Zwischen den Seiten

[HenningS]

Liebe Montis,

beim Rumstöbern fand ich vorhin diesen kurzen Text, der sich mit unserem Metier beschäftigt. Vielleicht gefällt er euch ja ...

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Zwischen den Seiten

Henning Schöttke

Dort, wo die Worte warten im Buch, wo es in der klemmenden Enge zwischen den Seiten keinen Zwischenraum gibt, da ist es nicht einfach nur dunkel. Da ist es vollkommen schwarz. Und die Worte, Gebilde aus Linien und Bögen, warten geduldig in ihrer tintenschwarzen Finsternis, im Buch, im Regal. Tage, Wochen. Sie warten und warten.

Doch irgendwann endlich: Nach Monaten, Jahren, Jahrzehnten vielleicht, da raschelt Papier. Deine Finger wenden Seiten um. Dann dämmert im Dunkel ein schummriger Schein durch die Blätter, fast unsichtbar noch, doch mit jedem Umschlagen einer weiteren Seite wird es heller. Noch heller. Heller. Ein letztes Blättern – und es wird Licht.

Jetzt haben die Worte ihren Auftritt. Im vollen Schein stehen sie vor dir auf der Seitenbühne, bereit – ihren Zauber zu entfalten. Doch jedes von ihnen erwacht erst in diesem einen Augenblick zum Leben:

Wenn sich Wort und Auge verbinden.

Und während dein Blick weiter huscht und ein Wort nach dem anderen zurücktritt in die Reihe seiner Wortgefährten, fährt dessen Sinn zugleich direkt in dich hinein. Dann werden die Worte zu Booten auf dem Fluss deiner Gedanken, beladen mit Bedeutung formen sie Sätze in dir, formen Bilder. Und mit Hilfe der Bilder Gefühle. Sie rufen Belustigung in dir hervor, Ärger, Verblüffung oder sogar Erkenntnis. Doch ob du den enthaltenen Sinn magst oder nicht, und wie auch immer du ihn weiter denkst, die Worte haben wie Funken deine ersten Gedanken entzündet.

Die Seite schlägt um. Die Worte darauf haben ihre Bestimmung erfüllt. Und auch wenn sie in deinen Gedanken vielleicht noch länger ein Echo finden, die Worte selbst versinken wieder zwischen den Seiten in enger Dunkelheit, in unendlicher lichtloser Schwärze. Dort stehen sie weiter und warten wieder geduldig.