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KerstinH

Mal wieder: Personale Perspektiven

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vor 5 Minuten schrieb Wolf:

Aber in der Praxis verschneiden sich diese Ebenen, und es kommt dann nur noch darauf an, ob diese Verschneidung gelingt - wenn, dann ist es große Schreibe -- oder ob die Brüche auffallen. Dann sind es Fehler.
Die Entscheidung, was da auf dem Papier steht, ist aber letztlich immer eine Entscheidung des Autor.

Wir haben also eine Systematik, über die wir uns wahrscheinlich einig sind, und eine Praxis, die sehr viel mit Schreibstil und Erzähltechnikzu tun hat.
Könntet ihr da mitgehen?

Ja.

Und eine solche "große Schreibe" wird dem Autor um so besser gelingen, je mehr er sich der verschiedenen Ebenen bewusst ist.

 

Es gibt keine Regeln, nur sachkundige Entscheidungen. Und sachkundige Entscheidungen könnt ihr nur treffen, wenn ihr euch sachkundig macht.

Elizabeth George

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vor einer Stunde schrieb Wolf:

Aber in der Praxis verschneiden sich diese Ebenen, und es kommt dann nur noch darauf an, ob diese Verschneidung gelingt - wenn, dann ist es große Schreibe -- oder ob die Brüche auffallen. Dann sind es Fehler.
Die Entscheidung, was da auf dem Papier steht, ist aber letztlich immer eine Entscheidung des Autor.

Wir haben also eine Systematik, über die wir uns wahrscheinlich einig sind, und eine Praxis, die sehr viel mit Schreibstil und Erzähltechnikzu tun hat.
Könntet ihr da mitgehen?

Absolut. Ich merke nämlich, dass ich bei den Perspektiven eher intuitiv vorgehe, und dieses Draufschauen von außen und das Auseinanderklamüsern verwirrt mich grade ziemlich. (Wobei sich einige Dinge aber auch klären. :-) ) So muss es Bauchschreibern gehen, die plötzlich plotten sollen … wohingegen ich ohne Plot nicht schreiben könnte.

Bearbeitet von KerstinH
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vor 21 Minuten schrieb KerstinH:

Absolut. Ich merke nämlich, dass ich bei den Perspektiven eher intuitiv vorgehe, und dieses Draufschauen von außen und das Auseinanderklamüsern verwirrt mich grade ziemlich

Das meiste kannst du aber auch erst später bei der Bearbeitung beachten. Nur selten sind Perspektivungenauigkeiten richtig gravierend. Also so, dass sie einen starken Einfluss auf den Text haben.

Außerdem ist das wie Fahrradfahren. :) Wenn man das lange genug macht, beachtet man es irgendwann automatisch.

Es gibt keine Regeln, nur sachkundige Entscheidungen. Und sachkundige Entscheidungen könnt ihr nur treffen, wenn ihr euch sachkundig macht.

Elizabeth George

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vor 3 Stunden schrieb Wolf:

Ich bin völlig Henings Meinung, dass man die unterschiedlichen Ebenen unterscheiden muss.
Da gibt es den Autor mit seinen bewussten oder unbewussten Absichten.
Dann gibt es Figuren, die vom Autor geschaffen werden, aber kein Abbild des Autors sind.
Dann gibt es die Perspektiven des Autors und die der vom Autor erschaffenen Figuren
und es gibt eine oder mehrere Erzählstimmen, die abstrakt innerhalb der Figuren oder unabhängig von ihnen existieren.
Und dann gibt es noch den Aspekt von Distanz und Nähe.

Bis zu diesem Punkt gehe ich konform mit dem, was oben gesagt wurde.
Aber in der Praxis verschneiden sich diese Ebenen, und es kommt dann nur noch darauf an, ob diese Verschneidung gelingt - wenn, dann ist es große Schreibe -- oder ob die Brüche auffallen. Dann sind es Fehler.
Die Entscheidung, was da auf dem Papier steht, ist aber letztlich immer eine Entscheidung des Autor.

Wir haben also eine Systematik, über die wir uns wahrscheinlich einig sind, und eine Praxis, die sehr viel mit Schreibstil und Erzähltechnikzu tun hat.
Könntet ihr da mitgehen?

Ja, kann ich, weil es klar ist. Das mit der Entscheidungsfreiheit bei den Perspektiven hat mich nämlich auch verwirrt,

 

vor 3 Stunden schrieb HenningS:

Oft kann man darauf verzichten. Mein Lehrbeispiel ist immer:

Ein Paar fährt zu einer Party. Der Mann hat Zahnschmerzen. Die Frau sagt: "Zum Glück ist mein Bruder Zahnarzt. Der kann sich deinen Zahn ja mal ansehen." Das ist eindeutig für den Leser gesprochen.

Eleganter wäre, die Frau sagen zu lassen: "Mein Bruder kann sich deinen Zahn ja mal ansehen." Dass der Bruder sich mit sowas auskennt (und wahrscheinlich Zahnarzt ist), folgert aus der Aussage der Frau. Ansonsten wäre es sinnlos, dass sie den Bruder nennt.

----------------

Und zum "seitenlangen Monolog": In seinem Roman "der Schwarm" gibt Schätzing meiner Erinnerung nach drei Seiten lang Infos über unterseeische Würmer wieder, die sich in irgendeinen tief unter Wasser gelegenen Abhang fressen. -- Da hatte ich das Gefühl, er hätte einen Wikipedia-Artikel in seinen Roman hineinkopiert.

Das mit dem Zahnarzt-Bruder muss ja nicht geschehen, weil der Mann ja weiß, dass er Zahnarzt ist-ergibt sich aus dem Kontext. Das Infodumping von Schätzing hat mich schon in der Mitte des Romans überfordert.

Noch was zu deinem "Das Schreiben verlernt man nicht wie auch das Fahrradfahren nicht und zum "intuitiv": Ich wusste von Anfang an, welche perspektiven ich wählen würde, weil mein damaliger Agent u.a. zu mir sagte: Bleiben Sie immer im Kopf Ihrer Figuren -und daran hatte ich mich bei meinen beiden ersten Romanen auch schon gehalten, bevor der Agent auftauchte. Warum habe ich das gemacht? Ich glaube, weil ich sehr viel gelesen habe und mir das am besten gefiel und hängengeblieben ist. Die auktoriale Perspektive habe ich immer als "ja, das waren die Altvorderen" gelesen und so akzeptiert. Nach vielen veröffentlichten und zwei unveröffentlichten Büchern scheint es mir, als hätte ich das "intuitiv richtig gemacht, ohne das es mir voll bewusst gewesen wäre. Was ich jetzt auch noch weiß: 

Wie im richtigen Leben ist auch beim Schreiben zu viel, was zu viel ist, egal ob  zu viel Infodumping, zu viel Perspektivenwechsel (Verwirrung), zu viel Beschreibungen, zu viele Dialoge, zu viele Monologe und Gedankenreden -die Mischung machts und das ist mir am liebsten!

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vor 12 Stunden schrieb Christa:

Nach vielen veröffentlichten und zwei unveröffentlichten Büchern scheint es mir, als hätte ich das "intuitiv richtig gemacht, ohne das es mir voll bewusst gewesen wäre.

In meinem Unterricht habe ich immer wieder Leute, die noch nie geschrieben haben und dennoch das meiste richtig machen. Die haben oft sehr viel gelesen. Und dabei nehmen sie natürlich unbewusst Strukturen wahr, die sie später, wenn sie selbst schreiben, anwenden können.

Es gibt keine Regeln, nur sachkundige Entscheidungen. Und sachkundige Entscheidungen könnt ihr nur treffen, wenn ihr euch sachkundig macht.

Elizabeth George

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Da wir hier auch kurz über den unzuverlässigen Erzähler gesprochen haben, habe ich ein wenig darüber recherchiert.

Agatha Christie ist offenbar durch ihren Roman "Alibi" zu Weltruhm gelangt. Hier etwas gekürzt, was Wikipedia darüber schreibt:

Er wird ausschließlich aus der Ich-Perspektive von Dr. James Sheppard erzählt, der im Laufe der Ermittlungen Poirots Assistent wird. (...)

Das Buch endet mit einer beispiellosen Wendung der Handlung: Nachdem Poirot alle anderen von Verdächtigungen freisprechen kann, bleibt als Letzter nur noch Dr. Sheppard übrig, der nicht nur der Assistent von Poirot ist, sondern auch der Ich-Erzähler des Romans. Dies war eine bis dahin noch nie gewählte Perspektive.

Aus Sheppards letzten Eintragungen in seinem Tagebuch erfährt man dann die Wahrheit – dieses letzte Kapitel ist nicht nur sein Geständnis, sondern auch sein Abschiedsbrief. Sein Motiv: Er war der Erpresser von Mrs. Ferrars gewesen. Ihr Verlobter Ackroyd musste sterben, damit Sheppard nicht auffliegt. Am Ende kündigt der Täter seinen Selbstmord an.

Es gibt keine Regeln, nur sachkundige Entscheidungen. Und sachkundige Entscheidungen könnt ihr nur treffen, wenn ihr euch sachkundig macht.

Elizabeth George

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vor 19 Stunden schrieb HenningS:

Nein, ich meine tatsächlich den Leser, der ja meist der Adressat des Ich-Erzählers ist. Der Ich-Erzähler kann den Leser anlügen. Das gibt der Autorin interessante Möglichkeiten. Siehe dazu untenstehenden Artikel.

https://de.wikipedia.org/wiki/Unzuverlässiges_Erzählen

Wenn ein Autor einen unzuverlässigen Erzähler einsetzt, der mich bewusst anlügt, wäre der bei mir unten durch.

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Der Schlüssel liegt in dem Wort bewusst. Bewusst darf er das nicht tun, dh. der Ich-Erzähler sollte nicht wissen, dass das, was er erzählt, nicht die Wahrheit ist. Insofern ist anlügen eine unglückliche Wortwahl, denn (an)lügen impliziert beim Erzählenden das Erkennen der Distanz zwischen dem Erzählten und den wirklichen Gegebenheiten.

Wir hatten das schon mal ziemlich ausführlich in diesem Thread: 

 

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Lügen ist aber doch immer ein bewusster Vorgang. Deshalb bleibe ich bei der Ansicht, dass ein Ich-Erzähler gerne andere Figuren anlügen darf, aber nicht den Leser. Die Figur darf einem Irrtum unterliegen, ja, aber dann lügt sie nicht, sondern sie glaubt, dass es die Wahrheit ist.

Bei Alibi lügt der Ich-Erzähler auch nicht den Leser an. Hier ist es so, wie ich weiter vorn geschrieben habe. Der Autor legt den Fokus fest und verheimlicht dem Leser dadurch etwas.

Bearbeitet von Sabine
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vor 9 Minuten schrieb Sabine:

Lügen ist aber doch immer ein bewusster Vorgang. Deshalb bleibe ich bei der Ansicht, dass ein Ich-Erzähler gerne andere Figuren anlügen darf, aber nicht den Leser. Die Figur darf einem Irrtum unterliegen, ja, aber dann lügt sie nicht, sondern sie glaubt, dass es die Wahrheit ist.

Das schreibe ich ja oben. Lügen heißt, jemand kennt den Unterschied zwischen dem, was er erzählt, und dem, was Tatsache ist. Deswegen darf der unzuverlässige Erzähler nicht wissen, dass er nicht die Wahrheit erzählt, sondern muss aus irgendwelchen Gründen (psychische Zustände, Träume ...) die Dinge falsch wahrnehmen. Und deswegen ist "anlügen" in dem Zusammenhang keine gute Wortwahl.

Bearbeitet von KerstinH
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vor 1 Minute schrieb KerstinH:

Das schreibe ich ja oben. Lügen heißt, jemand kennt den Unterschied zwischen dem, was er erzählt, und dem, was Tatsache ist. Deswegen darf der unzuverlässige Erzähler nicht wissen, dass er nicht die Wahrheit erzählt, sondern muss aus irgendwelchen Gründen (psychische Zustände, Träume ...) die Dinge falsch wahrnehmen.

Ja, ich stimme dir ja zu. 
Lügen ist, wie du sagst, das falsche Wort. Vielleicht meint Henning was anderes damit.

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Dass ein PE sich irrt, ist ein ganz spannender Aspekt, mit dem ich mal gerne herumgespielt habe. Dadurch wird der Leser auf eine falsche Fährte gelockt, und man kann auf diese Art überraschende Twists vorbereiten. Aber da muss man Einiges an Vorarbeit leisten, damit nicht der "deus ex machina"-Effekt  auftritt und alles zunichte macht. Denn nichts hassen Leser mehr als plötzliche Zufälle und Beliebigkeiten.

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Sebastian Niedlich
vor 2 Stunden schrieb Sabine:

Wenn ein Autor einen unzuverlässigen Erzähler einsetzt, der mich bewusst anlügt, wäre der bei mir unten durch.

Warum? Das ist doch ein legitimes Mittel. Nicht, dass es dir gefallen muss, aber grundsätzlich spricht doch erstmal nichts dagegen.

EDIT: Und damit meine ich natürlich nichts so Plumpes wie am Ende zu sagen: "Ätsch, ich hab die ganze Zeit gelogen!" Ich denke da mehr an so etwas wie "Die üblichen Verdächtigen".

Bearbeitet von Sebastian Niedlich
Klarheit
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vor 18 Minuten schrieb Wolf:

Dass ein PE sich irrt, ist ein ganz spannender Aspekt, mit dem ich mal gerne herumgespielt habe. Dadurch wird der Leser auf eine falsche Fährte gelockt, und man kann auf diese Art überraschende Twists vorbereiten. Aber da muss man Einiges an Vorarbeit leisten, damit nicht der "deus ex machina"-Effekt  auftritt und alles zunichte macht. Denn nichts hassen Leser mehr als plötzliche Zufälle und Beliebigkeiten.

Das sehe ich auch als ganz wichtig an. Ein unzuverlässiger Erzähler muss ja auch in sich stimmig sein, d. h. er hinterlässt Spuren, die man zumindest im Nachhinein deuten kann: "Ah, da hätte ich es mir schon denken können." Das Lügen oder Täuschen ist Teil seines Charakters und darf nicht nur ein dramaturgischer Effekt daherkommen.

"Wir sind die Wahrheit", Jugendbuch, Dressler Verlag 2020;  Romane bei FISCHER Scherz: "Die im Dunkeln sieht man nicht"; "Die Nachtigall singt nicht mehr"; "Die Zeit der Jäger"

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vor 3 Stunden schrieb Sabine:

Wenn ein Autor einen unzuverlässigen Erzähler einsetzt, der mich bewusst anlügt, wäre der bei mir unten durch.

Bei Agatha Christies oben genanntem Roman "Alibi" hättest du es ja erst auf den letzten Seiten bemerkt.

Aber okay, ob man das in "Alibi" lügen nennen sollte, da will ich mich nicht festlegen. Da ich den Roman nicht gelesen habe, kann ich auch nicht beurteilen, mit welchen Mitteln das geschieht. Zumindest wird der Leser ja vom Ich-Erzähler in die Irre geführt.

Bearbeitet von HenningS

Es gibt keine Regeln, nur sachkundige Entscheidungen. Und sachkundige Entscheidungen könnt ihr nur treffen, wenn ihr euch sachkundig macht.

Elizabeth George

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vor 58 Minuten schrieb Sebastian Niedlich:

Und damit meine ich natürlich nichts so Plumpes wie am Ende zu sagen: "Ätsch, ich hab die ganze Zeit gelogen!" Ich denke da mehr an so etwas wie "Die üblichen Verdächtigen".

Oh ja "Die üblichen Verdächtigen" sind großartig! Zumal sich am Ende alles völlig logisch zusammensetzt.

vor einer Stunde schrieb AndreasG:

Ein unzuverlässiger Erzähler muss ja auch in sich stimmig sein, d. h. er hinterlässt Spuren, die man zumindest im Nachhinein deuten kann: "Ah, da hätte ich es mir schon denken können."

Klar. Einfach nur "April, April!", rufen, und dann war alles vollkommen anders -- das wäre ja sinnlos.

Es gibt keine Regeln, nur sachkundige Entscheidungen. Und sachkundige Entscheidungen könnt ihr nur treffen, wenn ihr euch sachkundig macht.

Elizabeth George

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vor 2 Stunden schrieb Sebastian Niedlich:

Warum? Das ist doch ein legitimes Mittel. Nicht, dass es dir gefallen muss, aber grundsätzlich spricht doch erstmal nichts dagegen.

EDIT: Und damit meine ich natürlich nichts so Plumpes wie am Ende zu sagen: "Ätsch, ich hab die ganze Zeit gelogen!" Ich denke da mehr an so etwas wie "Die üblichen Verdächtigen".

In die üblichen Verdächtigen lügt der Protagonist den Polizisten an, also eine Figur. Wir erfahren als Zuschauer nur, was er ihm erzählt. Das ist wie gesagt was anderes.

 

EDIT: Was übrigens auch legitim ist, ist, wenn der Leser im Vorfeld erfährt, dass das, was die Prota im Roman erzählt, z.B. als Brief verfasst ist. Auch dadurch hat der Leser die faire Chance, dass er hätte drauf kommen können, dass das alles nicht stimmt.

Bearbeitet von Sabine
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vor 21 Minuten schrieb HenningS:

Bei Agatha Christies oben genanntem Roman "Alibi" hättest du es ja erst auf den letzten Seiten bemerkt.

Aber okay, ob man das in "Alibi" lügen nennen sollte, da will ich mich nicht festlegen. Da ich den Roman nicht gelesen habe, kann ich auch nicht beurteilen, mit welchen Mitteln das geschieht. Zumindest wird der Leser ja vom Ich-Erzähler in die Irre geführt.

Er lügt aber kein einziges Mal. Alles, was er erzählt, entspricht der Wahrheit. Indem ich nicht alles auf den Tisch lege, heißt es noch lange nicht, dass ich lüge.

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vor 4 Minuten schrieb Sabine:

Er lügt aber kein einziges Mal. Alles, was er erzählt, entspricht der Wahrheit. Indem ich nicht alles auf den Tisch lege, heißt es noch lange nicht, dass ich lüge.

Das erinnert mich an Szenen, die ich gefühlt schon dutzendmal in amerikanischen Filmen gesehen habe: Es kommt raus, dass jemand seinem Ehepartner etwas verheimlicht hat. Worauf der Ehepartner ruft: Du hast mich jahrelang belogen.

Ich selbst würde Verheimlichen auch nicht als Lüge ansehen. Aber offenbar ist das von Kultur zu Kultur verschieden.

Es gibt keine Regeln, nur sachkundige Entscheidungen. Und sachkundige Entscheidungen könnt ihr nur treffen, wenn ihr euch sachkundig macht.

Elizabeth George

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Gerade eben schrieb HenningS:

Das erinnert mich an Szenen, die ich gefühlt schon dutzendmal in amerikanischen Filmen gesehen habe: Es kommt raus, dass jemand seinem Ehepartner etwas verheimlicht hat. Worauf der Ehepartner ruft: Du hast mich jahrelang belogen.

:s02 Genau das gleiche ist mir auch in den Sinn gekommen, als ich meinen Post verfasst habe.

Drum meinte ich ja, ob du mit lügen vielleicht ja verheimlichen meinst.

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Interessant, dass hier nun doch wieder eine Verwechslung von Erzähler und Figur stattfindet. Wenn der Ich-Erzähler den Leser anlügt - d.h. wenn seine Gedanken und Wahrnehmungen bewusst falsch dargestellt sind - würde ich das, wie Sabine, dem Autor ankreiden. Wenn die in Ich-Perspektive geschriebene Figur lügt, darf sie das nur einer Figur im Buch gegenüber tun. Sobald wir als Leser unmittelbar in ihrem Kopf sind, muss „Wahrheit“ vorherrschen - zumindest das, was sie für die Wahrheit hält.
„Memento“ (der Film) ist da ein gutes Beispiel.

Edit: Genau, die von Sabine genannte Situation eines Briefes ist eine Besonderheit. Da spricht die Person direkt jemanden an, hat also ein direktes Gegenüber - was normalerweise eine Figur im Buch ist, der gegenüber sie durchaus lügen kann - die in Ausnahmefällen aber eben auch der Leser sein kann, der dadurch quasi als Figur in das Buch hineingezogen wird. Das gleiche gilt für Tagebücher. Wenn die Ich-Figur damit rechnet, dass es gefunden und gelesen wird, spricht sie damit jemanden an und kann diese Figur auch bewusst täuschen. Beim normalen Reflektieren von Gedanken in ihrem Kopf - sofern sie geistig gesund ist - geht das aber nicht.

Bearbeitet von KerstinH
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vor 51 Minuten schrieb HenningS:

Ich selbst würde Verheimlichen auch nicht als Lüge ansehen. Aber offenbar ist das von Kultur zu Kultur verschieden.

Desch käme für mich auf die Umstände an. Wenn ich weiß, dass mein Gegenüber aufgrund meines Verschweigens die Situation anders interpretiert (und daraufhin vielleicht sogar Entscheidungen trifft, die er sonst so nie getroffen hätte), kommt das für mich einem Lügen gleich. Also im wahren Leben. Aber auch im Buch käme es auf die jeweiligen Umstände an.

Bearbeitet von KerstinH
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vor 2 Stunden schrieb Sabine:

Drum meinte ich ja, ob du mit lügen vielleicht ja verheimlichen meinst.

Ich bin (in dieser Hinsicht) so streng erzogen worden, dass ich sehr lange verheimlichen als lügen empfunden habe.

vor 2 Stunden schrieb KerstinH:

Interessant, dass hier nun doch wieder eine Verwechslung von Erzähler und Figur stattfindet. Wenn der Ich-Erzähler den Leser anlügt - d.h. wenn seine Gedanken und Wahrnehmungen bewusst falsch dargestellt sind - würde ich das, wie Sabine, dem Autor ankreiden. Wenn die in Ich-Perspektive geschriebene Figur lügt, darf sie das nur einer Figur im Buch gegenüber tun. Sobald wir als Leser in ihrem Kopf sind, muss „Wahrheit“ vorherrschen; zumindest das, was sie für die Wahrheit hält. „Memento“ (der Film) ist da ein gutes Beispiel.

Nun ja, der "Leser" ... Was für eine Ebene ist das überhaupt?

Von experimentellen Ausnahmen abgesehen empfindet die Ich-Figur sich selbst ja nicht als Figur in einem Roman. Sie erzählt ihre Geschichte also auch nicht einem Leser, sondern einem imaginären Zuhörer. Deutlich wird das in Stephen Kings Roman "Dolores". Die ganze Ich-Erzählung besteht ausschließlich aus der Aussage von Dolores in einem Polizeiverhör. Neben der Figur der Ich-Erzählerin gibt es hier also auch die imaginären Figuren der Zuhörer. Die werdem an wenigen Stellen des Romans auch direkt angesprochen.

Insofern kann die Ich-Erzähler-Figur ja nie einen Leser belügen. Sondern nur einen imaginierten Zuhörer. In Brief-Romanen der Adressat der Briefe. In Ausnahmefällen wird natürlich (meist zu Anfang des Buches) der Leser direkt angesprochen: "Lieber Leser, alles, was ich Ihnen hier erzähle, ist wahr ..."

So wie es folgende oben genannte Ebenen der AE gibt: Autor -- Erzählerfigur -- Figuren des Romans

kann man dies auch in Richtung des Lesers erweitert darstellen:

Real existierender Autor -- Erzählerfigur -- Figuren des Romans -- Zuhörerfigur -- Real existierender Leser

----------------

In meinem ersten Roman (Mlonguale und das Land ohne Tod), einem Roman über fiktive Eingeborene, gibt es folgende Ebenen:

1) Fiktiver Ethnologe, der um das Jahr 1900 eine mündlich vorgetragene Geschichte in Kurzschrift mitgeschrieben hat (der Romantext ist diese Mitschrift)

2) Fiktive Eingeborenen-Erzählerin, die um 1900 an einem Lagerfeuer einem fiktiven Publikum aus Eingeborenen die Legende ihrer Volksheldin Mlonguale erzählt.

3) Die erzählte Geschichte Mlonguales, die um 1800 spielt

An mehreren Stellen des Romans werden die fiktiven Zuhörer (Ebene 2) angesprochen: "Wie die Älteren unter euch noch wissen werden, gab es damals den Brauch ..." Auf diese Weise gibt es Dinge, die die fiktiven Zuhörer verstehen (da sie in ihrer Welt spielen). Der reale Leser wird aber manches nicht verstehen -- und das habe ich bewusst so gemacht, damit über dem ganzen eine geheimnisvolle Ebene liegt. In meiner ersten Fassung hatte ich noch vor, Fußnoten (erstellt von dem fiktiven Ethnologen) dazu zu schreiben. Das habe ich aber bei späteren Überarbeitungen gestrichen.

 

Bearbeitet von HenningS

Es gibt keine Regeln, nur sachkundige Entscheidungen. Und sachkundige Entscheidungen könnt ihr nur treffen, wenn ihr euch sachkundig macht.

Elizabeth George

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Ein interessantes Thema. Und wichtiges Thema. 
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass noch unerfahrene schreibenden Menschen die verschiedenen Perspektiven des Erzählens mit einander verwischen. Plötzlich weiß der Ich-Erzähler was sein Gegenüber denkt. Oder es wird plötzlich in einem Satz die Perspektive gewechselt, um dann wieder in die ursprüngliche Perspektive zu rutschen. Diesen Fehler habe ich auch Anfangs gemacht.

Momentan probiere ich mich in meinem Thriller-Projekt an der neutralen Perspektive, szenisches Erzählen. 

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