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HenningS

Ich-Perspektive und Zeiten

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vor 35 Minuten schrieb KerstinH:

Das finde ich (Nähe Hannover) spannend. Sagst du also: Darauf habe ich keine Lust gehabt? oder Dafür habe ich keine Zeit gehabt? Beides wäre Perfekt.

Pi mal Daumen ist es eigentlich so, dass man im Deutschen (für Österreich und Schweiz weiß ich es allerdings nicht) für die gesprochene Sprache das Perfekt bevorzugt, für die geschriebene (also akademischere) Sprache das Präteritum. Ausnahmen vom gesprochenen Perfekt sind das Verb sein - also: Ich war gestern in Hannover, weniger: Ich bin gestern in Hannover gewesen (Da gibt es ganz feine Unterschiede, die diese Wahl bestimmen), außerdem haben: Ich hatte Hunger, weniger: Ich habe Hunger gehabt. Und die Modalverben. Also können, dürfen, müssen usw.: Ich musste das tun, nicht: Ich habe das tun müssen (bzw. die zweite Version mit leicht geänderter Konnotation) oder Ich durfte nicht zum Konzert, nicht: Ich habe nicht zum Konzert gedurft, bzw. Ich durfte leider nicht zum Konzert kommen, nicht: Ich habe leider nicht zum Konzert kommen dürfen (wieder: Ausnahmen bzw. geänderte Intentionen bestätigen die Regel).

Deinen Zusatz, dass ein stärkeres sprachliches Abgleiten ins Präteritum mit aus dem Englischen synchronisierten Filmen und Serien zu tun haben könnte oder auch mit dem Schauen der Originalversion, halte ich für eine gute Erklärung, weil die Zeiten dort ja tatsächlich anders verwendet werden als im Deutschen (Stichwort abgeschlossene vs. bis in die Gegenwart andauernde Handlung) . 

Ist interessant, dass ihr da doch einen Unterschied macht. 

Hier im tiefsten Bayern und auch in Österreich sagen wir tatsächlich:
Darauf habe ich keine Lust gehabt. 
Dafür habe ich keine Zeit gehabt.
Ich bin gestern in Hannover gewesen. Aber auch: Ich war gestern in Hannover.
Ich habe Hunger gehabt. 
Ich habe das tun müssen.
Ich habe leider nicht zum Konzert kommen dürfen.

Bearbeitet von Sabine
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vor 4 Minuten schrieb Sabine:

Hier im tiefsten Bayern und auch in Österreich sagen wir tatsächlich:
Darauf habe ich keine Lust gehabt. 
Dafür habe ich keine Zeit gehabt.
Ich bin gestern in Hannover gewesen.
Ich habe Hunger gehabt. 
Ich habe das tun müssen.
Ich habe leider nicht zum Konzert kommen dürfen.

:o 

Immer diese Extrawürste! ;)

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vor 56 Minuten schrieb VeronikaB:

Ein Bekannter (aus Hannover) sagt zum Beispiel Sätze wie: Da hatte ich keine Lust drauf. Da hatte ich keine Zeit dafür. Bei uns ist es üblich, hier das Perfekt zu verwenden. Bei Kindern und Jugendlichen höre ich allerdings oft das Präteritum und habe das Gefühl, dass sie das in Serien und Filmen aufgeschnappt haben.

Hm, ja, ich glaube, als Norddeutsche würde ich das auch so sagen.

vor 59 Minuten schrieb VeronikaB:

Auch wenn Prosa und die Alltagssprache zwei ganz unterschiedliche Dinge sind, prüfe ich im Geiste oft, wann und ob ich so reden würde. Eine Situation, die mir zu ICH + Präsens eingefallen ist, ist ein Telefonat während ich in der Stadt unterwegs bin. Da würde ich meinem Gesprächspartner Dinge sagen wie: Ich komme gerade an einem verfallenen Haus vorbei. Sieht aus, als wäre es unbewohnt. Nur sitzt da eine Perserkatze hinter dem Fenster im ersten Stock. Denkst du, ich soll klingeln?

Vielleicht ist ja der Vorteil dieser Perspektive, den Leser direkt auf die Reise mitzunehmen zu können, wie in einem Video oder in einem Gespräch am Handy.

Das ist ja sozusagen live, du redest in diesem Telefonat wie der Reporter im Fernsehen, der direkt an der Stelle steht und über das Geschehen berichtet.  Anders wäre es, wenn ich eine Freundin in der Stadt treffe und sage: "Du, mir ist vorhin was Merkwürdiges passiert. Da hat jemand angerufen und behauptet, mein Sohn hätte jemanden bei einem Unfall schwer verletzt und müsste nun eine  bestimmte Summe bezahlen, sonst kommt er ins Gefängnis. Ich habe sofort aufgelegt, denn das ist doch der sogenannte Enkeltrick, oder?" Also nicht etwa: vorhin passierte mir, da rief jemand an, mein Sohn verletzte ... Das ist ja kein direktes Geschehen, über das berichtet wird, sondern ein Bericht über Geschehenes.

Und es ist wohl tatsächlich der Vorteil der Ich-Perspektive Präsens, den Leser, die Leserin viel direkter mitzunehmen.

@Wolf: Das ist interessant mit den Perspektiven, die man in andere Perspektiven umschreibt. Habe ich auch gemacht in einer Kurzgeschichte, wobei die Ich-Präsens-Geschichte dann auch die "hautnahste" war. Das könntest du an einem kurzen Beispiel vielleicht noch erläutern. In einem der erwähnten Romane habe ich die ich-Perspektive später in 3. Person Präsens umgeschrieben, was sehr aufwendig war. Das Ergebnis passte aber besser zum übrigen Text, der im Präteritum geschrieben war. Damit meine ich, dass man verschiedene Perspektiven in Romanen in unterschiedlichen Zeitformen schreiben kann, um sie besser voneinander abzusetzen. Andererseits finde ich verschiedene Ich-Perspektiven, egal ob im Präsens oder Präteritum, in Romanen immer verwirrend.

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In der Schweiz ist das Präteritum zwar bekannt wegen des Standarddeutschen, das man ja lernt und schreibt. Aber es gibt meines Wisses kein schweizerdeutsches Äquivaltent. Man spricht nur im Perfekt: „Wie sind im Kino gewesen“ bzw. „Mir sind im Kino gsi“.

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vor 18 Minuten schrieb Admin:

In der Schweiz ist das Präteritum zwar bekannt wegen des Standarddeutschen, das man ja lernt und schreibt. Aber es gibt meines Wisses kein schweizerdeutsches Äquivaltent. Man spricht nur im Perfekt: „Wie sind im Kino gewesen“ bzw. „Mir sind im Kino gsi“.

Interessant, so höre ich die Schweizer auch sprechen. Obwohl schon lange hier, werde ich niemals schwäbisch sprechen können. Lautmalerisch hört sich das bei uns so an: "Mir send im Kino gwä."

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vor 2 Stunden schrieb VeronikaB:

Auch wenn Prosa und die Alltagssprache zwei ganz unterschiedliche Dinge sind, prüfe ich im Geiste oft, wann und ob ich so reden würde. Eine Situation, die mir zu ICH + Präsens eingefallen ist, ist ein Telefonat während ich in der Stadt unterwegs bin. Da würde ich meinem Gesprächspartner Dinge sagen wie: Ich komme gerade an einem verfallenen Haus vorbei. Sieht aus, als wäre es unbewohnt. Nur sitzt da eine Perserkatze hinter dem Fenster im ersten Stock. Denkst du, ich soll klingeln?

Vielleicht ist ja der Vorteil dieser Perspektive, den Leser direkt auf die Reise mitzunehmen zu können, wie in einem Video oder in einem Gespräch am Handy.

Das ist ein guter Punkt. Bei einem Ich-Erzähler oder einem Allwissenden Erzähler denke ich beim Leser immer einen Erzähler mit, der sich vom Autor unterscheidet. Einen solchen Erzähler denke ich beim Sie/Er-ErzählerIn nicht mit.

Wenn ich eine Ich-Erzählung im Präteritum lese, ist die Wirkung auf mich: Die Ereignisse sind irgendwann früher passiert und JETZT erzählt der Ich-Erzähler sie mir.

Bei einer Ich-Erzählung im Präses dagegen, empfinde ich: Wie kann das Ich mir eine Geschichte erzählen, die gerade JETZT passiert? (Das Handy ist ein gutes Beispiel. Ich empfinde eine Art "magische Übertragung".)

Es gibt keine Regeln, nur sachkundige Entscheidungen. Und sachkundige Entscheidungen könnt ihr nur treffen, wenn ihr euch sachkundig macht.

Elizabeth George

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vor 2 Stunden schrieb KerstinH:

Pi mal Daumen ist es eigentlich so, dass man im Deutschen (für Österreich und Schweiz weiß ich es allerdings nicht) für die gesprochene Sprache das Perfekt bevorzugt, für die geschriebene (also akademischere) Sprache das Präteritum. Ausnahmen vom gesprochenen Perfekt sind das Verb sein - also: Ich war gestern in Hannover, weniger: Ich bin gestern in Hannover gewesen (Da gibt es ganz feine Unterschiede, die diese Wahl bestimmen), außerdem haben: Ich hatte Hunger, weniger: Ich habe Hunger gehabt. Und die Modalverben. Also können, dürfen, müssen usw.: Ich musste das tun, nicht: Ich habe das tun müssen (bzw. die zweite Version mit leicht geänderter Konnotation) oder Ich durfte nicht zum Konzert, nicht: Ich habe nicht zum Konzert gedurft, bzw. Ich durfte leider nicht zum Konzert kommen, nicht: Ich habe leider nicht zum Konzert kommen dürfen (wieder: Ausnahmen bzw. geänderte Intentionen bestätigen die Regel).

Ja, das glaube ich auch. Das hängt wohl mit der "Sprachökonomie" zusammen -- weil man im Alltag versucht, die Sprache so kurz wie möglich zu halten.

Es gibt keine Regeln, nur sachkundige Entscheidungen. Und sachkundige Entscheidungen könnt ihr nur treffen, wenn ihr euch sachkundig macht.

Elizabeth George

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vor 25 Minuten schrieb HenningS:

Bei einer Ich-Erzählung im Präses dagegen, empfinde ich: Wie kann das Ich mir eine Geschichte erzählen, die gerade JETZT passiert? (Das Handy ist ein gutes Beispiel. Ich empfinde eine Art "magische Übertragung".)

Vielleicht darf man sich beim Präsens nicht so auf das Wort „Erzähler“ versteifen. Sondern es eher so sehen: Wenn man ein Buch aufschlägt, schlüpft man in eine Figur und taucht in eine Welt, die gerade jetzt in dem Moment passiert. Man ist also während dem Lesen in der Gegenwart, wie wenn man in einem Traum ist.
Es ist sozusagen eine live erlebbare Geschichte, keine Erzählung.

Bearbeitet von Sabine
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@Sabine und @Christa

Leider kann ich nicht mit entsprechenden Textstellen dienen. Das mit Präsens und Präteritum waren zwei Texte einer Schreibkollegin in meinem ersten und einzigen Schreibkurs, die handwerklich erheblich weiter war als wir anderen damals. Ich erinnere mich noch daran, dass sie uns das sogar erklärt hat, und es uns einleuchtete, aber die Texte selbst sind in alten nicht mehr zugängigen Emails.

Das mit der Ich- und Sie-Perspektive in meinem Kurzroman muss ich aus der Erinnerung beantworten. Mindestens ein Unterschied ist, dass sich die Erzählstimmen unterscheiden.
In der Ich-Perspektive ist der Erzähler die Protagonistin, egal wie nah oder wie entfernt sie gerade über etwas spricht.
In der Sie-Perspektive ist der Erzähler eine weitere Kunststimme vom Autor (oft intuitiv) ausgewählt. Auf keine Fall ist es die Stimme eines Protagonisten, wenn der nicht gerade selber spricht oder denkt. Das geht schon bei der Wortwahl los und hört bei der Satzlänge noch lange nicht auf.

Ich kann mal versuchen, die damalige Kollegin zu kontaktieren, falls es sie noch gibt, will euch aber keine Riesenhoffnung machen.

Liebe Grüße
Wolf.

 

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vor 47 Minuten schrieb Sabine:

Vielleicht darf man sich beim Präsens nicht so auf das Wort „Erzähler“ versteifen. Sondern es eher so sehen: Wenn man ein Buch aufschlägt, schlüpft man in eine Figur und taucht in eine Welt, die gerade jetzt in dem Moment passiert. Man ist also während dem Lesen in der Gegenwart, wie wenn man in einem Traum ist.
Es ist sozusagen eine live erlebbare Geschichte, keine Erzählung.

Ja. Wie man eine Geschichte dechiffriert -- dh im Kopf in Bilder und Gefühle übersetzt --- ist sicherlich auch angelernt. Und insofern individuell verschieden

Es gibt keine Regeln, nur sachkundige Entscheidungen. Und sachkundige Entscheidungen könnt ihr nur treffen, wenn ihr euch sachkundig macht.

Elizabeth George

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vor 10 Minuten schrieb Wolf:


In der Ich-Perspektive ist der Erzähler die Protagonistin, egal wie nah oder wie entfernt sie gerade über etwas spricht.
In der Sie-Perspektive ist der Erzähler eine weitere Kunststimme vom Autor (oft intuitiv) ausgewählt. Auf keine Fall ist es die Stimme eines Protagonisten, wenn der nicht gerade selber spricht oder denkt.

Genau so sehe ich das auch. Schematisch dargestellt:

Ich-Perspektive: Autor -- Ich-Figur -- Leser

Personale Erzählweise: Autor -- Leser

Und es gibt mE einen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Perspektiven: Wenn mir in der Realität eine Person A etwas über sich selbst erzählt -- also wie sie selbst ist und/oder was sie getan hat -- dann empfinde ich das immer als subjektive Aussage. Wenn mir dagegen eine Person B genau das Gleiche über Person A erzählt, empfinde ich die Aussage als viel objektiver/wahrer. Und das gilt mE auch für meine unterschiedliche Wahrnehmung der o.g. Perspektiven

Weiterhin fällt mir ein, dass es ja die Figur des "unzuverlässigen Ich-Erzählers" gibt. Dh im Laufe eines Romans stellt sich raus, dass die Ich-Figur gelogen hat. Das ist bei der Personalen Erzählweise nicht möglich. Zwar kann auch bei der PE der/die AutorIn den Leser belügen, aber dies geschieht auf einer anderen Ebene.

Es gibt keine Regeln, nur sachkundige Entscheidungen. Und sachkundige Entscheidungen könnt ihr nur treffen, wenn ihr euch sachkundig macht.

Elizabeth George

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Zum Thema "unzuverlässiger Erzähler" bin ich gerade auf eine interessante Seite gestoßen:

https://die-schreibtechnikerin.de/literaturwissenschaft-definitionen-modelle/erzaehltheorie/neutraler-erzaehler-unzuverlaessiger-erzaehler/

Es gibt keine Regeln, nur sachkundige Entscheidungen. Und sachkundige Entscheidungen könnt ihr nur treffen, wenn ihr euch sachkundig macht.

Elizabeth George

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vor 8 Stunden schrieb KerstinH:

Sagst du also: Darauf habe ich keine Lust gehabt? oder Dafür habe ich keine Zeit gehabt? Beides wäre Perfekt.

 

Genau so sage ich es ;D Bei uns (Österreich) verwendet man noch dazu im Perfekt bei Verben wie "stehen", "liegen" und "sitzen" sein statt haben: 

Ich bin im Bus gesessen. Ich bin lange in der Warteschlange gestanden. Ich bin noch im Bett gelegen, als er an der Tür geläutet hat. 

Meine Münchner Lektorin sieht das deutlich gelassener, als mein norddeutscher Agent. Mittlerweile achte ich darauf und verwende es in den meisten Fällen richtig.

vor 8 Stunden schrieb KerstinH:

Ausnahmen vom gesprochenen Perfekt sind das Verb sein - also: Ich war gestern in Hannover, weniger: Ich bin gestern in Hannover gewesen (Da gibt es ganz feine Unterschiede, die diese Wahl bestimmen), außerdem haben: Ich hatte Hunger, weniger: Ich habe Hunger gehabt. Und die Modalverben. Also können, dürfen, müssen usw.: Ich musste das tun, nicht: Ich habe das tun müssen (bzw. die zweite Version mit leicht geänderter Konnotation) oder Ich durfte nicht zum Konzert, nicht: Ich habe nicht zum Konzert gedurft, bzw. Ich durfte leider nicht zum Konzert kommen, nicht: Ich habe leider nicht zum Konzert kommen dürfen (wieder: Ausnahmen bzw. geänderte Intentionen bestätigen die Regel).

Siehst du, und bei uns verwenden wir in all diesen Fällen ausnahmslos die zweite Version – auch diejenigen, die so wie ich dialektfrei aufgewachsen sind. Aus Büchern ist mir die bei euch präferierte Variante aber geläufig. Daher zaudere ich bei der direkten Rede immer ein wenig und spreche mir den Satz mehrmals vor.

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vor 19 Stunden schrieb HenningS:

Bei einer Ich-Erzählung im Präses dagegen, empfinde ich: Wie kann das Ich mir eine Geschichte erzählen, die gerade JETZT passiert? (Das Handy ist ein gutes Beispiel. Ich empfinde eine Art "magische Übertragung".)

Für mich hat diese Perspektive was von einer GoPro-Kamera am Helm. Sie zieht den Leser hinein, zwingt ihn fast ein wenig zum Mitmachen. Vielleicht könnte man es auch mit einem Film in einem IMAX-Kino vergleichen. Ich denke, dass sich vor allem eine sehr junge Zielgruppe von einer Ich-Erzählung im Präsens angesprochen fühlt.

Bearbeitet von VeronikaB
Pronomen geändert
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vor 18 Stunden schrieb VeronikaB:

Genau so sage ich es ;D Bei uns (Österreich) verwendet man noch dazu im Perfekt bei Verben wie "stehen", "liegen" und "sitzen" sein statt haben: 

Ich bin im Bus gesessen. Ich bin lange in der Warteschlange gestanden. Ich bin noch im Bett gelegen, als er an der Tür geläutet hat. 

Meine Münchner Lektorin sieht das deutlich gelassener, als mein norddeutscher Agent. Mittlerweile achte ich darauf und verwende es in den meisten Fällen richtig.

Ich habe viele Jahre Comics für einen Schulbuchverlag gezeichnet (Fach Deutsch). Es geht um Verben die mit einem Ort bzw Bewegung im Raum zu tun haben

Verben der Ortsveränderung werden mit "sein" gebildet (bin geflogen, gefahren, gewandert usw)

Verben ohne Ortsveränderung mit "haben" (habe gesessen, gelegen, schweben, stehen usw)

Dabei gibt es Verben bei denen beides geht (Ich habe morgens im See geschwommen, ich bin von einem Ufer zum anderen geschwommen) Hier sind beide o.g. Kontekte möglich

Wie meine Deutsch-Redakteurin mir sagte, gibt es aber auch in Deutschland Regionen, in denen es so gebildet wird wie bei dir in Österreich -- also mit sein

Es gibt keine Regeln, nur sachkundige Entscheidungen. Und sachkundige Entscheidungen könnt ihr nur treffen, wenn ihr euch sachkundig macht.

Elizabeth George

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Am 16.10.2022 um 19:18 schrieb VeronikaB:

Für mich hat diese Perspektive was von einer GoPro-Kamera am Helm. Sie zieht den Leser hinein, zwingt ihn fast ein wenig zum Mitmachen. Vielleicht könnte man es auch mit einem Film in einem IMAX-Kino vergleichen. Ich denke, dass sich vor allem eine sehr junge Zielgruppe von einer Ich-Erzählung im Präsens angesprochen fühlt.

Ich finde die Ich-Perspektive im Präsens oft prätentiös. Etwas zu erleben und im selben Moment zu deuten, funktioniert meines Erachtens nicht. Es empfinde es als eine Form, in der mir als Leserin mehr Nähe übergestülpt wird, als ich möchte. Dass ich das so erlebe, kann aber auch gerade daran liegen, dass es in Büchern bevorzugt wird, die eine jüngere Zielgruppe  ansprechen und in der die Gedankenwelt einfach nicht meine ist. Auf mich wirkt es naiv. In einer Rahmenerzählung, in der das Ich hauptsächlich in der Vergangenheit erzählt, funktioniert die Form dagegen sehr gut.

               Website Anna             Instagram            

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vor 47 Minuten schrieb AnnaW:

Etwas zu erleben und im selben Moment zu deuten, funktioniert meines Erachtens nicht.

Das verstehe ich nicht ganz. Im Roman findet es doch nicht gleichzeitig statt. Erst kommt die Handlung bzw Wahrnehmung und dann der Gedanke bzw die Interpretation. Z.B.: Ich lese im Forum den Satz, den Anna geschrieben hat und frage mich, was sie damit meint. 
Der Leser befindet sich dann doch nur live im Körper des Protagonisten, bekommt alles mit, was er macht, nimmt alles so wahr wie er und liest seine Gedanken, die er dazu hat.

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Interessantes Thema! Zum Präsens in der ersten Person habe ich mir auch schon viele Gedanken gemacht. Und inzwischen weiß ich, warum ich oft so genervt davon bin. 

Das liegt meistens daran, dass  zwar Ich + Präsens verwendet wird, ansonsten aber so geschrieben wird, als befände man sich im Präteritum oder der dritten Person, nämlich mit etwas Abstand zur Beobachtung.

 

Häufiges Beispiel: Als ich in das Zimmer gehe ...
Wie kann ich "als" verwenden, wenn ich es doch gerade JETZT tue? Ich stehe doch nicht hinter mir und beobachte mich!

Anderes häufiges Beispiel: Das ist aber komisch, denke ich.
Ich denke doch nicht, dass ich denke!
Das passiert oft auch mit: sehe ich, entdecke ich oder Ähnlichem. Das alles schafft die Distanz, die man eigentlich in der ersten Person Präsens nicht hat, wenn das "Ich" mitten im Geschehen ist.

GANZ streng genommen dürfte man in der ersten Person Präsens nur Stream of Conciousness schreiben:

Das ist aber komisch! Hm ... Vielleicht ist mein Laptop im anderen Zimmer? ... Nein, ist er nicht ...

Für die bessere Verständlichkeit fügen wir Beschreibungen ein:

Ich suche in jeder Ecke, doch mein Laptop bleibt verschwunden. Komisch ... Ich gehe ins andere Zimmer, aber dort ist er auch nicht. 

Übertrieben nerviges Beispiel:

"Komisch!", denke ich, nachdem ich meinen Laptop nirgendwo finden kann. Als mir einfällt, dass er im anderen Zimmer sein könnte, gehe ich hinüber. Aber dort kann ich ihn auch nirgendwo entdecken.

Für guten Stil ist es  natürlich oft noch mehr Beschreibung als in Beispiel zwei. Das gut zu machen, ist dann die Kunst .... 

(Ich hoffe, Ihr verzeiht mir das dämliche,  sehr plakative Beispiel und den nicht gerade eleganten Stil ...)

Liebe Grüße,
Yvonne

 

www.yvonne-struck.de

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Am 16.10.2022 um 09:26 schrieb Wolf:

Meiner Meinung nach ist es völlig egal. Alles hängt davon ab, was der Autor erreichen möchte ...

Das sehe ich wie Wolf.

Bei meinen (Kinder)Krimis habe ich beides in einem Buch.

Der 11-jährige Felix erzählt im Präteritum. Während der ausgemusterte Polizeihund Rocky, den Felix an der Leine hat, nicht in der Lage ist, zu reflektieren. Er lebt im 'hier und jetzt' und erzählt im Präsens.

"ROCKY, DIE GANGSTER UND ICH oder: Wie Mathe mir das Leben rettete (echt jetzt!)", Kinderbuch ab 9, Magellan, Jan. 2018

"ROCKY, DER BANKRAUB UND ICH oder: Wie mich ein stinkender Turnschuh reich machte (fast!)", Kinderbuch ab 9, Magellan, Jan. 2020

 

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Das ist sogar ein ausgesprochen gutes Beispiel, @Yvonne Struck. Wenn es nicht gekonnt gemacht ist, habe ich mit dem Präsens in der ersten Person genau diese Probleme, die mich immer wieder aus dem Lesefluss reißen. Es fühlt sich stellenweise nicht richtig an. Für innere Monologe hingegen ist diese Kombination perfekt.

Andererseits finde ich es normal und natürlich, dass sich die Lesegewohnheiten verändern. Ich erwarte nicht, dass sich Jugendliche von der gleichen Art von Text angezogen fühlen wie ich. Ganz im Gegenteil – alles, was junge Leute zum Lesen bringt ist mir recht.

Bearbeitet von VeronikaB
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vor 2 Stunden schrieb Yvonne Struck:

Häufiges Beispiel: Als ich in das Zimmer gehe ...
Wie kann ich "als" verwenden, wenn ich es doch gerade JETZT tue? Ich stehe doch nicht hinter mir und beobachte mich!

Nur eine rein grammatische Einwerfung: Als (als Konjunktion oder Subjunktor) kann entweder als Zeichen von Gleichzeitigkeit benutzt werden, also wie während: Während ich in das Zimmer gehe, passiert dies und das, kommt mir vielleicht mein Bruder entgegen. Oder als Ausdruck einer (hier unmittelbaren) Vorzeitigkeit, also: Unmittelbar nachdem ich das Zimmer betreten habe … Deswegen würde ich die generelle Kritik nicht am als festmachen. Ich glaube, das gewählte Verb in deinem Beispiel trägt ein bisschen zur Verwirrung bei. Wenn ich schreibe: Als ich in das Zimmer komme … funktionieren sowohl Gleichzeitigkeit als auch unmittelbare Vorzeitigkeit.

Bearbeitet von KerstinH
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Am 22.10.2022 um 19:30 schrieb Sabine:

Das verstehe ich nicht ganz. Im Roman findet es doch nicht gleichzeitig statt. Erst kommt die Handlung bzw Wahrnehmung und dann der Gedanke bzw die Interpretation. Z.B.: Ich lese im Forum den Satz, den Anna geschrieben hat und frage mich, was sie damit meint. 
Der Leser befindet sich dann doch nur live im Körper des Protagonisten, bekommt alles mit, was er macht, nimmt alles so wahr wie er und liest seine Gedanken, die er dazu hat.

Ich meinte es ähnlich, wie Yvonne schrieb, dass Handlung und anschließende Deutung das Ganze für mich künstlich wirken lassen. Ich denke ja nicht, während ich handel, und erst nicht in Begriffen und Sätzen, höchstens in Impulsen. Die Einordnung kommt später. Zumindest bei einer hohen Handlungsdichte oder bei Alltagshandlungen. Es kommt mir dann vor, als sei es für die Leserin erzählt, da gibt es eine Reflexionsebene, die mir unangenehm ist. Vielleicht, weil das so eine dauernde Selbstbeobachtung ist.

               Website Anna             Instagram            

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vor 6 Minuten schrieb AnnaW:

Ich meinte es ähnlich, wie Yvonne schrieb, dass Handlung und anschließende Deutung das Ganze für mich künstlich wirken lassen. Ich denke ja nicht, während ich handel, und erst nicht in Begriffen und Sätzen, höchstens in Impulsen. Die Einordnung kommt später. Zumindest bei einer hohen Handlungsdichte oder bei Alltagshandlungen. Es kommt mir dann vor, als sei es für die Leserin erzählt, da gibt es eine Reflexionsebene, die mir unangenehm ist. Vielleicht, weil das so eine dauernde Selbstbeobachtung ist.

Verstehe. Darüber mache ich mir beim Lesen zum Glück keine Gedanken. Sonst würde ich mir wahrscheinlich auch Gedanken machen, wie es sein kann, dass sich ein Ich-Erzähler im Präteritum nach all der Zeit noch so detailliert daran erinnern kann, was er in den einzelnen Situationen getan und gedacht hat. Sofern es szenisch erzählt ist.
Aber zumindest verstehe ich jetzt, was einige Leser an Ich-Perspektive im Präsens stört. Danke!

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Am 23.10.2022 um 09:19 schrieb Yvonne Struck:

GANZ streng genommen dürfte man in der ersten Person Präsens nur Stream of Conciousness schreiben:

Das ist aber komisch! Hm ... Vielleicht ist mein Laptop im anderen Zimmer? ... Nein, ist er nicht ...

(...)

"Komisch!", denke ich, nachdem ich meinen Laptop nirgendwo finden kann. Als mir einfällt, dass er im anderen Zimmer sein könnte, gehe ich hinüber. Aber dort kann ich ihn auch nirgendwo entdecken.

An Stream of Conciousness habe ich an dieser Stelle auch gedacht.

Und zu deinem Beispiel: Jede Perspektive hat beim Schreiben gewisse Probleme. Die Verben der Wahrnehmung möglichst meiden. Eher zeigen als erzählen. Zugleich noch Inhalte transportieren. Und so weiter ... Da muss ich zwischen den verschiedenen Anforderungen Kompromisse machen, und wie ich mich dann entscheide, ist sicherlich auch Geschmacksache.

Es gibt keine Regeln, nur sachkundige Entscheidungen. Und sachkundige Entscheidungen könnt ihr nur treffen, wenn ihr euch sachkundig macht.

Elizabeth George

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