AndreasG Geschrieben 10. November 2023 Teilen Geschrieben 10. November 2023 Nun will ich auch noch meinen Leseeindruck zu „Maman“ nachreichen: Mich hat an Sylvie Schenks „Maman“ vor allem das Verfahren interessiert, wie sie Fakten und Fiktion verbindet und sich selbst als Erzählerin in den Text einbringt. Und vor allem, was daraus entsteht. Sylvie Schenk sagt in der Einführung bzw. im Prolog ja selbst, dass sie nicht wisse, ob sie einen Roman schreibe und deshalb lieber nur von einem „Text“ spreche. Die Unentschiedenheit zwischen Gefundenem und Erfundenem charakterisiert ihre Erzählweise, und nimmt mich sehr ein, weil sie aus Respekt gegenüber ihrem Erzählgegenstand gewählt wird: dem Leben und der Persönlichkeit ihrer Mutter. Obwohl sie offensichtlich nicht das war, was man landläufig als „gute“, das heißt warmherzige, offene, fürsorgliche Mutter bezeichnen würde, will sie sie nicht denunzieren. Für mich passt zu diesem Ansatz auch die Struktur dieser kurzen, bruchstückhaft anmutenden Kapitel, die wie Teile eines Puzzles sind, welche niemals ein ganzes Bild ergeben können, weil eben wichtige Teile für immer verschollen sind. Sehr stark fand ich gleich zu Beginn die durchgezählte Kapitelfolge „Cécile stirbt“, wo jeder Abschnitt ein neues Teil zu dem gleichen Geschehen hinzufügt. Mir hat sich ein Vergleich mit Monika Helfers „Die Bagage“ aufgedrängt, wo es auch um eine Familiengeschichte geht, der nachgespürt wird. Dort steht die „schöne“ Großmutter im Mittelpunkt, und auch dort sind die Quellen des Erzählens das Hörensagen und mehr oder weniger wahre Familienlegenden. Anders als Schenk stürzt sich Helfer jedoch geradezu ins Erzählerische, während Schenk die erzählerischen Mittel eher skrupulös und zurückhaltend einsetzt und insgesamt eher analytisch vorgeht. Sie stellt dabei öfter Befunde einfach fest. Das Kapitel „Die Unglückliche“ in „Maman“ ist eine Beschreibung der Wesensart der Mutter, die, gemessen an der eigentlichen Zurückhaltung im Beurteilen, viele Be- und Zuschreibungen einfach setzt, ohne sie erzählerisch zu entwickeln und in der Schwebe zu halten, sodass ich als Leser meine eigenen Schlüsse ziehen könnte. Gleich der erste Satz legt mich fest: „Mama war eine Unglückliche, die ihr Unglück nicht reflektieren konnte.“ In dieser Weise geht es weiter mit Zuschreibungen: „Sie war authentisch und verlogen“; „Sie hatte keine Moral, aber zwei Prinzipien“. Doch auch hier kann es sich ja nur um die Wahrnehmung und Interpretation der erzählenden Tochter handeln, Maman hat sich selbst ja nie erklärt. Das analytische Moment macht Schenks „Maman“ Erzähltemperatur eher kühl, während Helfer deutlich „wärmer“ erzählt. Das soll ausdrücklich keine Wertung sein! Ich fand beide Texte auf ihre je eigene Weise beeindruckend. 3 "Wir sind die Wahrheit", Jugendbuch, Dressler Verlag 2020; Romane bei FISCHER Scherz: "Die im Dunkeln sieht man nicht"; "Die Nachtigall singt nicht mehr"; "Die Zeit der Jäger" Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
AnnaW Geschrieben 11. November 2023 Teilen Geschrieben 11. November 2023 Dieses analytische Moment, wie du es nennst, Andreas, hat bei mir im Nachgang dazu geführt, dass ich die Zuschreibungen gedanklich hinterfragt habe. Und dachte: Woher nimmt sie das, die Erzählerin? Wer sagt, dass die Mutter nicht reflektiert - nur, weil sie mit ihrer Tochter nicht darüber redet? Im Nachhinein, nicht während des Lesens selbst, wurde mir unbehaglich damit. Aber das muss die Kühle gewesen sein, die du beschreibst, die ich vermutlich auch empfunden habe und die mit vielleicht auch einfach nicht gefiel, nicht bei einem Mutter-Tochter-Verhältnis. - - Ja, die Erzählerin sagt selbst, aus S. 117, dass sie verzweifeln könnte, weil sie ihrer Mutter nur negative Eigenschaften zuschreiben kann - aber diese Negativität hat mir im Nachhinein zugesetzt. Ich fand es befremdlich, dass es so gar keine liebevollen, humorvollen Momente gegeben haben soll. Aber das ist natürlich mein Wunschdenken als Leserin. Und wäre vermutlich auch ein Wunsch der Tochter gewesen, die die Erzählerin ist. Oder nicht? Das finde ich schwer zu fassen. 2 Website Anna Instagram Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
BarbaraS Geschrieben 12. November 2023 Teilen Geschrieben 12. November 2023 (bearbeitet) Am 10.11.2023 um 13:02 schrieb AndreasG: Mir hat sich ein Vergleich mit Monika Helfers „Die Bagage“ aufgedrängt, wo es auch um eine Familiengeschichte geht, der nachgespürt wird. Dort steht die „schöne“ Großmutter im Mittelpunkt, und auch dort sind die Quellen des Erzählens das Hörensagen und mehr oder weniger wahre Familienlegenden. Anders als Schenk stürzt sich Helfer jedoch geradezu ins Erzählerische, während Schenk die erzählerischen Mittel eher skrupulös und zurückhaltend einsetzt und insgesamt eher analytisch vorgeht. Sie stellt dabei öfter Befunde einfach fest. Das Kapitel „Die Unglückliche“ in „Maman“ ist eine Beschreibung der Wesensart der Mutter, die, gemessen an der eigentlichen Zurückhaltung im Beurteilen, viele Be- und Zuschreibungen einfach setzt, ohne sie erzählerisch zu entwickeln und in der Schwebe zu halten, sodass ich als Leser meine eigenen Schlüsse ziehen könnte. Gleich der erste Satz legt mich fest: „Mama war eine Unglückliche, die ihr Unglück nicht reflektieren konnte.“ Das finde ich sehr interessant, Andreas, und ich möchte dir gleichzeitig zustimmen und widersprechen. Auch für mich setzt der Roman ganz klar nicht auf die Kraft des Erzählens, sondern bleibt tastend, zurückhaltend. Ich empfinde ihn jedoch nicht als analytisch. Angeregt durch dein Posting habe ich mich gefragt, wieso mich diese Zuschreibungen, die du zitierst, nicht irritiert haben, und bin schließlich darauf gekommen, dass mich der Roman als Ganzes viel weniger an eine Erzählung erinnert als an ein Gespräch. Da sitzen zwei Freundinnen zusammen (oder auch Freund und Freundin), und die eine hat gesagt: Erzähl doch mal von deiner Mutter. Und daraufhin kommt nicht die eine Geschichte, sondern immer mal wieder eine neue Episode. Ein Bruchstück. So wird (im Laufe eines langen Abends, mit Wein auf dem Tisch) sechsmal von Célines Tod erzählt. Oder von Mamans Faux-pas – und später dann noch mal: Übrigens war es vielleicht gar nicht Arnaud, es gab da auch Gerüchte über … Und zwischendurch sagt man dann eben auch solche apodiktischen Sätze. "Sie war eine Unglückliche" etc. Als Versuch, kurz mal festen Boden unter den Füßen zu spüren, nicht als etwas, das absolut gilt. Es schwingt immer mit, dass gleich jemand kommen wird, der widerspricht. Wie es in "Maman" ja an anderen Stellen geschieht. D.h. der Roman erzählt viel mehr von der Suche der Erzählerin als von der Mutter. Über die wir ja tatsächlich wenig erfahren. Für mich macht gerade dieses Tastende den Charme des Romans aus. Es ist auch das, was mich formal besonders fasziniert: Welche Mittel benutzt die Autorin, um die "Kraft des Erzählens" (die ihr ja ganz klar zur Verfügung stünde) zu begrenzen, so dass wir nie vollständig oder immer nur vorübergehend in eine Geschichte hineingezogen werden? Zugleich muss ich zugeben, dass mich "Maman" mit Abstand betrachtet etwas unbefriedigt zurücklässt. So ein diffuses Gefühl "Zu kurz gesprungen". Ohne dass ich jetzt genau sagen könnte, was ich mir dazuwünschen würde. Bearbeitet 12. November 2023 von BarbaraS 2 Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
BarbaraS Geschrieben 12. November 2023 Teilen Geschrieben 12. November 2023 Am 25.10.2023 um 16:21 schrieb AnnaW: Liebe @BarbaraS, ich hab jetzt auch zu Ende gelesen und hatte deine Überlegungen die ganze Zeit im Kopf. Tatsächlich habe ich das Ende ganz anders gelesen. Hatte nicht den Eindruck, dass es ums Alleinsein geht, sondern eher darum, wie man eine Gemeinschaft wird, aus lauter einzelnen und zufällig zusammengewürfelten Individuen, unauflöslich letztlich, eine Familie. Wobei - das schließt sich gar nicht aus, merke ich gerade. Das Thema Einsamkeit und Zusammengehörigkeit. Vielleicht liegt darin eine Spannung, vielleicht der Reiz, das zu erkunden. Du hast recht, Anna, so kann man es auch lesen. Und vermutlich ist die Frage, worum es in dem Roman "eigentlich" geht, sowieso nur sehr subjektiv zu beantworten. Ich fand einfach formal sehr auffällig, dass der Roman mit vier Episoden endet, in denen eine Frau mit ihrer Schwangerschaft allein gelassen wird. Alles vier Vorkommnisse, von denen wir zu dem Zeitpunkt schon wissen, sie teilen keine neuen Fakten mit, sondern betonen noch einmal das Im-Stich-gelassen-werden. Da habe ich mich gefragt, warum das so ist. Und ehrlich gesagt, so ganz kann ich mir immer noch keinen Reim darauf machen. Dass Alleinsein das Thema des Romans ist, überzeugt mich als Grund inzwischen selbst nicht mehr … 1 Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
KarinKoch Geschrieben 12. November 2023 Teilen Geschrieben 12. November 2023 vor 12 Stunden schrieb AnnaW: Dieses analytische Moment, wie du es nennst, Andreas, hat bei mir im Nachgang dazu geführt, dass ich die Zuschreibungen gedanklich hinterfragt habe. Und dachte: Woher nimmt sie das, die Erzählerin? Wer sagt, dass die Mutter nicht reflektiert - nur, weil sie mit ihrer Tochter nicht darüber redet? Im Nachhinein, nicht während des Lesens selbst, wurde mir unbehaglich damit. Aber das muss die Kühle gewesen sein, die du beschreibst, die ich vermutlich auch empfunden habe und die mit vielleicht auch einfach nicht gefiel, nicht bei einem Mutter-Tochter-Verhältnis. - - Ja, die Erzählerin sagt selbst, aus S. 117, dass sie verzweifeln könnte, weil sie ihrer Mutter nur negative Eigenschaften zuschreiben kann - aber diese Negativität hat mir im Nachhinein zugesetzt. Ich fand es befremdlich, dass es so gar keine liebevollen, humorvollen Momente gegeben haben soll. Aber das ist natürlich mein Wunschdenken als Leserin. Und wäre vermutlich auch ein Wunsch der Tochter gewesen, die die Erzählerin ist. Oder nicht? Das finde ich schwer zu fassen. Ich fand ja sehr erstaunlich und erfreulich, was für eine resiliente und zähe Frau aus Reneé geworden ist, angesichts ihrer Geschichte. Und das wird von Sylvie Schenk mit großem Respekt und großer Zartheit erzählt, finde ich. Und diese Kühle, die sie vermittelt, ist absolut angemessen, denn die Mutter war ja nach außen sehr kühl, fast lieblos, und das setzt nicht nur dir zu, Anna, das setzt vor allem der Erzählerin zu, weil ihr diese kleinen Liebesgesten gefehlt haben, zu denen Reneé nicht fähig war, und zu denen sie ja bis zum Schluss selbst nicht in der Lage war. Und dennoch zeigt sich ihre eigene Liebesfähigkeit in ihrer (Sylvie Schenks) Erzählweise: Um Distanz bemüht, damit sie die Mutter nicht aus Versehen im Nachhinein noch verletzt oder zu sehr aus ihrer eigenen Sicht darstellt. Nicht umsonst hat sie deshalb die Einwände ihrer Schwestern mit hineingenommen in ihre Beschreibung der Mutter. Für mich hat Sylvie Schenk viel Raum gelassen zur Interpretation dessen, was ihre Mutter gefühlt und gedacht hat. Dass sie ihr Unglück nicht reflektieren konnte, war für mich keine umfassende Unfähigkeit, sondern eher bezogen auf diesen einen Punkt, weil es zu schmerzhaft gewesen wäre, das zu tun. Gerade die Leerstellen, die die Autorin lässt, machen den Text für mich so lesenswert. Ich kann sie füllen mit meinen eigenen Erfahrungen. Das mag ich sehr. 2 Karin Koch Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
StefanievR Geschrieben 12. November 2023 Teilen Geschrieben 12. November 2023 Ich bin wieder da, habe im Urlaub fertig gelesen, war zwischendurch krank und habe meine Tochter nach Sturz und Op begleitet. Ich lese mich mal in die Kommentare ein. LG! 1 Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
Christa Geschrieben 12. November 2023 Teilen Geschrieben 12. November 2023 (bearbeitet) Ich habe jetzt ein bisschen nachgedacht über eure Kommentare zur Distanz der Erzählweise, zu den Lücken und der Unbehaglichkeit bei einigen, die der Text zurückgelassen hat. Zunächst haben mich diese Stellen (die Erzählerin ist ja sogar dabei, das Karusselpferd anzutreiben, auf dem ihre Großmutter sitzt) auch irritiert. Wie kann die Autorin dabei sein, woher nimmt sie ihre Kenntnisse? Und: War denn da gar nichts Liebenswertes an Maman, das zu ihren Lebzeiten durchgeschienen hätte? Doch, man kann es durchscheinen sehen. Die Erzählerin hatte ihr Blumen aus den Bergen gebracht, Maman liebte Blumen, die sie aber von ihrer Tochter etwas brummig angenommen hat. Die Unfähigkeit lag an dieser brüsken Handlung, obwohl sie die Tochter vielleicht lieber in den Arm genommen hätte. Aber Liebkosungen waren tabu. Ich glaube, mir ging es wie Karin, indem ich die Lücken mit eigenen Erfahrungen füllen konnte. Und ich empfand es so, als hätte die Erzählerin die Lücken mit vorsichtigen Erlebnissen und Gefühlen gefüllt, die ihre Mutter hätte erlebt und gefühlt haben können. Ich habe diese Maman als eine im Grund liebenswürdige Frau kennengelernt, die aber so introvertiert geworden ist, dass die "Musik im Inneren" nicht nach außen dringen konnte. Ich habe jetzt ein paar Stellen noch einmal gelesen. Nachdem die Mutter ihr von der Bettlerin erzählt hat, der sie den Erlös des Verlobungsrings gab, schreibt die Erzählerin: "Schreiben. Maman aus dem Nichts retten." Damit könnte sie, so denke ich mir, sogar die weitere Bedeutung des Schreibens angesprochen haben, nämlich Menschen und Vorkommnisse festzuhalten, sie "vor dem Nichts retten." vor 3 Stunden schrieb KarinKoch: Für mich hat Sylvie Schenk viel Raum gelassen zur Interpretation dessen, was ihre Mutter gefühlt und gedacht hat. Dass sie ihr Unglück nicht reflektieren konnte, war für mich keine umfassende Unfähigkeit, sondern eher bezogen auf diesen einen Punkt, weil es zu schmerzhaft gewesen wäre, das zu tun. Gerade die Leerstellen, die die Autorin lässt, machen den Text für mich so lesenswert. Ich kann sie füllen mit meinen eigenen Erfahrungen. Das mag ich sehr. Diese Sätze von Karin meinte ich. Maman war - so habe ich es interpretiert - nicht unfähig zum Reflektieren, sondern unfähig, sich mit-zuteilen. Das ist weit verbreitet bei den Menschen, einst und jetzt. Und die Autorin hat es geschafft, mich ein wenig hinter den dichten Vorhang vor Mamans Leben schauen zu lassen. Bearbeitet 12. November 2023 von Christa 2 Ostseekrimi Mörderische Förde https://tinyurl.com/yy5xgm9j :http://schreibteufelchen-christa.blogspot.com/ Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
AndreasG Geschrieben 12. November 2023 Teilen Geschrieben 12. November 2023 vor 4 Stunden schrieb BarbaraS: Das finde ich sehr interessant, Andreas, und ich möchte dir gleichzeitig zustimmen und widersprechen. Auch für mich setzt der Roman ganz klar nicht auf die Kraft des Erzählens, sondern bleibt tastend, zurückhaltend. Ich empfinde ihn jedoch nicht als analytisch. Angeregt durch dein Posting habe ich mich gefragt, wieso mich diese Zuschreibungen, die du zitierst, nicht irritiert haben, und bin schließlich darauf gekommen, dass mich der Roman als Ganzes viel weniger an eine Erzählung erinnert als an ein Gespräch. Da sitzen zwei Freundinnen zusammen (oder auch Freund und Freundin), und die eine hat gesagt: Erzähl doch mal von deiner Mutter. Und daraufhin kommt nicht die eine Geschichte, sondern immer mal wieder eine neue Episode. Ein Bruchstück. So wird (im Laufe eines langen Abends, mit Wein auf dem Tisch) sechsmal von Célines Tod erzählt. Oder von Mamans Faux-pas – und später dann noch mal: Übrigens war es vielleicht gar nicht Arnaud, es gab da auch Gerüchte über … Und zwischendurch sagt man dann eben auch solche apodiktischen Sätze. "Sie war eine Unglückliche" etc. Als Versuch, kurz mal festen Boden unter den Füßen zu spüren, nicht als etwas, das absolut gilt. Es schwingt immer mit, dass gleich jemand kommen wird, der widerspricht. Wie es in "Maman" ja an anderen Stellen geschieht. D.h. der Roman erzählt viel mehr von der Suche der Erzählerin als von der Mutter. Über die wir ja tatsächlich wenig erfahren. Für mich macht gerade dieses Tastende den Charme des Romans aus. Es ist auch das, was mich formal besonders fasziniert: Welche Mittel benutzt die Autorin, um die "Kraft des Erzählens" (die ihr ja ganz klar zur Verfügung stünde) zu begrenzen, so dass wir nie vollständig oder immer nur vorübergehend in eine Geschichte hineingezogen werden? Zugleich muss ich zugeben, dass mich "Maman" mit Abstand betrachtet etwas unbefriedigt zurücklässt. So ein diffuses Gefühl "Zu kurz gesprungen". Ohne dass ich jetzt genau sagen könnte, was ich mir dazuwünschen würde. Ich stimme dir in ganz vielem zu, Barbara. Gerade darin, dass es gar nicht so sehr um die Mutter geht, sondern um die Erzählerin und ihre Suche nach der Mutter, ihre ungelebte Beziehung. Sie muss deshalb auch so kühl sein, wie sie ist. Deshalb würde ich weniger von einem Gespräch zwischen Freundinnen als "Text-Modell" bzw. gedachte Erzählsituation sprechen, sondern von einem Selbstgespräch, bei dem die Erzählerin sich aber voll bewusst ist, dass sie mit einer künstlerischen und somit künstlichen Stimme spricht, "die mir schon nicht mehr gehört". (Seite 9) Kann dieses diffuse Gefühl von "zu kurz gesprungen" bei dir (und auch bei mir ein wenig) vielleicht daher kommen, dass mehrfach als Erklärung, warum die Mutter so war, wie sie war, die (Nicht-)Erklärung: "Das war damals eben so" (Seite 91) angeführt wird, die größeren sozialen und historischen Umstände aber merkwürdig unbestimmt bleiben? 1 "Wir sind die Wahrheit", Jugendbuch, Dressler Verlag 2020; Romane bei FISCHER Scherz: "Die im Dunkeln sieht man nicht"; "Die Nachtigall singt nicht mehr"; "Die Zeit der Jäger" Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
KarinKoch Geschrieben 12. November 2023 Teilen Geschrieben 12. November 2023 (bearbeitet) vor 5 Stunden schrieb AndreasG: Kann dieses diffuse Gefühl von "zu kurz gesprungen" bei dir (und auch bei mir ein wenig) vielleicht daher kommen, dass mehrfach als Erklärung, warum die Mutter so war, wie sie war, die (Nicht-)Erklärung: "Das war damals eben so" (Seite 91) angeführt wird, die größeren sozialen und historischen Umstände aber merkwürdig unbestimmt bleiben? Die sozialen Umstände, denen die Mutter ausgesetzt war, finde ich ganz und gar nicht unbestimmt. Sie wurde ja in eine Umgebung hineingeboren, die in den ersten sechs Jahren liebloser und haltloser nicht hätte sein können. Mir sind die Gründe und Ursachen für ihr Verhalten, ihre Defizite und ihre Verstocktheit absolut nachvollziehbar. Bearbeitet 12. November 2023 von KarinKoch 1 Karin Koch Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
jueb Geschrieben 13. November 2023 Autor Teilen Geschrieben 13. November 2023 (bearbeitet) Spannend, die neuen Leseeindrücke und Analysen des Romans von eurer Seite. Viel Positives wurde geschrieben, dem ich mich anschließen kann, das vorsichtig Tastende, die Zartheit, die poetische Kraft, die meisterhafte Verdichtung - über vier (Frauen)Generationen wird geschrieben -, die verschiedenen Strategien der Erzählerin, sich in das Erzählte mit hineinzunehmen, das Spiel mit dem Möglichen, was wäre wenn, war manches nicht doch anders? Ungeachtet dieser Vorzüge, bleibt auch bei mir dieses unbefriedigte Gefühl, von dem Barbara sprach: vor 23 Stunden schrieb BarbaraS: Zugleich muss ich zugeben, dass mich "Maman" mit Abstand betrachtet etwas unbefriedigt zurücklässt. So ein diffuses Gefühl "Zu kurz gesprungen". Ohne dass ich jetzt genau sagen könnte, was ich mir dazuwünschen würde. vor 18 Stunden schrieb AndreasG: Kann dieses diffuse Gefühl von "zu kurz gesprungen" bei dir (und auch bei mir ein wenig) vielleicht daher kommen, dass mehrfach als Erklärung, warum die Mutter so war, wie sie war, die (Nicht-)Erklärung: "Das war damals eben so" (Seite 91) angeführt wird, die größeren sozialen und historischen Umstände aber merkwürdig unbestimmt bleiben? Ich merke, je mehr ich mich mit dem Roman beschäftige, desto kritischer sehe ich die Form. Ich verstehe das Bauprinzip schon: Eine Annäherung an die Biografie von Mutter und Großmutter, die kein abgerundetes Ganzes ergeben kann, daher die Aneinanderreihung von Bruchstücken des Erinnerten, Erfragten, Zusammengereimten, Erhofften, Erträumten... Trotzdem empfinde ich die Romanstruktur etwas disparat oder vielleicht zu lose. So bin ich mir auch nicht sicher, ob ich das Ende des Buches gelungen finde. Im Mittelpunkt steht "Maman" die Annäherung an die eigene Mutter, das Ganze endet mit drei Schwangerschaften, bei denen die Mütter am Ende allein sind. Und dieses "Allein" wird auch noch - sehr akzentuiert - als Titel der Kapitel genommen. Was passiert hier? Verlagert sich nicht auf einmal das Thema des Romans in eine völlig andere Richtung? Und warum tut das die Autorin? Weiter oben haben wir das, glaube ich schon, angefangen zu diskutieren, bei der Frage, was das Thema des Romans ist. Die Auseinandersetzung mit der Mutter? Das Alleinsein? Das Alleinsein von Frauen? Frage also, wie überzeugend ist die Romanstruktur/Komposition? Liebe Grüße: Jürgen Bearbeitet 13. November 2023 von jueb "Dem von zwei Künstlern geschaffenen Werk wohnt ein Prinzip der Täuschung und Simulation inne." AT "Aus Liebe Stahl. Eine Künstlerehe." Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
AndreasG Geschrieben 13. November 2023 Teilen Geschrieben 13. November 2023 vor 12 Stunden schrieb KarinKoch: Die sozialen Umstände, denen die Mutter ausgesetzt war, finde ich ganz und gar nicht unbestimmt. Sie wurde ja in eine Umgebung hineingeboren, die in den ersten sechs Jahren liebloser und haltloser nicht hätte sein können. Mir sind die Gründe und Ursachen für ihr Verhalten, ihre Defizite und ihre Verstocktheit absolut nachvollziehbar. Mit "unbestimmt" meinte ich nicht, dass einem nicht klar würde, wie lieblos, frauenfeindlich, ungerecht diese Zeit war. Das wird sehr wohl klar, da hast du recht. Doch die Erzählerin knüpft hier an Wissen an, das wir mitbringen: "Das war damals eben so" und bleibt überwiegend beim Persönlich-Individuellen. Das soll erst einmal keine Kritik sein. Das ist von der Autorin sicher auch so gewollt. Es verengt meines Erachtens nur eben auch den Horizont, und das kann den Eindruck hinterlassen, es fehle etwas, gerade weil im Persönlich-Individuellen auch wenig sicheres Wissen vorhanden ist. 1 "Wir sind die Wahrheit", Jugendbuch, Dressler Verlag 2020; Romane bei FISCHER Scherz: "Die im Dunkeln sieht man nicht"; "Die Nachtigall singt nicht mehr"; "Die Zeit der Jäger" Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
Christa Geschrieben 13. November 2023 Teilen Geschrieben 13. November 2023 (bearbeitet) vor 2 Stunden schrieb jueb: Ich merke, je mehr ich mich mit dem Roman beschäftige, desto kritischer sehe ich die Form. Ich verstehe das Bauprinzip schon: Eine Annäherung an die Biografie von Mutter und Großmutter, die kein abgerundetes Ganzes ergeben kann, daher die Aneinanderreihung von Bruchstücken des Erinnerten, Erfragten, Zusammengereimten, Erhofften, Erträumten... Trotzdem empfinde ich die Romanstruktur etwas disparat oder vielleicht zu lose. So bin ich mir auch nicht sicher, ob ich das Ende des Buches gelungen finde. Im Mittelpunkt steht "Maman" die Annäherung an die eigene Mutter, das Ganze endet mit drei Schwangerschaften, bei denen die Mütter am Ende allein sind. Und dieses "Allein" wird auch noch - sehr akzentuiert - als Titel der Kapitel genommen. Was passiert hier? Verlagert sich nicht auf einmal das Thema des Romans in eine völlig andere Richtung? Und warum tut das die Autorin? Weiter oben haben wir das, glaube ich schon, angefangen zu diskutieren, bei der Frage, was das Thema des Romans ist. Die Auseinandersetzung mit der Mutter? Das Alleinsein? Das Alleinsein von Frauen? Frage also, wie überzeugend ist die Romanstruktur/Komposition? Damit legst du den Finger auf das, was ich am Anfang mit "gewissen Schwierigkeiten" bezeichnet habe. Beim ersten Lesen bin ich nämlich immer mal wieder mit den Figuren durcheinandergekommen, und vorgestern habe ich festgestellt, dass ich die drei kurzen Kapitel "Allein" über die Schwangerschaften schon wieder ausgeblendet hatte. Im Nachhinein scheint für mich das Thema des Romans das zu sein: Über Generationen hinweg wiederholen sich bestimmte, manchmal fatale Familienmuster. Die werden an die jeweils nachfolgende Generation weitergegeben. Bei den Allein-Kapiteln war mir nicht mehr klar, was das mit dem Übrigen zu tun hatte, und ich musste zurückblättern, um es einordnen zu können. Das letzte Kapitel hatte mich dann wieder versöhnt, weil die Erzählerin erkannte, wer sie war, und weil sie irgendwie "bei sich" war. Der Grund ist der, denke ich, dass man in dieser kurzen Annäherungs-Form keinen Generationenkonflikt ausreichend beschreiben kann. Tolstoi hat für solche Dinge 500 Seiten gebraucht. Es war zu viel Elementares in eine zu kurze Form gepresst. Und man kann schon gar nicht den historisch-gesellschaftlichen Hintergrund einfließen lassen. "Das war damals eben so" klingt für mich wie der Originalton von Maman. Das mindert aber nicht den großartigen Gesamteindruck, den dieses Buch auf mich gemacht hat. Bearbeitet 13. November 2023 von Christa 2 Ostseekrimi Mörderische Förde https://tinyurl.com/yy5xgm9j :http://schreibteufelchen-christa.blogspot.com/ Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
KarinKoch Geschrieben 13. November 2023 Teilen Geschrieben 13. November 2023 vor 10 Stunden schrieb AndreasG: Doch die Erzählerin knüpft hier an Wissen an, das wir mitbringen: "Das war damals eben so" und bleibt überwiegend beim Persönlich-Individuellen. Das soll erst einmal keine Kritik sein. Das ist von der Autorin sicher auch so gewollt. Es verengt meines Erachtens nur eben auch den Horizont, und das kann den Eindruck hinterlassen, es fehle etwas, gerade weil im Persönlich-Individuellen auch wenig sicheres Wissen vorhanden ist. Für mich ist es kein Mangel, wenn das sichere Wissen in einer Geschichte fehlt. Ich liebe ja auch unzuverlässige Erzähler (was S. Schenk meiner Meinung nach nicht ist). Und wenn Wissen, das wir mitbringen, mit Leben gefüllt wird, mit einer Person, die einerseits Kind ihrer Zeit ist und andererseits aber auch ein so individuelles Schicksal erleiden musste und gleichzeitig lückenhaft dargestellt wird, dann füge ich als Leserin sehr gerne alles zusammen und bekomme so ein Bild, das ich teilweise selbst erschaffen durfte, was mich persönlich viel mehr befriedigt, als wenn mir eine Geschichte wie eine Fotografie vorgelegt würde, auf der schon alles vorhanden ist, was die Autorin beabsichtigt hat. vor 9 Stunden schrieb Christa: Im Nachhinein scheint für mich das Thema des Romans das zu sein: Über Generationen hinweg wiederholen sich bestimmte, manchmal fatale Familienmuster. Die werden an die jeweils nachfolgende Generation weitergegeben. Bei den Allein-Kapiteln war mir nicht mehr klar, was das mit dem Übrigen zu tun hatte, und ich musste zurückblättern, um es einordnen zu können. Das letzte Kapitel hatte mich dann wieder versöhnt, weil die Erzählerin erkannte, wer sie war, und weil sie irgendwie "bei sich" war. So sehe ich das auch. Für mich sind diese ungewollten Kinder die Klammer, und das eine Kind, die Urenkelin von Cecile, die gerade ein unerwünschtes Kind geboren hat und daran stirbt, löst die Klammer auf und zeigt eine positive Entwicklung innerhalb dieser Reihe an. 1 Karin Koch Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
BarbaraS Geschrieben 14. November 2023 Teilen Geschrieben 14. November 2023 Am 13.11.2023 um 09:51 schrieb AndreasG: Mit "unbestimmt" meinte ich nicht, dass einem nicht klar würde, wie lieblos, frauenfeindlich, ungerecht diese Zeit war. Das wird sehr wohl klar, da hast du recht. Doch die Erzählerin knüpft hier an Wissen an, das wir mitbringen: "Das war damals eben so" und bleibt überwiegend beim Persönlich-Individuellen. Das soll erst einmal keine Kritik sein. Das ist von der Autorin sicher auch so gewollt. Es verengt meines Erachtens nur eben auch den Horizont, und das kann den Eindruck hinterlassen, es fehle etwas, gerade weil im Persönlich-Individuellen auch wenig sicheres Wissen vorhanden ist. Ja, ich glaube, das ist einer der Gründe für meine leise Unzufriedenheit. Wobei wir ja in den Passagen über Célines Lebensumstände und über Renées Kindheit durchaus einiges über die gesellschaftlichen Hintergründe erfahren. Aber wo es um Renée als Erwachsene geht, empfinde ich die Bezüge zu der Welt, in der das Ganze spielt, tatsächlich als sehr dünn. Da kommt mal der Klassendünkel der Schwiegereltern vor, mal Kollaboration und Résistance während der deutschen Besatzung, aber das wird alles nur gestreift, es bleibt am Rande. Wichtig scheint vielmehr das Individuelle, Private: die spitzen Bemerkungen der einen oder anderen Cousine, die Liebes(?)-Geschichte mit Arnaud, der gescheiterte Ausbruchsversuch Renées. Was mich vermutlich gar nicht stören würden, wenn nicht auch dieses Zentrum des Romans so dünn besetzt wäre. Renée ist mir am Ende des Romans so fremd und undurchschaubar wie am Anfang. Die Suche der Ich-Erzählerin führt nirgendwo so recht hin. Die lockere Struktur des Romans, auf die jueb hinweist, bietet zwar all diesen Fragmenten und Streiflichtern eine Heimat, aber ein Ganzes entsteht für mich nicht. Erst recht kein Ganzes, das etwas Zwingendes oder Eindrückliches hätte. So gern ich den Roman gelesen habe und sehr ich vieles daran mag, für mich bleibt letztlich die Frage, warum mich das alles interessieren soll. Die "Allein"-Kapitel, über die wir schon mehrfach gesprochen haben, lese ich inzwischen auch als Versuch, eine Klammer zu schließen, aber ausgerechnet Renée fällt doch aus dieser Klammer heraus, weil sie ihre Kinder ganz konventionell innerhalb einer Ehe bekommen hat. 1 Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
AnnaW Geschrieben 15. November 2023 Teilen Geschrieben 15. November 2023 Interessant. Barbara, ich stimme dir zu, es bleibt die Frage nach dem Warum. Für mich auch ein bisschen die Frage, warum macht die Erzählerin sich überhaupt auf die Suche, wenn sie außer Schweigen am Ende nichts entdeckt. Es fehlt ein Erkenntnismoment, so ein erkenntnishaftes Aufblitzen, mit dem sich alles schließt. Die Weiterführung durch die schwangeren Frauen am Ende empfand ich auch etwas konstruiert. Gleichzeitig glaube ich immer noch, dass das das Thema ist, und dass sich hier auch die Erzählerin wiederfindet. Eine Zufälligkeit von familiärer Verbindung, die gleichzeitig sehr ausweglos scheint. Mich hätte sehr interessiert, wie weit Renée sich durch ihre Pflegemutter, die sehr bemüht und durchaus liebevoll geschildert wird, verändert, welche Spuren das in ihr hinterlässt. Man erfährt es nicht. Man erfährt überhaupt nichts über sie, was irgendwie aus ihrer Perspektive herrührt. Kein Wunder, wenn es keine Gespräche gegeben hat, wenn sie nichts von sich erzählt hat. (Es erinnert mich ein wenig an meine Großmutter, die auch sehr schweigsam war, und gleichzeitig so viel erlebt hat, dass ich jetzt als Erwachsene wünschte, ich könnte sie nach den Dingen fragen.) Es bleibt eine große Leerstelle - im Nachhinein. Beim Lesen selbst habe ich das nicht bemerkt, da war ich zu fasziniert von den erzählerischen Manövern. Ist dieses Frauenleben vielleicht doch auch generationentypisch - insofern nicht gesprochen wird, die Kinder versorgt, das ja, aber nichts gewollt, sich nicht beschwert, nicht ausgebrochen? Und sich an das gehobene soziale Umfeld, in das man gestellt wird, angepasst wird? 1 Website Anna Instagram Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
AnnaW Geschrieben 15. November 2023 Teilen Geschrieben 15. November 2023 Ich denke gerade, dass es wohl doch das ist: Der Versuch, herauszufinden, wer diese Frau ist, die einem so nah ist und gleichzeitig so fern. Ob es irgendein Geheimnis gibt. Aber siehe da, es gibt kein Geheimnis, nur ein vielleicht, nichts, was bezeugt, verbürgt wäre, in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Ein ganz normales Leben. Vielleicht ist auch das das Thema: Wie wenig man weiß, obwohl man über das Geschichtliche eigentlich so viel weiß, wie sehr ein einzelnes Leben darin doch verschwinden kann. Geboren, gelebt, gestorben. Nicht viel gesagt. 1 Website Anna Instagram Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
KarinKoch Geschrieben 15. November 2023 Teilen Geschrieben 15. November 2023 vor 17 Minuten schrieb AnnaW: Für mich auch ein bisschen die Frage, warum macht die Erzählerin sich überhaupt auf die Suche, wenn sie außer Schweigen am Ende nichts entdeckt. In dem Moment, in dem sich Sylvie Schenk auf die Suche gemacht hat, auf die Suche nach der Geschichte ihrer Mutter, wusste sie ja nicht, was sie finden wird. Womöglich hat sie ja genau das erhofft: Etwas zu finden, das die rätselhafte Verschwiegenheit umfassend erklärt, damit S. Schenk dieses Schweigen und die vielen Leerstellen besser aushalten kann, auch im Nachhinein noch. Aber da ist nicht viel dazugekommen, jedenfalls nicht viel Konkretes. Gerade das hat das Buch für mich zu etwas Besonderem gemacht: Diese Zumutung an die LeserInnen, dass da nichts gefunden wurde, weil diese Mutter so beharrlich geschwiegen hat. Dass keine Erkenntnis generiert wurde, weil da halt einfach keine war. Wäre es ein Roman könnte man sich ja tatsächlich darüber beschweren, aber die Person, die beschrieben wird, gab es ja tatsächlich, und so war sie halt, und genauso, wie Sylvie Schenk aushalten musste, dass ihr von der eigenen Mutter so wenig mehr entgengebracht wurde als eine verlässlich unzuverlässige Fürsorge, genauso muss ich als Leserin aushalten, dass die Autorin nichts dazugedichtet hat, nur um Erwartungen an Vollständigkeit und Abgeschlossenheit einer Geschichte zu erfüllen. Ich fand diese Zumutung bereichernd. 2 Karin Koch Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
Christa Geschrieben 15. November 2023 Teilen Geschrieben 15. November 2023 vor 3 Stunden schrieb AnnaW: Es fehlt ein Erkenntnismoment, so ein erkenntnishaftes Aufblitzen, mit dem sich alles schließt. Ich kann das alles nachvollziehen, was ihr schreibt. Diese Spurensuche ist eine Suche nach etwas, das einfach nicht da ist und nur mit Phantasien, Erinnerungen und Bildern gefüllt werden kann. Mir fiel noch einmal das Bild von den Maschen ein, die Maman strickte, und sie, die Erzählerin war etwas zwischen diesen Maschen (eine Luftmasche?) Es ist also auch ein Buch über Beziehungslosigkeit - drückt sich in den Abweisungen in den Kapiteln "Allein" aus, auch den wahrscheinlichen Abtreibungen. Hier hatte niemand zu niemand anderem eine Beziehung, nur in der Phantasie. Und doch gab es für mich so ein erkenntnishaftes Aufblitzen. Im Kapitel "Erste Nacht im Chalet"- und komischerweise dachte ich hinterher, das sei das letzte Kapitel und somit eine Art Quintessenz gewesen. Die Ich-Person kommt im Chalet an, setzt sich ans Feuer, an dem Maman immer gesessen hat und strickte. Die Ich-Person hüllt sich in den warmen Morgenmantel der Mutter, erinnert sich an die Wärme der Schwester, die Mutter kommt ihr manchmal vor wie ein ausgestopftes Tier, denkt an eigene Flucht-und Abgrenzungsversuche. Und am Schluss, als sie ihren Kaffee ausgetrunken hat, überlegt sie, dass sie ihre kleine Mutter jetzt in sich hat und ob sich ihre Lippen jetzt nicht genauso bewegen wie die von Maman. Das kann man doppelt interpretieren: Sie ist ihr nahegekommen, fühlt sich aber auch irgendwie wie sie. Also genauso sprachlos, und wie ich oben schon bemerkte, ist die andere Art der Auflösung, des Aufblitzens die: Durch das Schreiben hat sie die Beziehungslosigkeit und die Sprachlosigkeit dieser Generationen überwunden. Und das war es, was mich im Endeffekt so fasziniert hat. 3 Ostseekrimi Mörderische Förde https://tinyurl.com/yy5xgm9j :http://schreibteufelchen-christa.blogspot.com/ Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
ClaudiaB Geschrieben 16. November 2023 Teilen Geschrieben 16. November 2023 (bearbeitet) "Gerade das hat das Buch für mich zu etwas Besonderem gemacht: Diese Zumutung an die LeserInnen, dass da nichts gefunden wurde, weil diese Mutter so beharrlich geschwiegen hat. Dass keine Erkenntnis generiert wurde, weil da halt einfach keine war. Wäre es ein Roman könnte man sich ja tatsächlich darüber beschweren, aber die Person, die beschrieben wird, gab es ja tatsächlich, und so war sie halt, und genauso, wie Sylvie Schenk aushalten musste, dass ihr von der eigenen Mutter so wenig mehr entgengebracht wurde als eine verlässlich unzuverlässige Fürsorge, genauso muss ich als Leserin aushalten, dass die Autorin nichts dazugedichtet hat." Ja, das sehe ich wie Karin (und auch die Interpretation von Christa geht ja in diese Richtung: Das Annehmen der Sprachlosigkeit - und der Empfindungslosigkeit - der Mutter durch die Autorin wird an uns Leserinnen weitergegeben). Insofern finde ich, dass die Konstruktion dieser Geschichte die Bedingung "Form follows Function" erfüllt, in dem sie bei den Lesern eben dieses Bewusstsein oder ein Wahrnehmen dieser Lücke, dieser Leere erzeugt. Über den Zusammenhang mit den "Allein"-Passagen muss ich noch einmal gründlicher nachdenken. Interessant finde ich auch immer, dass bei einer Diskussion über Gelesenes (oder auch Gesehenes/Film/Theaterstück etc) oft von "Befriedigung" die Rede ist. Wir hatten das vor kurzem auch in einer privaten Lese/Diskussionsrunde: Was erwartet man, welche Form einer "Befriedigung" (welches Bedürfnisses) setzt man (unbewusst) voraus, wenn man sich einem Roman/einer Geschichte aussetzt. Was wird da befriedigt oder befriedet: Neugier? Das Bedürfnis, etwas daraus zu lernen, zu erfahren, verändert aus der Lektüre hervorzugehen, etwas zu verstehen, eine gute Zeit mit der Lektüre zu haben, berührt zu werden in jeder Form, ja, eigentlich: belohnt zu werden ... Wäre auch ein spannender Punkt, der ja nicht nur das eigene Lesen, die eigenen bewussten und unbewussten Erwartungen an Bücher betrifft, sondern auch das eigene Schreiben. Und dazu eignet sich gerade dieses Buch vielleicht gut, das uns - so lese ich es jedenfalls - genau diese Spürung des inneren Nichts von Maman (resultierend aus ihrer Lebensgeschichte/frühen Kindheit/der absoluten Unerwünschtheit, die sich nie mehr wettmachen ließ) nahebringt, auch in Form leichter Frustration oder fehlender Befriedigung während oder nach der Lektüre. Bearbeitet 16. November 2023 von ClaudiaB 3 Baronsky&Brendler: Liebe würde helfen Ein Staffelroman Februar 21, Kampa Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
jueb Geschrieben 16. November 2023 Autor Teilen Geschrieben 16. November 2023 (bearbeitet) vor 2 Stunden schrieb ClaudiaB: Ja, das sehe ich wie Karin (und auch die Interpretation von Christa geht ja in diese Richtung: Das Annehmen der Sprachlosigkeit - und der Empfindungslosigkeit - der Mutter durch die Autorin wird an uns Leserinnen weitergegeben). Insofern finde ich, dass die Konstruktion dieser Geschichte die Bedingung "Form follows Function" erfüllt, in dem sie bei den Lesern eben dieses Bewusstsein oder ein Wahrnehmen dieser Lücke, dieser Leere erzeugt. Ich hätte mir allerdings vorstellen können, dass man mir hier noch eine weitaus radikalere Form hätte wählen können, um ein Bewusstsein bzw. die Wahrnehmung von Leere oder Disparatheit bei den Lesern zu erzeugen. Wenn ein schreibender Erkenntnisweg dermaßen in die Enttäuschung führt, müsste dann die Form nicht mehr irritieren, desorientierten? Vielleicht ein einziger mäandernder Lauftext, der den Leser so richtig ins Bodenlose fallen lässt? Stattdessen trägt jedes Kapitel einen Titel. Warum eigentlich? Bearbeitet 16. November 2023 von jueb "Dem von zwei Künstlern geschaffenen Werk wohnt ein Prinzip der Täuschung und Simulation inne." AT "Aus Liebe Stahl. Eine Künstlerehe." Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
KarinKoch Geschrieben 16. November 2023 Teilen Geschrieben 16. November 2023 vor 7 Stunden schrieb jueb: Wenn ein schreibender Erkenntnisweg dermaßen in die Enttäuschung führt, müsste dann die Form nicht mehr irritieren, desorientierten? Ich erkenne bei Sylvie Schenk überhaupt keine Enttäuschung. Ich sehe eine Kontinuität darin, wie sie ihre Mutter annimmt, mit allen Defiziten, wie sie auch annimmt, dass sie ihr nicht im Sterbeprozess näher kommt, nicht im Schreibprozess, denn da ist es wieder: So ist es halt, so war sie halt, so war es damals eben. Da steckt ganz viel vernünftige Abgeklärtheit drin, das schätze ich sehr. 1 Karin Koch Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
AnnaW Geschrieben 16. November 2023 Teilen Geschrieben 16. November 2023 Am 15.11.2023 um 19:06 schrieb KarinKoch: In dem Moment, in dem sich Sylvie Schenk auf die Suche gemacht hat, auf die Suche nach der Geschichte ihrer Mutter, wusste sie ja nicht, was sie finden wird. Womöglich hat sie ja genau das erhofft: Etwas zu finden, das die rätselhafte Verschwiegenheit umfassend erklärt, damit S. Schenk dieses Schweigen und die vielen Leerstellen besser aushalten kann, auch im Nachhinein noch. Aber da ist nicht viel dazugekommen, jedenfalls nicht viel Konkretes. Ja, das war dann auch meine Erkenntnis. Das meinte ich mit meinem zweiten Post, den ich hinter den gesetzt hatte, auf den du dich hier beziehst. 1 Website Anna Instagram Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
BarbaraS Geschrieben 22. November 2023 Teilen Geschrieben 22. November 2023 Am 16.11.2023 um 10:57 schrieb ClaudiaB: Interessant finde ich auch immer, dass bei einer Diskussion über Gelesenes (oder auch Gesehenes/Film/Theaterstück etc) oft von "Befriedigung" die Rede ist. Wir hatten das vor kurzem auch in einer privaten Lese/Diskussionsrunde: Was erwartet man, welche Form einer "Befriedigung" (welches Bedürfnisses) setzt man (unbewusst) voraus, wenn man sich einem Roman/einer Geschichte aussetzt. Was wird da befriedigt oder befriedet: Neugier? Das Bedürfnis, etwas daraus zu lernen, zu erfahren, verändert aus der Lektüre hervorzugehen, etwas zu verstehen, eine gute Zeit mit der Lektüre zu haben, berührt zu werden in jeder Form, ja, eigentlich: belohnt zu werden Da kann ich natürlich nur für mich sprechen, liebe Claudia, aber ich habe etwas anderes gemeint, als ich von Unzufriedenheit geredet habe. Wenn man einen erzählenden Text zu lesen beginnt, stellt man im Hinterkopf doch ständig Vermutungen darüber an, wie es weitergehen wird. Wer ist hier wichtig, was ist hier wichtig, werden die zwei ein Liebespaar oder Totfeinde oder erst das eine und dann das andere, usw. Und ein guter Autor, eine gute Autorin weiß das und arbeitet damit (was natürlich überhaupt nicht heißt, dass sie die Erwartungen erfüllen müssen, das wäre ja langweilig). So entsteht eine Art Dialog zwischen meinen Erwartungen (die sich ständig ändern) und der Geschichte, und genau das empfinde ich als befriedigend. (Auf die Gefahr hin, dass ein paar von euch jetzt "Die immer mit ihrem Saunders" sagen: George Saunders erklärt das in seinem Buch "A Swim in a Pond in the Rain"/"Bei Regen in einem Teich schwimmen" sehr viel besser, als ich es kann, indem er z.B. eine Erzählung von Tschechow häppchenweise durchgeht und nach jeder Seite kurz fragt: Was wissen wir jetzt über die Hauptfigur, was könnte ihr Problem sein, was erwarten wir als nächstes … Sodass man sich selbst beim Lesen beobachtet und miterlebt, wie sich die eigenen Erwartungen verändern, und eben auch sieht, wie Tschechow damit arbeitet.) Aber was ich eigentlich nur sagen will: Bei "Maman" fühle ich mich erst gut mitgenommen, aber irgendwann im Stich gelassen und dann plötzlich mit diesen "Allein"-Kapiteln konfrontiert, zu denen die Geschichte für mich nicht zwingend genug hinführt. Es ist nicht einfach der Wunsch nach mehr Information. 1 Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
ClaudiaB Geschrieben 29. November 2023 Teilen Geschrieben 29. November 2023 (bearbeitet) Die immer mit ihrem Saunders .... den ich auch großartig finde und mit Spannung (und auch einer gewissen Befriedigung) gelesen habe. Ja, kann ich alles nachvollziehen, was du schreibst, liebe Barbara. Wobei in dieser "Live"-Diskussion, auf die ich mich in meinem Post bezogen habe und in der das Wort fiel, auch nicht mit "Befriedigung" der Wunsch nach mehr Information gemeint war, aber egal, sowas kann man vermutlich wirklich besser direkt besprechen. Und wie schön, dass wir uns kürzlich in M. gesehen haben und über so vieles sprechen konnten (nur nicht über Maman, aber das war ja auch nicht nötig. :)) Ich war und bleibe fasziniert von einem ganz besonderen Aspekt des Buches (über den ich mich ja zu Genüge ausgemehrt habe) - und vermutlich passt für mich zu diesem Aspekt eben auch alles andere. Und an alle: Lasst uns doch ruhig wieder regelmäßig Leserunden hier machen. Liebe Grüße, Claudia Bearbeitet 29. November 2023 von ClaudiaB 3 Baronsky&Brendler: Liebe würde helfen Ein Staffelroman Februar 21, Kampa Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...