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HenningS

Allwissender Erzähler

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Liebe Montis,

gerade denke ich über den Allwissenden Erzähler nach, und mir wird bewusst, dass es schwierig ist, eine "allgemeine allwissende Perspektive" zu etablieren. Dh eine Perspektive, die keine der beteiligten Figuren stärker in den Fokus nimmt als die anderen Figuren -- die sozusagen über den Dingen schwebt.

Wenn ich zB schreibe: "Anne stand auf und ging zu Peter hinüber", habe ich einen anderen Blick, als wenn ich schreibe: "Anne stand auf und kam zu Peter herüber". Das ensteht durch die Verben "kommen" und "gehen" und die Vorsilben her und hin. Die Vorsilben kann ich natürlich vermeiden, indem ich das kürzere "rüber" benutze. Doch gibt es außer kommen und gehen sicherlich noch viele andere Worte, durch die eine Richtung entsteht.

Etwas Ähnliches entsteht durch Bezeichnungen von Figuren. Die selbe Figur kann "die Polizistin", "Kurts Nachbarin", "Finns Mama" oder "Walters Tochter" sein -- oder auch einfach nur "Gabi". Immer entsteht eine leicht andere Konnotation. Wobei mE keine Konnotation eine "objektive" sein kann.

Ich kann mir vorstellen, dass es außer Namen und Blickrichtungen noch andere Probleme bei dem AE gibt.

Würde gern eure Gedanken dazu hören.

Lieben Gruß, Henning

Es gibt keine Regeln, nur sachkundige Entscheidungen. Und sachkundige Entscheidungen könnt ihr nur treffen, wenn ihr euch sachkundig macht.

Elizabeth George

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Die Allwissenheit wird davon nicht berührt, der Erzähler ist über alles informiert. Wie er sein Wissen transportiert, macht u.a. die Erzählstimme aus, außerdem ist er nicht verpflichtet, jederzeit sein gesamtes Wissen zu präsentieren. Er kann eine Figur so beschreiben, wie er meint, dass das Lesepublikum sie im Moment am besten fassen kann.

vor 23 Minuten schrieb HenningS:

eine Perspektive, die keine der beteiligten Figuren stärker in den Fokus nimmt als die anderen Figuren -- die sozusagen über den Dingen schwebt.

Ich weiß nicht, ob das eine Anforderung an einen allwissenden Erzähler ist. Er darf machen, was er will - sein „USP“ ist, dass er Informationen geben könnte, die nicht im Hier und Jetzt der gerade beschriebenen Person angesiedelt sind: Sieben Jahre später sollte ihm diese Fähigkeit das Leben retten.

Bearbeitet von KerstinH
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Kerstin hat es schon gesagt: der allwissende Erzähler ist kein objektiver Erzähler. Er guckt immer dorthin, wo es am interessantesten ist, und ist mit umfassendem Wissen über Personen, Dinge, Zeitumstände usw. ausgestattet. Wäre er als Erzähler stets objektiv, wäre die Erzählung eher langweilig. Er nimmt ja auch eine Haltung zum Erzählten ein, indem er ironisch, sarkastisch, pathetisch usw. im Ton ist.

Dennoch sind die Marker, die du nennst, Henning (z. B. Figurenname oder Berufsbezeichnung oder nur Personalpronomen?) sehr bedeutsam in der Regulierung von Nähe und Distanz, gerade beim personalen Erzählen. Denn wenn die personale Erzählerin von "Mutter" oder "Mama" spricht oder sie vielleicht sogar beim Vornamen nennt, sagt das, wie du richtig feststellst, sehr viel über ihre Position zu einer Figur und damit über die Beziehung aus.

"Wir sind die Wahrheit", Jugendbuch, Dressler Verlag 2020;  Romane bei FISCHER Scherz: "Die im Dunkeln sieht man nicht"; "Die Nachtigall singt nicht mehr"; "Die Zeit der Jäger"

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vor 6 Stunden schrieb KerstinH:

Die Allwissenheit wird davon nicht berührt, der Erzähler ist über alles informiert.

Es geht mir nicht darum, was der AE dem Leser präsentiert, sondern wie. Wenn ich ein Buch lese, sehe ich automatisch Bilder vor mir. Und zwar Bilder aus einer bestimmten Richtung. Wenn die AE nicht sorgfältig gemacht ist, kann es passieren, dass mein Fokus seltsam hin- und herspringt. Oder unklar wird.

Ich merke, dass es mir beim Schreiben leichter fällt, eine wechselnde Personale Erzählweise zu benutzen.

vor 2 Stunden schrieb AndreasG:

sehr bedeutsam in der Regulierung von Nähe und Distanz,

Genau das meine ich.

Es gibt keine Regeln, nur sachkundige Entscheidungen. Und sachkundige Entscheidungen könnt ihr nur treffen, wenn ihr euch sachkundig macht.

Elizabeth George

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Ich finde das auch interessant und habe mal nach Beispielen geguckt. Als einer der allwissenden Erzähler ist mir sofort Thomas Mann eingefallen, und von ihm fand ich auch eines der wenigen Beispiele (dazu Gottfried Keller, Theodor Fontane und Juli Zeh).

"Die Geschichte Hans Castorps, die wir erzählen wollen, – nicht um seinetwillen (denn der Leser wird einen einfachen, wenn auch ansprechenden jungen Mann in ihm kennenlernen), sondern um der Geschichte willen, die uns in hohem Grad erzählenswert scheint (wobei zu Hans Castorps Gunsten denn noch erinnert werden sollte, daß es seine Geschichte ist, und daß nicht jedem jede Geschichte passiert): diese Geschichte ist sehr lange her, sie ist sozusagen schon ganz mit historischem Edelrost überzogen und unbedingt in der Zeitform der tiefsten Vergangenheit vorzutragen. (Vgl. Thomas Mann, Der Zauberberg, S. Fischer 1924, S.9)

Dabei finde ich auch, dass die auktoriale Perspektive einzigartiger und wieder erkennbar ist im Gegensatz z.B. zur personalen Perspektive in Thrillern. Habt ihr noch mehr Beispiele? Ich möchte den Unterschied gern plastisch sehen und herausfinden, warum das das Lesen eines allwissenden Erzählers etwas mühsamer ist, dafür aber umso mehr Facetten bietet.

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vor 14 Stunden schrieb HenningS:

Wenn ich ein Buch lese, sehe ich automatisch Bilder vor mir. Und zwar Bilder aus einer bestimmten Richtung. Wenn die AE nicht sorgfältig gemacht ist, kann es passieren, dass mein Fokus seltsam hin- und herspringt. Oder unklar wird.

Ich stelle mir den Allwissenden Erzähler wie eine Drohne vor. Er bzw. sie schwebt über der Szene, kann bei Bedarf aber auch näher heranzoomen bzw. jemandem folgen, wenn z.B. gerade über diese betreffende Person berichtet wird. Aus Sicht dieser Person wähle ich dann die Richtungswörter (XY kam zu ihr heran, sie machte sich auf den Weg nach YZ usw.). Der Unterschied zur personalen Perspektive: Ich kann trotzdem Informationen einstreuen, über die diese Person in diesem Moment nicht verfügt. Aber ich werde, sobald ich nicht unmittelbar ihre Gedanken rezitiere („Mama, dachte er, ist doch trotz ihres fortgeschrittenen Alters noch eine recht aparte Frau“) die Verwandtschaftsbeschreibungen so wählen, wie der neutrale Erzähler sie sieht („Seine Mutter war trotz ihres fortgeschrittenen Alters eine auffallend attraktive Erscheinung“) und dabei jedes Gefühl einer persönlichen Nähe herausnehmen, dafür aber meine eigenen Beobachtungen, eventuell auch meine Einschätzung der Situation mitgeben und meine Erzählstimme einfließen lassen („Seine Mutter/Die Senatorin/Hildegard G. war trotz ihres fortgeschrittenen Alters eine auffallend attraktive Erscheinung unter den ansonsten wie Fregattvögel aufgetakelten, vom Leben zunehmend gelangweilten Senatorengattinnen.“)

Wenn meine Drohne dann wieder aufsteigt und wieder über der gesamten Szene schwebt, ist es auch wieder die neutrale Rundumsicht der Drohne, dann treffen sich einfach zwei Personen, fahren die Züge von A nach B, aber es gibt keinen gefühlten Standpunkt, es ist eher die Sicht eines neutralen Zuschauers vor der Leinwand.

Bearbeitet von KerstinH
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Bewusst bin ich auf den allwissenden Erzähler erst gestoßen, als ich die Erdsee-Trilogie von Ursula LeGuin gelesen habe. Bei ihr war es ein neutraler, berichtender Beobachter und Erzähler, der alles wusste, was das Volk so wusste über die Geschichte der Welt und seine Magie. Damit war der Unterschied zu einer reinen Erzählstimme minimal. Meiner Meinung nach verschwindet die Allwissenheit des Erzählers auch recht schnell, wenn er nur einen Teil des Wissens preisgibt. Dann verschmilzt er mit einer der vielen möglichen Erzählstimmen.

In seiner ursprünglichen Bedeutung als moralisierende Oberinstanz ist er unmodern geworden und interessiert nur noch wenig.

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Deine Beispiele sind sehr treffend gewählt, Kerstin. Sie illustrieren gut, was Andreas über Nähe und Distanz schrieb.

vor 4 Stunden schrieb KerstinH:

„Mama, dachte er, ist doch trotz ihres fortgeschrittenen Alters noch eine recht aparte Frau“

Dies erzeugt für mich Nähe zur Figur.

vor 4 Stunden schrieb KerstinH:

„Seine Mutter/Die Senatorin/Hildegard G. war trotz ihres fortgeschrittenen Alters eine auffallend attraktive Erscheinung unter den ansonsten wie Fregattvögel aufgetakelten, vom Leben zunehmend gelangweilten Senatorengattinnen.“

Dies dagegen erzeugt Distanz.

(Dabei frage ich mich, wer empfindet, dass die Senatorengattinnen wie Fregattvögel aufgetakelt sind? Der Sohn, der AE oder beide?)

Bearbeitet von HenningS

Es gibt keine Regeln, nur sachkundige Entscheidungen. Und sachkundige Entscheidungen könnt ihr nur treffen, wenn ihr euch sachkundig macht.

Elizabeth George

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vor 52 Minuten schrieb HenningS:

Dabei frage ich mich, wer empfindet, dass die Senatorengattinnen wie Fregattvögel aufgetakelt sind? Der Sohn, der AE oder beide?

Das ist ein bisschen kontextabhängig. Wenn ich zuvor sehr nahe am Sohn war und vielleicht sogar einige seiner Gedanken direkt  zitiert habe, könnte er es sein. Oder aber beide. Wenn ich eher eine Szene auf einer Gesellschaftsparty beschrieben habe und mich dabei nacheinander den anwesenden Personen widme, ist es eher nur der Erzähler. Das ist nicht immer ganz sauber zu trennen, denke ich. Kommt bestimmt auch darauf an, wie der Erzähler sonst drauf ist. Wenn die Erzählstimme ansonsten immer tödlichen Ernst ausstrahlt, würde ich den plötzlichen Ausbruch von Humor eher einer Figur zuordnen. Ich denke, dass genau hierin der Reiz des auktorialen Erzählens besteht. Man kann das bestimmt gut für eine andere Art des Versteckspiels nutzen. Oder man bemerkt vielleicht plötzlich die Anwesenheit eines zweiten Erzählers …

Bearbeitet von KerstinH
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vor 2 Stunden schrieb Wolf:

Bewusst bin ich auf den allwissenden Erzähler erst gestoßen, als ich die Erdsee-Trilogie von Ursula LeGuin gelesen habe. Bei ihr war es ein neutraler, berichtender Beobachter und Erzähler, der alles wusste, was das Volk so wusste über die Geschichte der Welt und seine Magie. Damit war der Unterschied zu einer reinen Erzählstimme minimal. Meiner Meinung nach verschwindet die Allwissenheit des Erzählers auch recht schnell, wenn er nur einen Teil des Wissens preisgibt. Dann verschmilzt er mit einer der vielen möglichen Erzählstimmen.

In seiner ursprünglichen Bedeutung als moralisierende Oberinstanz ist er unmodern geworden und interessiert nur noch wenig.

Deinen letzten Satz finde ich bemerkenswert (alles andere von allen hier ist ebenfalls interessant). Als moralisierende Oberinstanz?

Ich habe ja in der Schule und auch später noch viele Klassiker gelesen. Da hatte das seinen Platz und seine Berechtigung. Ich frage mich, was wir heute noch davon lernen könnten? Den Zauberberg habe ich dreimal im Leben gelesen, und jedes Mal habe ich diese endlosen philosophisch-poltisch-psychologischen Absätze/Seiten überlesen. Kürzlich habe ich einen historischen Roman angefangen von einem Autor, dessen vorigen Roman ich sehr gut fand. Abgebrochen, weil er offensichtlich versucht hat, Umberto Eco zu imitieren. Da kamen dann so Sätze wie: "Er betrat den Raum, einen Anhaltspunkt suchend, auf dem sein Auge ruhen konnte." (von mir "nachgestellt".) Könnte man versuchen, beim Schreiben mal den Blickwinkel zu verändern, mit Kerstins Drohne über das Geschehen fliegen und dann sehen, ob es passt?

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vor 4 Stunden schrieb Wolf:

In seiner ursprünglichen Bedeutung als moralisierende Oberinstanz ist er unmodern geworden und interessiert nur noch wenig.

Kann mir mal jemand ein Beispiel nennen, in welchen Romanen diese "moralisierende Oberinstanz" auftritt? Wenn es schon die "ursprüngliche" Bedeutung ist, sollte es doch viel geben.

"Wir sind die Wahrheit", Jugendbuch, Dressler Verlag 2020;  Romane bei FISCHER Scherz: "Die im Dunkeln sieht man nicht"; "Die Nachtigall singt nicht mehr"; "Die Zeit der Jäger"

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vor 2 Stunden schrieb AndreasG:

Beispiel

In Werfels blassblauer Frauenschrift meine ich, steckt so ein bewertender allwissender Erzähler. Und Roths Radetzkymarsch geht auch in diese Richtung. Zumindest bewertet hier der Erzähler das, was die Figuren machen.

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vor einer Stunde schrieb ChristophM:

In Werfels blassblauer Frauenschrift meine ich, steckt so ein bewertender allwissender Erzähler. Und Roths Radetzkymarsch geht auch in diese Richtung. Zumindest bewertet hier der Erzähler das, was die Figuren machen.

Den Radetzkymarsch kenne ich nur als Film, aber ich habe hier einen Erzählerband mit einer Geschichte von Joseph Roth. Die fängt so an: "Sie hieß Barbara. Klang ihr Name nicht wie Arbeit? Sie hatte eines jener Frauengesichter, die so aussehen, als wären sie nie jung gewesen." Das ist bewertend, dachte ich, aber nach Lesen der kurzen Erzählung wusste ich, warum er sie so beschrieb: Sie hatte ihren Liebhaber zugunsten ihres Sohnes verlassen und rackert sich für ihn ab. Am Schluss sitzt der Sohn gleichmütig an ihrem Sterbebett und reicht ihr nicht mal die Hand. Finde ich ganz schön wuchtig, ist auch gespickt mit Supermetaphern. Wenn es das ist, was Wolf meinte - nämlich die Moral von der Geschicht´.

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vor 4 Stunden schrieb AndreasG:

Kann mir mal jemand ein Beispiel nennen, in welchen Romanen diese "moralisierende Oberinstanz" auftritt? Wenn es schon die "ursprüngliche" Bedeutung ist, sollte es doch viel geben.

Romane fallen mir keine ein. Aber nach meiner Erinnerung gibt es diese Instanz in allen Märchen und Fabeln.

Es gibt keine Regeln, nur sachkundige Entscheidungen. Und sachkundige Entscheidungen könnt ihr nur treffen, wenn ihr euch sachkundig macht.

Elizabeth George

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Ich weiß nicht, ob das mit der moralisierenden Oberinstanz in auktorialen Romanen wirklich so ist.
Was man oft raushört, ist eine Einschätzung der Situation, eine Meinung des Erzählers zum Erzählten, aber den moralischen Zeigefinger hab ich dabei eigentlich nicht gespürt. 

vor 1 Stunde schrieb HenningS:

nach meiner Erinnerung gibt es diese Instanz in allen Märchen und Fabeln.

Ja, dort ist es quasi Gattungsmerkmal. Fabeln sind ja ins Tierreich verschobene Lehrgedichte, da bekommt man die Moral von der Geschicht nochmal extra aufs Brot geschmiert.

Bearbeitet von KerstinH
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vor 59 Minuten schrieb KerstinH:

Ich weiß nicht, ob das mit der moralisierenden Oberinstanz in auktorialen Romanen wirklich so ist.
Was man oft raushört, ist eine Einschätzung der Situation, eine Meinung des Erzählers zum Erzählten, aber den moralischen Zeigefinger hab ich dabei eigentlich nicht gespürt. 

Ja, dort ist es quasi Gattungsmerkmal. Fabeln sind ja ins Tierreich verschobene Lehrgedichte.

Sehe ich genauso. „Moralisieren“ ist kein Kennzeichen des auktorialen Erzählers, denn „allwissend“ ist etwas anderes als besserwisserisch.

"Wir sind die Wahrheit", Jugendbuch, Dressler Verlag 2020;  Romane bei FISCHER Scherz: "Die im Dunkeln sieht man nicht"; "Die Nachtigall singt nicht mehr"; "Die Zeit der Jäger"

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Da diese Behauptung von mir stammt, müsste ich was dazu. ;D
Ich habe sie aus verschiedenen Schreibratgebern (also mehr als einem) und wenn ich mich richtig erinnere, bezogen sie sich auf die Literatur des 19. Jahrhunderts, wo dieser Typ des Erzählers wohl Mode gewesen sein sollte.
Mich hat damals geärgert, dass in diesen Schreibratgebern wenig sinnvolles zur Perspektive stand. Es gab immer nur die Hinweise auf einen auktorialen, einen persönlichen und einen Ich-Erzähler. Mehr substantielles war da nicht zu finden.

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Sorry falsche Taste. Hier geht es jetzt weiter.
Das änderte sich erst für mich, als ich Orson Scott Card las, der den Aspekt der Perspektive mit der Frage von Nähe und Distanz verband. Das war dann durchaus erhellend.
Richtig spannend wurde es dann, als mir ein Schreibratgeber empfohlen wurde (Titel und Autor vergessen, müsste ich raussuchen), dessen Autor ein als Literaturwissenschafter(?) seine Ratschlage aus der Literatur ableitete und mir Stellen zeigte, wo Autoren die eigene Meinung durch Kleinigkeiten wie ein einzelnes Wort in der persönlichen Perspektive einer Figur ganz subtil unterbrachten.
Da erst war ich in der Lage, die Einteilung der Perspektiven weniger streng zu sehen und ein Auge dafür zu bekommen, was an Mischtypen so möglich war, ohne einen Leser zu verwirren. Diese Möglichkeiten bewusst zu nutzen, ist wirklich eine Meisterschaft. Ich selber habe sie nur einige wenige Male benutzt und halte mich ganz bestimmt nicht für einen Meister in dieser Kunst. 
Gelernt habe ich da vor allem, dass eine Abweichung von der Regel nicht unbedingt gleich ein Fehler sein muss, aber durchaus einer sein kann.

Sorry, dass ich im Augenblick nicht genauer sein kann, aber mein Gedächtnis ist nicht mehr so gut, als wenn ich noch sechzig wäre.

Liebe Grüße
Euer Wolf

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Das Unterbringen der eigenen Meinung geht eben in der auktorialen Perspektive besonders gut. Wenn diese Meinung dann z.B. mit Ironie gekoppelt ist, mag das - vor allem in unseren Zeiten - schnell als überheblich und/oder moralisierend rüberkommen (Manchmal ist es auch so. Zur Ironie herrscht außerdem ohnehin ein zunehmend gespaltenes Verhältnis. Ich bin zum Beispiel auch der Meinung, dass Humor nicht alles darf, weil es in diesem Feld einfach ein gewisses Feingefühl braucht. Wenn man sich einfach nur über andere lustig macht, kann das - zu Recht - schnell nach hinten losgehen.)

Andererseits kann man mit Ironie sehr subtile Aussagen machen. Diese Fähigkeit geht allerdings zunehmend verloren, sowohl bei den Schreibenden als auch beim Lesepublikum. Leider, meiner Meinung nach. Ich mache das insgesamt gröber gewordene Umgangsklima unter den Leuten und die manchmal unsäglich dümmlichen oder brachialen Satiresendungen dafür mitverantwortlich. Das Lesepublikum des 19. und 20. Jahrhundert, das sog. Bildungsbürgertum, war - ohne Radio, Fernsehen und Internet - dahingehend noch ganz anders sensibilisiert.

Nehmen wir Thomas Mann, der war für seine Ironie bekannt. Ich lass mal beiseite, ob er damit nicht manchmal auch überheblich rüberkam. Ich erinnere mich an eine Stelle in den Buddenbrooks: Toni Buddenbrook wird dort mehrfach als putzsüchtig - im Sinne von "aufgeputzt" - beschrieben. Das spricht er aber nicht immer deutlich aus. Stattdessen beschreibt er einmal ausführlich ein Abendkleid mit unzähligen Spitzen und Rüschen, das auf dem Rücken zusätzlich mit einer überdimensionierten Schleife garniert sei. 

Nun ist garniert aber ein Wort aus der Restaurantsprache. Eigentlich meint er dekoriert. Man kann aber getrost davon ausgehen, dass Thomas Mann hier kein Fehler unterlaufen ist. Stattdessen stellt sich beim Leser plötzlich das Bild ein, wie ein Koch sein mittelmäßiges Menü zusätzlich aufwerten will, indem er lauter Petersilienbüschel um den Tellerrand drapiert, damit es "nach was aussieht." (Wer will, kann sich auch den Käse-Igel aus den Siebzigern vorstellen, der damals auf keiner Party fehlen durfte). Dieses Bild auf Toni rückbezogen, die nicht erkennt, wann es gut ist, lässt einen schmunzeln. Und klar macht sich Thomas Mann an dieser Stelle über die Schwäche seiner Protagonistin lustig - obwohl er sie, das merkt man an anderer Stelle - durchaus mag.

Sofern man solche Stellen überhaupt noch als Ironie erkennt, mögen sie heutzutage als moralisierend rüberkommen, denn da ist der Weg zum Bodyshaming vermeintlich nicht weit. Und wer hat schon das Recht, irgendwas über jemandes Klamotten zu sagen. Was natürlich für alle anderen Bereiche ebenso gilt. Es sind aber, eben weil der auktoriale Erzähler heute so gut wie nicht mehr vorkommt, ganz andere Lesegewohnheiten vorauszusetzen, wenn man Bücher aus dem genannten Zeitraum liest. Wenn man heute auktorial schreibt, wird man mit Sicherheit anders an die Sache herangehen. Mit Kleist'schen Schachtelsätzen baut sich heutzutage auch keiner mehr sein Lesepublikum (sprich: seine Fanbase) auf. 

PS: Ich kann mir aber gut vorstellen, was mit "moralisierender Überinstanz" gemeint ist. Ich z.B. mochte Grass' Attitüde bzw. Inszenierung als Schriftsteller nie und hab das automatisch auf seine Bücher übertragen, die ich dann auch nicht mochte, ohne zu schauen, ob er darin wirklich so - in meinen Augen überheblich - rüberkommt.

Bearbeitet von KerstinH
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vor 6 Stunden schrieb Wolf:

Gelernt habe ich da vor allem, dass eine Abweichung von der Regel nicht unbedingt gleich ein Fehler sein muss, aber durchaus einer sein kann.

Wenn man weiß, was man tut, kann man tun, was man will.

Jede Abweichung ist möglich. Aber je größer sie ist, um so genauer sollte man sie handhaben, damit der Leser nicht verwirrt wird.

Fast immer ist es gut, sich als AutorIn den AE als "Erzählerfigur" vorzustellen. Dh als Figur mit bestimmtem Wissen und Vorstellungen über die Romanwelt. Denn einen objektiven, moralfreien AE kann es nicht geben. Dessen Vorstellungen beruhen immer auf den Vorstellungen der Kultur, aus der er kommt und in der er sich bewegt.

Es gibt keine Regeln, nur sachkundige Entscheidungen. Und sachkundige Entscheidungen könnt ihr nur treffen, wenn ihr euch sachkundig macht.

Elizabeth George

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In meinem alleresten Roman (den ich euch demnächst evtl vorstellen werde) habe ich nicht nur eine fiktive Erzählerin, sondern auch fiktive Zuhörer. So beginnt er:

MLONGUALE UND DAS LAND OHNE TOD

Banola banola! Legt Holz aufs Feuer, und hört meine Geschichte!

Nehmt von dem Mango- und dem Palmenholz. Es soll hoch lodern und die Nacht erleuchten. Ihr da hinten, mit den Flöten, gesellt euch zu den Trommlern! So können wir gemeinsam singen. Und ihr anderen – schließt den Kreis und rückt heran, die alten Leute nach vorn. – Noch näher, gerade so, daß mir Platz zum Tanzen bleibt.

Laßt eure Kinder ruhig herumspringen, solange sie nicht an die heißen Steine geraten. Seid ihr bereit?

Hört nun die Legenden von Mlonguale! Wir lieben und verehren diese große Tochter unseres Volkes. Unsere Mythen preisen ihre Körperkraft. Im Kampf stand diese Kriegerin mächtig wie ein Baum. All ihre Feinde tötete sie. Doch diese Frau siegte nicht allein durch ihre Kraft. Die Götter hatten ihr weitere Stärken geschenkt: Klugheit, Mut und strahlende Schönheit.

Es war Mlonguales Bestimmung, unser Volk aus der Sklaverei zu führen, zurück zu den Bräuchen der Mütter und Väter. Vor allem um einen Brauch ging es dabei, den die Hellhäute noch heute fürchten: Die kyoa-Sitte des Menschenessens. – Ha! Ich sehe, einige von euch jungen Leuten verziehen den Mund und andere wenden sich kichernd zum Nachbarn. Aber so war es: Die abergläubische Angst der Hellhäute vor dieser Sitte ließ ihren Kampfesmut sinken.

All die Geschichten, die ihr abends vor den Hütten von Mlonguale erzählt, habe ich zusammengetragen. Mit vielen kundigen Leuten sprach ich – sogar mit der alten uhme Nda Gambia, welche Mlonguale noch selbst gekannt hat. Viele Heldentaten der jungen Kriegerin ließ ich mir von ihr bestätigen. Die unwahren Legenden aber, die sich um Mlonguale ranken, werde ich richtig stellen.

Einige von euch haben mich gefragt, ob es wirklich geschah: Wurde Mlonguale getötet? – Was wäre ich für eine Erzählerin, wenn ich eine solche Sache schon vorher verriete? Bezähmt eure Neugier. Banola banola. Wartet nur ab!

Heute Nacht tragt ihr den Schmuck, die Bemalung und die Röcke unserer Vorfahren, so wie es sich für Frauen und Männer zu einem solchen Anlaß wohl gehört. Doch wenn in ein paar Tagen Mlonguales Geschichte zu Ende erzählt ist, werdet ihr wieder in eure Leinenhemden schlüpfen. Denn die alten Zeiten sind verschwunden.

Eines aber ist geblieben.

Als Mlonguale unserem Volk den Weg zu den alten Sitten und Gebräuchen wies, gab sie ihm dadurch seinen Stolz zurück. So war es. Yoalomba nagambe.

Es gibt keine Regeln, nur sachkundige Entscheidungen. Und sachkundige Entscheidungen könnt ihr nur treffen, wenn ihr euch sachkundig macht.

Elizabeth George

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vor 4 Stunden schrieb KerstinH:

Nehmen wir Thomas Mann, der war für seine Ironie bekannt. Ich lass mal beiseite, ob er damit nicht manchmal auch überheblich rüberkam. Ich erinnere mich an eine Stelle in den Buddenbrooks: Toni Buddenbrook wird dort mehrfach als putzsüchtig - im Sinne von "aufgeputzt" - beschrieben. Das spricht er aber nicht immer deutlich aus. Stattdessen beschreibt er einmal ausführlich ein Abendkleid mit unzähligen Spitzen und Rüschen, das auf dem Rücken zusätzlich mit einer überdimensionierten Schleife garniert sei. 

Nun ist garniert aber ein Wort aus der Restaurantsprache. Eigentlich meint er dekoriert. Man kann aber getrost davon ausgehen, dass Thomas Mann hier kein Fehler unterlaufen ist. Stattdessen stellt sich beim Leser plötzlich das Bild ein, wie ein Koch sein mittelmäßiges Menü zusätzlich aufwerten will, indem er lauter Petersilienbüschel um den Tellerrand drapiert, damit es "nach was aussieht."

Diese feinsinnige Ironie ist es, die mich bei auktorial geschriebenen Texten am Ball halten. In der Geschichte von Josef Roth, die ich gestern gelesen habe, sind es zum Beispiel die fünf Ferkelchen an der Hand des Schweinehändlers, die Barbara übers Gesicht krochen. Dabei schlüpft der Autor für einen Moment in den Kopf und in die Empfindung seiner Figur. Und ich gehe davon aus, dass so gut wie alle auktorialen Erzähler des 19. und 20. Jahrhundert sprach-und auch ein wenig selbstverliebt waren. In Thomas Manns Geschichte "Schwere Stunde" ringt zum Beispiel ein Autor nächtens mit Erkältungsattacken und seinem übergroßen Wunsch, sich dem verehrten Idol in Weimar anzunähern.

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vor 7 Stunden schrieb Wolf:

Richtig spannend wurde es dann, als mir ein Schreibratgeber empfohlen wurde (Titel und Autor vergessen, müsste ich raussuchen), dessen Autor ein als Literaturwissenschafter(?) seine Ratschlage aus der Literatur ableitete und mir Stellen zeigte, wo Autoren die eigene Meinung durch Kleinigkeiten wie ein einzelnes Wort in der persönlichen Perspektive einer Figur ganz subtil unterbrachten.

Vielleicht ist es auch das, was ich beim Lesen immer als "Stimme" des Autors oder der Autorin empfinde. Wenn nur über die Figuren und die Handlung berichtet wird, liest es sich wie ein Schulaufsatz. Wenn die Perspektive total im Kopf der Figur drin ist, ist man ganz nah dran, das macht aber noch keine Stimme. Erst die ironischen, wohlwollenden (oder moralisierenden) Einschübe schaffen die Distanz, die sich dann mit allem zu einem lebendigen Text vereinen. Sollte man aber heutzutage nur minimal anwenden, denn viele alte Texte lesen sich schwer und holperig. Wie Kerstin schrieb: "Mit Kleist'schen Schachtelsätzen baut sich heutzutage auch keiner mehr sein Lesepublikum (sprich: seine Fanbase) auf."

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Bei dem letzten von mir erwähnten Schreibratgeber, der eigentlich gar kein Schreibratgeber ist, sondern nur bei mir im Regal in der Nähe der Ratgeber steht, handelt es sich um "Die Kunst des Erzählens" von James Wood. Ich habe es in der deutschen Übersetzung, 2. Auflage von 2011, erschienen bei Rowohlt.

Die Stelle meiner Erinnerungen habe ich noch nicht wiedergefunden. Es war eine linke Seite, aber dvon gibt es viele.
Interessanter ist das Vorwort von Daniel Kehlmann und die Einführung, weil sie viele Dinge anspricht, die für unsere Diskussion von Bedeutung ist.
"Es kommt gerade auf die signifikant insignifikanten Einzelheiten an", sagt Kehlmann in seinem Vorwort. Dem kann ich mich nur anschließen, und ich finde diesen Gedanken ungeheuer aufregend, weil jeder Autor mit dem Problem zu kämpfen hat, was er erwahnen muss und was er besser weglässt. Es begegnet uns praktisch in jedem Satz unserer Geschichten und es gibt keine kluge Antwort darauf.

Egal. Bei diesem Buch kommt man mit einmal lesen nicht aus.

War mein Gedächtnis doch nicht so schlecht. Ich hatte zwar Titel und Autor vergessen, aber nicht wo es in meiner Bib stand.

Frohes Lesen
Wolf

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vor 2 Stunden schrieb Wolf:

 

Die Stelle meiner Erinnerungen habe ich noch nicht wiedergefunden. Es war eine linke Seite, aber dvon gibt es viele.
 

Diesen Satz würde ich mir gerne ausborgen und einen Roman drumrum schreiben.

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