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AlfL

Protagonistenwissen vs. Spannung & Wahrheit

Empfohlene Beiträge

Hallo alle!

 

Folgendes Problem ist bei meinem aktuellen Lektorat aufgetaucht. In meinem Text (der aus der Perspektive des Protagonisten erzählt wird, also m.M.n. mittels eines Personalen Erzählers) gibt es eine Stelle mit einem Sachverhalt, die ich dem Leser bewusst verschweige, um ihm bis zur Auflösung im Dunkeln und die Spannung hoch zu halten.

 

Theoretisches Beispiel (Erzählung aus Jims Perspektive!): "Jim ging in die Küche, griff sich etwas vom Thresen und kam zu John zurück. 'Okay, wir können', murmelte er und lief weiter zur Tür."

 

Hier meint meine Lektorin, ich müsse bereits in dieser Szene dem Leser zwingend mitteilen, was Jim da aus der Küche geholt hat, weil wir uns ja in seiner Erzählperspektive befänden. Ich hingegen würde das gerne noch 10 Seiten für mich behalten. Wer hat recht?

 

Danke für Eure Expertisen und viele Grüße

 

 

Alf

"Man muss noch Chaos in sich haben,

um einen tanzenden Stern zu gebären."

Friedrich Nietzsche

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Lieber Alf,

 

ich sehe überhaupt kein Problem darin, dem Leser das Wissen vorzuenthalten. Genauso wie du ja nicht alles erzählst, was der Prota sieht, hört, riecht, fühlt etc. Du als Autor wählst ja quasi immer aus, je nachdem, was die Geschichte gerade braucht. Die Meinung der Lektorin kann ich in keiner Weise nachvollziehen.

 

LG Cornelia

 

Edit: Vielleicht kannst du das etwas entschärfen - und damit deiner Lektorin entgegenkommen - indem du nur schreibst, "ging noch einmal in die Küche"....

 

Oder du verpackst es in wörtlicher Rede: "Ich muss nur noch mal schnell in die Küche, dann können wir."

Bearbeitet von CorneliaL
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Dem Leser etwas vorzuenthalten, was dann später einen Effekt auslösen kann, gehört ja zu den wichtigsten Kniffen unserer Kunst. Trotzdem würde ich Deiner Lektorin Recht geben. Denn wenn Du schreibst "Er griff sich ETWAS" kann sich der Leser schon denken, wo die Reise hingeht. Du könntest es vielleicht anders beschreiben oder buchstäblich verpacken: Vielleicht liegt dieses Etwas in einer Schachtel? Oder er greift nach einem Stapel Buntstifte und das Etwas steckt dazwischen? Wie auch immer: Es sollte schon so beschrieben werden, wie der Protagonist es sieht. Aber nicht alles ist auf den ersten Blick sichtbar.

Sagt Abraham zu Bebraham: Kann ich mal dein Cebraham?

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Hallo Alf,

 

sehe ich ganz genauso wie Dirk. Die Sache selbst dem Leser vorzuenthalten, macht einen Teil der Spannung aus. Aber vielleicht solltest du es nur ein bisschen anders als "etwas" verpacken - wie, das weißt du selbst sicher am besten.

 

Liebe Grüße

Inez

Rebel Sisters 1: Die Pilotin (Lübbe, Juli 2024)

www.inez-corbi.de

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Ich vermute, wenn Du in Jims Perspektive bist, liegt der Fehler darin, dass Jim selbst nicht "etwas" denken würde. Vor allem, wenn es sich um einen wichtigen Gegenstand handelt. Wenn Du aber dem Leser vorenthalten möchtest, was das ist, dann müsstest Du ausweichen oder umschreiben. 

 

Oder würde es auch in die entgegengesetzte Richtung funktionieren, also länger darüber schreiben, und den Gegenstand dabei nur andeuten? Was würde Jim wirklich über diesen Gegenstand denken? "Jetzt lag dieses blöde Ding schon drei Wochen in seiner Küche. Wütend stopfte er es sich in seine Hosentasche. Kurz wunderte er sich, dass es wirklich dort hinein passte. Als er zurück bei John war, gelang ihm schon wieder ein neutrales Gesicht. "Wir können", sagte er."

 

Funktioniert nicht, wenn's ums ganze Gewürzregal geht …

Bearbeitet von Hannah Simon

"Felix", FVA 2015,  jetzt als Kindle eBook // Ab 12.7.2021: "Liebe braucht nur zwei Herzen", Penguin Verlag // Sommer 2022: "Wenn dein Herz woanders wohnt", Penguin Verlag

www.judithwilms.com

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Wenn Du glaubst wirklich in Jims Perspektive zu sein, ersetze doch einmal "Jim" durch "ich". Wenn es dir dann merkwürdig vorkommt, stimmt was nicht. In diesem Fall könnte vielleicht ein "und verbarg den Gegenstand in der Hand" oder ähnliches helfen. Es geht doch nur darum, dass John es nicht sieht. Aber selbst dann ist es in der Perrspektive nicht ganz sauber, weil der Leser in Johns Position gedrückt wird, auch wenn aus Jims Perspektive gehandelt wird. Eine gute Lektorin hast du, die so etwas sieht.

 

Meiner Meinung nach ist dieser Satz nicht aus Jims Perspektive geschrieben, sondern aus der Perspektive eines externen Beobachters. Das muss nicht John sein. Ich sehe es also ähnlich wie Hannah.

 

Liebe Grüße

Wolf

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Einer meiner Helden, Alistair MacLean, hat seine ganze Karriere auf Kniffen aufgebaut, dem Leser wichtige Informationen vorzuenthalten (und cirka die Hälfte seiner Romane ist in der Ich-Form geschrieben). Im Zweifelsfall kann man sich die bei ihm abgucken.

 

Die Stelle würde er vielleicht so schreiben:

 

 

Sie waren schon im Aufbruch begriffen, als Jim noch etwas einfiel. "Moment", sagte er. "Ich muss nochmal kurz in die Küche."

Einen Augenblick später war er wieder zurück. John sah ihn fragend an, doch Jim meinte nur: "Okay, wir können."

 

MacLean macht das ganz oft: Er beschreibt alles Mögliche drumherum, aber die Überlegungen, die die Hauptperson anstellt, und die Pläne, die sie sich zurechtlegt, lässt er einfach aus. Man spürt natürlich schon, dass einem was vorenthalten wird, aber das macht es nur umso spannender.

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Lieber Alf

 

Ich mache das (leider) auch oft, dass ich der Leserschaft etwas vorenthalte, weil ich davon ausgehe, dass die Lücke die Spannung erhöht. Meine aktuelle Lektorin mag das jedoch gar nicht und "haut" mir diese Stellen auch regelmässig um die Ohren.

 

Ich fand das am Anfang ätzend, doch sie erklärte es mir folgendermassen: Es ist immer ungünstig, wenn die Perspektivfigur etwas weiß oder denkt und man das dem Leser vorenthält. Das ist, als würde man plötzlich ausgesperrt werden.

 

Natürlich mache ich es immer noch ab und zu, man kann eben nicht aus seiner Haut, aber ihr Argument erscheint mir einleuchtend und ich versuche meine "Lücken" jetzt gezielter einzusetzen. Vielleicht besprichst du es einfach mit ihr und legst ihr deine Argumente dar. Ich würde auf alle Fälle nichts akzeptieren, das dir selbst zuwider ist.

 

 

 

 

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Finde Andreas' Version perfekt.

 

So verschweigt er es nicht extra für den Leser (was ich beim Prota auch schwierig finde), sondern für den anderen.

Da der Leser gerade in der Situation drin ist, kriegt er das halt mit.

 

Was ich oft auch lese, ist, dass sich der Prota an früher erinnert, in Gedanken Geheimnisse o.ä. andeutet - und dann im entscheidenden Moment

(bevor er das Wichtigste gedacht hat) durch irgendwas oder irgendwen unterbrochen wird. Das find ich auch gut.

 

Man sollte m.E. also schon einen Grund vorschieben, warum der Leser das jetzt an der Stelle nicht erfährt.

 

Und auf jeden Fall ist es mir als Leser auch viel lieber, dass etwas angedeutet aber nicht ausgesprochen wird, als wenn gar keine Andeutung kommt -

und am Ende rauskommt, dass der Protagonist dem Leser das Wichtigste "verschwiegen" hat.

Wir hatten ja auch schon mal das Thema, dass sich der Protagonist am Ende als Täter herausstellt. Das muss dann wirklich schon sehr, sehr gut gemacht sein, damit das funktioniert.

Bearbeitet von MichaelT
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Die Stelle würde er vielleicht so schreiben:

 

 

Sie waren schon im Aufbruch begriffen, als Jim noch etwas einfiel. "Moment", sagte er. "Ich muss nochmal kurz in die Küche."

Einen Augenblick später war er wieder zurück. John sah ihn fragend an, doch Jim meinte nur: "Okay, wir können."

Das ist ja genau das, was ich weiter oben schon vorgeschlagen hatte.  ;)

 

LG Cornelia

 

 

 

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Wie erfolgreich man das machen kann, hat Agathe Christie beweisen. Nur, das gewusst wie, macht den Unterschied. Das einfachste ist, einfach auszublenden, wenn du in der Perspektive bist. 

Krimis, Liebe und Mehr.

www.ilonaschmidt.com

Translations, Lektorat & Exposé Coaching

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Ich hatte auch schon mal so eine Unterschlagung im Manuskript. Meine Testleserin hat mir die Stelle auch um die Ohren gehauen. Sie meinte, als Leser käme man sich verarscht vor, wenn meine Protagonisin sichtlich etwas verschweigt.

 

Zwar wird nichts davon zu deinem Fall passen, aber ich hab trotzdem mal überlegt, was man vielleicht machen könnte:

- Ihn den Gegenstand aus einem anderen Grund holen lassen, erst später fällt ihm auf, wozu der Gegenstand noch gut ist

- Die Szene aus der Perspekive einer anderen Figur schreiben

- Ihn erst im letzten Satz eines Kapitels oder Abschnitts einfallen lassen, dass er noch in die Küche muss. Dann in eine neue Szene wechseln, sodass der Leser keine Gelegenheit mehr hat, sich zu fragen, was er in der Küche gemacht hat.

- Den Gegenstand nenen, aber gleichzeitig ein Risiko mit einbauen, das den Leser bangen lässt, z.B.: Wenn mein Freund bemerkt, dass ich den Gegenstand bei mir trage, bin ich geliefert

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Die Neigung von Lesern, sich verarscht zu fühlen, ist extrem unterschiedlich ausgeprägt. Wo der eine das Buch erzürnt an die Wand wirft, jubelt der andere auf und ruft: "Was für eine geniale Wendung!"

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Danke erst einmal für die vielen Anregungen und Vorschläge!

 

Mein Bauchgefühl sagt mir, dass ich ja kein theoretisches Textdenkmal, sondern einen funktionierenden Text erschaffen will. Damit will ich sagen, dass ich natürlich vermeiden möchte, dass sich der Leser veräppelt vorkommt. "Jim ging in die Küche und kam kichernd zurück. "Hi, hi, John, du ahnst nicht, was ich gefunden habe. Der Hammer! Komm wir gehen, ich sag's dir später." Wenn ich das nicht zügig auflöse, dann wird's haarig. Allerdings hat Andreas auch absolut recht: Die Leserensibilität ist recht subjektiv. Von daher: Wie man's macht … Hauptsache gut!

 

Ich versuche mal mein Glück und werde im Text verraten, was mein Prota mitnimmt. Mal schauen, ob ich es spannend hinbekomme.

 

Viele Grüße

 

Alf

"Man muss noch Chaos in sich haben,

um einen tanzenden Stern zu gebären."

Friedrich Nietzsche

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