckensregime der SU zugefügt worden, gleichzeitig erzählt sie unbekümmert davon, dass es der arme, gequälte Papa höchstselbst war, der Familienangehörige an den Geheimdienst verpfiffen hat (was dann eben zu Folterungen führte), nur um sich in einer attraktiveren und der Karriere förderlicheren Gegend niederlassen zu können. Gleichfalls die Motive des alten Herrn, was die Verehelichung im fortgeschrittenen Lebensstadium betrifft. Nu ja, er ist halt geil auf das Busenwunder, hat also seinerseits auch nichts weiter als solch verachtete "materialistische" Lebensziele und soll doch - gerade am Ende - den Leser noch einmal als rührender alter Knabe (bei einer Yogaübung) für sich vereinnahmen. Und jene "kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch"? Die schiebt sich zusammenhanglos einfach zwischen die Kapitel und erfüllt insofern einigermaßen holperig die Funktion, der unfreiwillig unsympathisch geratenen Vaterfigur wenigstens auf diese äußerliche Weise etwas wie Skurrilität auf den Rücken zu kleben. Das hat mich dann wegen Etikettenschwindel noch einmal extra geärgert. Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016 www.angelika-jodl.de Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
Angelika Jo Geschrieben 1. September 2007 Teilen Geschrieben 1. September 2007 Lustigerweise habe ich mehrere Nachfragen bekommen, wo das denn stünde, wie der Papa die eigenen Familienmitglieder denunziert. Gefragt haben Leser, die alle sehr begeistert waren von dem Buch und schier nicht glauben wollten, dass da so was Böses vorkommt. Heute habe ich das Buch im Geschäft nochmal durchgeblättert (ich hatte es damals gleich nach der Lektüre an einen lesehungrigen Studenten verschenkt, mache ich immer, wenn mir was nicht gefällt). Also, pp. 205/6 - da steht es ausführlich auf 1 1/2 Seiten. Grüße Angelika Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016 www.angelika-jodl.de Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...