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Angelika Jo

Ian McEwan. Nussschale

Empfohlene Beiträge

Was ist bloß los mit diesem Hamlet: Wieso kann sich der Mann nie entscheiden, ewig dieses Grübeln und Wägen zwischen Sein oder Nichtsein? Na ja, kein Wunder, er hängt kopfüber in der Fruchtblase einer Frau. Er hört die Welt draußen durch die zahllosen Radiobeiträge und Podcasts, die sich seine Mutter Trudy gelangweilt reinzieht, er kann sich einen Reim auf deren Anblick machen, wenn sein Vater, ein Dichter, das strohblonde Haar seiner Frau besingt, wie es ihr „’in wilden Locken wie lauter Münzen’ auf Schultern ‚weiß wie Apfelblüten’ fällt“, er weiß, in welch wilde Welt er hineingeboren werden soll voller Krieg, Völkerwanderung und Artensterben. Er überlegt, ob er das wirklich will.

 

Was er außerdem weiß: Der Besucher seiner Mutter, dessen erigierter Penis ihm nächtens bedrohlich nahe kommt, die Mutter eine Todeswand der Lust hinauftreibend, ist nicht sein Vater. Sondern dessen Bruder Claude. Der gemeinsam mit der geliebten Mutter, der treulosen Trudy, den Mord an seinem Vater plant. Und da soll man nicht ins Grübeln kommen? Den Tod des Vaters rächen wollen? Aber wie – als Ungeborener? Der sich nolens volens zusammen mit der Mutter täglich mehrere Gläser Sauvignon Blanc genehmigt, bis er – das müssen wir ihm zugestehen – kaum mehr in der Lage ist, Tag und Traum zu unterscheiden. So also reimt sich auch noch der Anblick des toten Geistervaters, sein „süßer Pesthauch von Glykol und madenzerfressenem Fleisch“ zusammen – als kindische Halloween-Phantasie eines besoffenen Fötus. Oder doch nicht?

 

Souverän entnimmt Ian McEwan der klassischen Klamottenkiste Namen und Umstände, entfernt sich vom Vorbild und ist ihm immer wieder ironisch nah, wenn er Claude düster-selbstkritisch darüber räsonnieren lässt, ob der Bruder nicht besser durch Gifttropfen im Ohr gekillt worden wäre, nach dem Vorbild des russischen Geheimdienstes.

 

Hamlet bleibt jedenfalls Hamlet: Erst ganz zuletzt, als es fast schon zu spät ist, greift er ein. Wie – das wird hier natürlich nicht verraten.

 

Angelika

Bearbeitet von Angelika Jo

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

www.angelika-jodl.de

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Souverän entnimmt Ian McEwan der klassischen Klamottenkiste Namen und Umstände, entfernt sich vom Vorbild und ist ihm immer wieder ironisch nah, wenn er Claude düster-selbstkritisch darüber räsonnieren lässt, ob der Bruder nicht besser durch Gifttropfen im Ohr gekillt worden wäre, nach dem Vorbild des russischen Geheimdienstes.

Ich fand das Buch klasse @Angelika Jo

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Hat mir sehr gefallen. Das hier schrieb ich nach der Lektüre:

 

Hamlet im Bauch

 

Der etwas weltfremde, schöngeistige John, Lyriker und erfolgloser Lyrik-Verleger, hat die bildhübsche Trudy geheiratet und geschwängert, aber Trudy hat John vor die eigene Haustür gesetzt, um mit dessen Bruder Claude eine Intrige zu spinnen, an deren Ende der Eigentumsübergang des zwar verfallenden, aber wertvollen Londoner Hauses stehen soll. Da das am einfachsten ist, will man dies via Mord erreichen. Trudy ist recht klug, Claude eher nicht so, doch die klügste Person bei dieser nahezu klassischen Tragikomödie nach Shakespeare-Motiven ist das ungeborene Kind in Trudys Bauch. Dieses Kind, ein Junge, ist der Ich-Erzähler der Geschichte.

 

Ian McEwan ist ein nahezu unübertroffener Stilist, ein vernünftiger Idealist, ein kategorischer Moralist und ein brillanter Romancier. Nur wenigen anderen würde es gelingen, aus der Sicht eines ungeborenen Babys - immerhin kurz vor der Niederkunft - eine Geschichte zu erzählen, die voller Lakonie, Weisheit, Witz und Überraschungen steckt, deren Lektüre überbordenden intelligenten Spaß bereitet, ohne dass man sich als Leser - ab einem gewissen Punkt - noch Gedanken darüber macht oder machen müsste, wie "glaubwürdig" die Grundlagen sind. Das erzählende, spekulierende, nachdenkende, beobachtende Kind weiß, was es weiß, weil es Radio gehört, Podcasts gelauscht und den Gesprächen der Erwachsenen beigewohnt hat, das Kind ist in Sorge über den Zustand der Welt im Allgemeinen und über die Taten jener Erwachsenen im Speziellen, es ist zugleich voller Tatendrang, Wissensdurst und Lebenswillen. Letztlich wird es entscheidend eingreifen und noch vor der eigenen Geburt Mitverantwortung für diesen Planeten voller Verrückter übernehmen.

 

Obwohl es dann doch knapp 280 Seiten sind, kam mir "Nussschale" beim Lesen kürzer vor, weil es kurzweilig ist, die große literarische Vorlage nicht allzu ernst nimmt, sehr spannend daherkommt und die besondere Sichtweise des noch nicht geborenen Protagonisten auf besondere Weise nutzt, um mit dem Zustand der Welt und den Verursachern dieses Zustands abzurechnen. Unterm Strich ein nahezu perfekter Roman.

 

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Unterm Strich ein nahezu perfekter Roman.

ich kann Dir nur in jedem Punkt zustimmen, Tom. Nussschale fand ich ebenfalls sehr beeindruckend und sehr kurzweilig. Beim Lesen des Klappentextes habe ich zuerst allerdings gestutzt. Ein Fötus als Erzähler? Ich dachte mir zuerst: die Kurve kriegst du nicht. Hat er aber. 

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