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BarbaraS

Ein untadeliger Mann – Jane Gardam

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Okay, das mit dem "musste" wäre ein eigenes Thema,  ich meinte das nur immanent: Nach geltendem Recht war ein Todesurteil fällig; und auch da hatten die Richter evtl. mehr Spielräume, als ich mir vorstelle. Aber dies hier sehe ich wirklich anders:

 

 

 

 
Ich verlange auch gar nicht, dass die Autorin ein flammendes Bekenntnis gegen Rassismus ablegt. Ich glaube aber, dass sie in der Tat einen Roman über die Epoche schreiben wollte. Mit einem recht typischen Vertreter der britischen Hoheit über Hongkong. Den hat sie nicht als Klischee, sondern als Individuum gezeichnet, was super gelungen ist. Aber in dem Individuum steckt ein Typ, ich verstehe den ganzen Roman so, dass sie immer wieder sagen will: Seht her, so war das damals, so waren die, meinetwegen: So waren wir. Gut!!

 

Ich glaube wirklich nicht, dass sie über eine Epoche schreiben wollte. Schon deshalb, weil diese Epoche – Kolonialzeit in Hongkong –  im Roman in ganz wenigen kurzen Rückblenden und Dialogen abgehandelt wird. Sie kommt praktisch nicht vor. Von Eddies Kindheit in Malaysia abgesehen spielt die gesamte Handlung in England (und auf einem Schiff), und von Eddies Erwachsenenleben in Asien erleben wir nur den Start: den Hinflug. Wir sehen Eddie als Kind und jungen Erwachsenen – und dann wieder als alten Mann, mit alten Traumata beschäftigt. Für mich ist das ein klares Signal, dass es in dem Roman ums Biographische geht. Um die Geschicke einer ganz bestimmten Gruppe von Menschen, nämlich den Kolonialistenkindern.

 

Im zweiten Roman ist das etwas anders, das stimmt schon; zumindest spielen dort größere Teile der Handlung in Hongkong. Auch da liegt für mich der Schwerpunkt auf dem Biographischen; aber da ist es nicht so gut abzugrenzen.

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Na, ich hab ja nicht gesagt, dass es ein Roman über Hongkong oder Asien ist, liebe Barbara, sondern über das kolonialistische Britannien.

 

Held wird geboren in den Kolonien, dort ein paar Jahre aufgezogen, dann geht er in dem üblichen Kinderzug auf die Heimatinsel in die üblichen miesen Verhältnisse, am langen Arm von einem Vater gegängelt, der aus den Kolonien mit seinem Opium nicht mehr herausfindet, von grausigen Pflegeeltern weiter auf das typische Internat zur Ertüchtigung der jungen Männer (täglich kaltes Duschen gegen eventuelle Schwulitäten und der Mensch, der das anordnete – Sir – ist vergleichsweise sogar noch ein segensreicher); er liest Kipling (!), muss sich in diesem von soldatischen Tugenden geprägten Land demütigen lassen als Stotterer und als einer, der letztlich doch nicht zur Familie der Teppichfabrikbesitzer gehört, fährt im Krieg auf einem Schiff einmal um die halbe Welt (des Empires – jetzt heftig bestritten und beschossen durch die Kriegsgegner), gewinnt dabei den besten Freund seines Lebens  – Frucht einer britisch-chinesischen Beziehung – , wird Wollehalter und Gesellschafter von Queen Mary und letztlich "Anwalt der Krone" in Hongkong. Manchmal, sehr selten, gibt es einen kleinen Ausflug hinaus aus dem Korsett dieses korrekt zusammengeschnürten Mannes, dann vögelt er die verwegene Isobel und stirbt fast vor Schreck, er hätte darüber den Anschluss an die Queen und ihren Zug verpasst. Und am Schluss fährt er zurück in den Osten, um wirklich zu sterben. Vorher hat er diverse Pflichten erledigt, Leute verurteilt, Frau geheiratet, Kondolenzbriefe beantwortet.

 

Ja, klar ist es eine Biografie. Aber wo sonst außerhalb dieses Empire hätte die denn stattfinden können?

Und warum ist es der erste Teil eines als Trilogie angelegten Werks?

 

Herzlich und allerseits Gute Nacht wünschend,

Angelika

Bearbeitet von Angelika Jo

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

www.angelika-jodl.de

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Jetzt verliere ich gerade ein wenig aus den Augen, worüber wir debattieren, liebe Angelika. Klar hätte diese Biographie in keinem anderen Land so stattfinden können. Aber das gilt doch irgendwie für jede Biographie …

Ich hatte dich so verstanden, dass du der Autorin eine affirmative, parteiische, schönfärbende Haltung zur britischen Kolonialzeit in Südostasien vorwirfst. Zugleich zählst du aber selbst auf, wie viel Negatives über diese Zeit erzählt wird: die Opiumsucht des Vaters, der lieblose bis grausame Umgang mit den Kindern.

 

Dann der Punkt mit dem Zusammengeschnürtsein. Klar, bis zur Volljährigkeit ist er dem Willen seines Vaters unterworfen. Aber schon an der erster Schule (bei Sir) finde ich Andeutungen von Befreiung: Es ist auch der Ort, wo er Freunde findet, wo er das Stottern (teilweise) überwindet. Dass er Soldat werden will, ist dann ja geradezu ein Akt der Auflehnung gegen den Vater (der allerdings erst gelingt, als der Vater in Gefangenschaft und vielleicht schon tot ist). Dass er nach Oxford geht und Anwalt wird, ist ein eigenständiger Beschluss. Und dass er mit diesem Entschluss Erfolg hat, verdankt er eben nicht der britischen Obrigkeit, sondern einem chinesischen (oder meinetwegen chinesisch-englischen) Freund, der ihn mit den "Straits-Chinesen" in Kontakt bringt, mit denen er dann so gut zurechtkommt. Ich lese das auch als eine Geschichte einer persönlichen Befreiung. Die allerdings nicht zu einer emotionalen Befreiung führt, da bin ich einverstanden.

 

Ich frage mich gerade, ob hier nicht auch ein Übersetzungsproblem mit im Spiel ist. Du schreibst ja, dass er als "Anwalt der Krone"** in Hongkong tätig ist. Im Original ist er aber "barrister", was schlicht ein Anwalt ist, der vor Gericht auftritt, im Gegensatz zu den "solicitors" (zu denen Albert Ross gehört), die Verträge und Testamente etc. aufsetzen und Mandanten in Rechtsfragen beraten und für allfällige Gerichtsverhandlungen einen geeigneten barrister beauftragen. D.h. Albert Ross und Eddie Feathers waren ein Team, das an zivilrechtlichen Prozessen reich geworden ist. Klar gehören sie damit zu den Profiteuren der damaligen Zeiten, vermutlich sowohl innerhalb als auch außerhalb der britischen Kolonien. (Mit dem Empire war ja schon nicht mehr viel Staat zu machen …) Aber Eddie ist nicht einfach ein ausführendes Organ der Kolonialmacht Großbritannien. Das ist mir zu eindimensional.

 

**Wird er evtl. im zweiten Roman zum "Queen's Council" ernannt? Das weiß ich nicht mehr. Das könnte man dann ja wirklich als "Kronanwalt" übersetzen. Das ist aber meines Wissens ein Ehrentitel, kein eigener Beruf.

Bearbeitet von BarbaraS
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Jetzt verliere ich gerade ein wenig aus den Augen, worüber wir debattieren, liebe Angelika. Klar hätte diese Biographie in keinem anderen Land so stattfinden können. Aber das gilt doch irgendwie für jede Biographie …

Ja und nein, würde ich sagen. Nehmen wir mal – wahllos herausgegriffen – Madame Bovary. Die spielt, realistisch geschrieben wie sie ist, natürlich auch in ihrer speziellen Epoche. Aber da richtet sich das Auge des Autors doch viel weniger auf die politischen Umstände dieser Zeit, auf die Großmacht Frankreich, sondern auf das kulturelle Leben: hysterische Aufklärer hier, immer noch der Romantik verhaftete Unglücksraben dort. 

 

Gardam schaut die ganze Zeit auf die politischen Umstände. Was hat die Kolonialpolitik, was hat der Krieg aus den involvierten Menschen gemacht, was haben die aus den Kolonien und den Menschen da gemacht? Sehr, sehr gut beobachtet und fein geschrieben. So einen Vorwurf :

Ich hatte dich so verstanden, dass du der Autorin eine affirmative, parteiische, schönfärbende Haltung zur britischen Kolonialzeit in Südostasien vorwirfst. Zugleich zählst du aber selbst auf, wie viel Negatives über diese Zeit erzählt wird: die Opiumsucht des Vaters, der lieblose bis grausame Umgang mit den Kindern.

 

 

 
würde ich der Autorin wirklich nicht machen. Schönfärben tut sie gar nichts. Aber die Distanz, wie ich sie angemessen fände, hat sie auch nicht. Guck, dieser von dir zitierte Satz: 
 
"Ich glaube, dass wir der Geschichte fast gar nichts verzeihen sollten."
 
Den sagt ein weise gewordener Feathers zu der jungen Kollegin, die sich lieber mit "der Geschichte" befrieden würde. Insofern ist er hier der kritische Geist. Und weißt du, was ich den beiden sagen würde, wenn ich an ihrer Unterhaltung teilnehmen könnte? "Der Geschichte verzeihen oder nicht verzeihen? Bullshit! Das ist nicht die Geschichte, das waren Leute, die ihre Interessen verfolgt haben!" Sich die Geschichte als waltendes Subjekt vorzustellen, auf die Idee kommt jemand, der sich alles, was so passiert ist, gar nicht mehr anders denken kann denn als Selbstverständlichkeit. Klar, wenn man aus einem Reich kommt, in dem die Sonne nie untergeht ... 
 
Das ist nicht die Hauptsache an diesem Buch, von mir aus wenden wir uns gerne den Kompositionsprinzipien zu.
 
Und gerne auch der Uhr des Vaters. Die spielt eine Riesenrolle (und taucht im 2. Teil wieder auf in einer guten Pointe), oder?
 
Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

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Ich bin erst zur Hälfte durch. Das Buch gefällt mir gut. Dazu zunächst ein paar kleinere Anmerkungen:

 

Da ist die Einführung der Hauptfigur. Die ist ja sehr ausführlich - physisch, charakterlich und auch aus Sicht der Kollegen. Etwas, was man heutzutage in Romanen weniger tut - diese detaillierte Einführung. Dabei hat man den Eindruck, die Autorin hegt besondere Gefühle für die Figur, sie beschreibt den Mann behutsam und fast zärtlich, nah aber auch wieder aus einer gewissen Distanz.

 

Überhaupt werden die Figuren oft aus großer Nähe gezeigt, aber immer nur äußerlich oder in ihrem Verhalten. Ins Innere stößt man nicht vor. Die Sprache (ich lese die englische Originalversion) und die Atmosphäre sind doch sehr britisch. Ein bisschen altmodisch britisch. Was wieder zu der Figur im Alter gut passt. "Stiff upper lip". Gefühle zeigt man lieber nicht. Nicht, dass man sie nicht hat, aber man scheut sich, sie vor anderen auszubreiten, als gehöre es sich irgendwie nicht. Betty stirbt, aber es dauert eine Weile, bis man ahnt, wie sehr sie ihm fehlt, obwohl sie seit 30 Jahren keinen Sex mehr hatten. Überhaupt versteht man die Beziehung in der ersten Hälfte des Buch nicht wirklich. Was hat sie zusammengehalten?

 

Die Zeitsprünge stören mich nicht. Kommen mir beim Lesen ganz natürlich vor, wie die Autorin damit Interesse erweckt und die Vergangenheit langsam entblättert. Ich verstehe, was du mit Freiheit der Autorin meinst, Barbara. Ja, sie erzählt einfach ein bisschen drauflos, mal heute, mal in der Kindheit, wie es einem so einfällt, wenn man mit jemanden plauscht und Erinnerungen austauscht. Irgendwie ungehemmt. So kommt es einem vor. Ich mag auch den feinen Humor. Ich hoffe, der kommt in der Übersetzung gut rüber. Besonders "Sir" hat mir gut gefallen.

 

Aber ich habe ja noch einiges zu lesen. :)

Die Montalban-Reihe, Die Normannen-Saga, Die Wikinger-Trilogie, Bucht der Schmuggler, Land im Sturm, Der Attentäter, Die Kinder von Nebra, Die Mission des Kreuzritters, Der Eiserne Herzog, www.ulfschiewe.de

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Mir verschwimmt auch ein wenig, worüber hier eigentlich debattiert wird, und es ist schwierig, an diesem Punkt in die Diskussion einzusteigen.

Die Erzählstimme nehme ich als distanziert wahr; über die Haltung der Autorin kann ich nur mutmaßen. Warum hat sie diesen ironischen, bisweilen offen spöttischen Blick auf ihre Figuren? Sagt das nicht auch etwas über ihre Haltung zu dem, worüber sie berichtet? Und die politischen Umstände sind so sehr Teil der Biografie - die Zeit von Eddies Jugend, der Hauptteil des Buches spielt zwischen den beiden Weltkriegen - dass sie natürlich als Vordergrund gelesen werden kann,  ohne dass dieses Buch ein Roman über diese Epoche sein muss. Als solchen habe jedenfalls ich ihn nicht gelesen, für mich stehen die biografischen Fragen im Vordergrund, das Leben mit mehr oder weniger Lügen oder Schichten, die um das, was man vielleicht einen Kern der Persönlichkeit nennen könnte, wachsen können oder die man sich wachsen lässt.

Abgesehen spricht doch der Name "Filth" Bände, mir fast zu viel als sprechender Name. Mitnichten ein "sauberer" Charakter, obwohl die Sauberkeit ständig betont wird, der Leser anfangs darauf eingenordet wird. Wie viel Mühe gibt sich die Erzählstimme anfangs damit, genau zu beschreiben, wie Filth sich anzieht, welche Rituale er und Betty genau einhalten, wie er mit seinem eingerollten britischen Regenschirm nach London fährt.

Mit Bettys Tod löst sich dieses starre Korsett, Filth wabert in Raum und Zeit hinein, so kommt es mir vor, das, was eingeschnürt war und gehalten wurde, ist jetzt außer Form, etwas, das sich nicht mehr fassen lässt, gerade auch für Filth selbst.

 

Es gibt mehrere schwere Traumata in Eddies Leben, das schwerste wird bis zum Schluss aufgespart, und, ja, es wird immer wieder darauf verwiesen, sodass klar wird: da kommt noch ein richtiger Hammer, man vermutet Missbrauch, Schlimmeres, oder, da ja dieser seltsame Zusammenhalt der drei, Eddie, Babs, Claire, immer wieder beschworen wird, ein grausames "Spiel", ein Abkommen der drei, ein Komplott.

 

Mich haben die Fingerzeige darauf wenig gestört, weil die sonstigen geschilderten Geschehnisse ihre Sogwirkung behielten und auch jede Nebenfigur so eigen ist, dass man ihr gerne auf einen kleinen Seitenweg folgt und für Momente ihre Sicht auf das Geschehen erfährt und sich auch darauf einlässt. Darin liegt für mich das Großartige dieses Romans, Erzählhaltung, Perspektiven. Die unglaublich starke Stimme, die dies alles zusammenhält, das filmische Erzählen bzw die sprachliche Umsetzung eines filmischen Blicks.

 

Ob mir die Haltung der Autorin zum Empire und der Kolonialzeit angemessen erscheint ... wer bin ich, um aufgrund einer immer noch fiktiven Geschichte eine Wertung abzugeben und wozu?

Baronsky&Brendler: Liebe würde helfen  Ein Staffelroman 
Februar 21, Kampa

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Zum Thema Kolonialismus. Es ist wahr, über die Kolonien wird wenig geschrieben. Es gibt auch keinen Rassismus. Aber die Figur und ihr Leben ist davon geprägt. Das ist British Empire durch und durch. Das Leben in der Ferne als Oberschicht, die unzertrennbare Nabelschnur zum Mutterland, "the retirement" im alten England, das einem eigentlich fremd geworden ist. Man macht sein Vermögen in den Kolonien, ist aber durch und durch britisch. Noch mehr als die, die im Mutterland leben. Deshalb kommt einem die Figur ja auch etwas entrückt und weltfern vor. 

Die Montalban-Reihe, Die Normannen-Saga, Die Wikinger-Trilogie, Bucht der Schmuggler, Land im Sturm, Der Attentäter, Die Kinder von Nebra, Die Mission des Kreuzritters, Der Eiserne Herzog, www.ulfschiewe.de

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Mir verschwimmt auch ein wenig, worüber hier eigentlich debattiert wird, und es ist schwierig, an diesem Punkt in die Diskussion einzusteigen.

Die Erzählstimme nehme ich als distanziert wahr; über die Haltung der Autorin kann ich nur mutmaßen. Warum hat sie diesen ironischen, bisweilen offen spöttischen Blick auf ihre Figuren? Sagt das nicht auch etwas über ihre Haltung zu dem, worüber sie berichtet? Und die politischen Umstände sind so sehr Teil der Biografie - die Zeit von Eddies Jugend, der Hauptteil des Buches spielt zwischen den beiden Weltkriegen - dass sie natürlich als Vordergrund gelesen werden kann,  ohne dass dieses Buch ein Roman über diese Epoche sein muss. Als solchen habe jedenfalls ich ihn nicht gelesen, für mich stehen die biografischen Fragen im Vordergrund, das Leben mit mehr oder weniger Lügen oder Schichten, die um das, was man vielleicht einen Kern der Persönlichkeit nennen könnte, wachsen können oder die man sich wachsen lässt.

Abgesehen spricht doch der Name "Filth" Bände, mir fast zu viel als sprechender Name. Mitnichten ein "sauberer" Charakter, obwohl die Sauberkeit ständig betont wird, der Leser anfangs darauf eingenordet wird. Wie viel Mühe gibt sich die Erzählstimme anfangs damit, genau zu beschreiben, wie Filth sich anzieht, welche Rituale er und Betty genau einhalten, wie er mit seinem eingerollten britischen Regenschirm nach London fährt.

Mit Bettys Tod löst sich dieses starre Korsett, Filth wabert in Raum und Zeit hinein, so kommt es mir vor, das, was eingeschnürt war und gehalten wurde, ist jetzt außer Form, etwas, das sich nicht mehr fassen lässt, gerade auch für Filth selbst.

 

Es gibt mehrere schwere Traumata in Eddies Leben, das schwerste wird bis zum Schluss aufgespart, und, ja, es wird immer wieder darauf verwiesen, sodass klar wird: da kommt noch ein richtiger Hammer, man vermutet Missbrauch, Schlimmeres, oder, da ja dieser seltsame Zusammenhalt der drei, Eddie, Babs, Claire, immer wieder beschworen wird, ein grausames "Spiel", ein Abkommen der drei, ein Komplott.

 

Mich haben die Fingerzeige darauf wenig gestört, weil die sonstigen geschilderten Geschehnisse ihre Sogwirkung behielten und auch jede Nebenfigur so eigen ist, dass man ihr gerne auf einen kleinen Seitenweg folgt und für Momente ihre Sicht auf das Geschehen erfährt und sich auch darauf einlässt. Darin liegt für mich das Großartige dieses Romans, Erzählhaltung, Perspektiven. Die unglaublich starke Stimme, die dies alles zusammenhält, das filmische Erzählen bzw die sprachliche Umsetzung eines filmischen Blicks.

 

Ob mir die Haltung der Autorin zum Empire und der Kolonialzeit angemessen erscheint ... wer bin ich, um aufgrund einer immer noch fiktiven Geschichte eine Wertung abzugeben und wozu?

 

Ich habe mir gestern Anbend auch übelegt, worüber wir eigentlich diskutieren. Claudia fasst noch einmal genau das zusammen, was ich beim Lesen dieser Geschiche ebenfalls gesehen habe. Nämlich einen ironischen, filmischen, zeigenden, nicht erklärenden Blick auf einen traumatisierten Richters des Inner Temple auf sein Leben - vor der Kulisse des untergehenden Empire. Darin, im Zusammenbruch des Empire, kann ich sogar eine Parallele auf Eddies Leben erkennen. Failed in London, try Hongkong.

 

Dann habe ich mich noch einmal mit der Szene Claire-Oliver-Vanessa-Eddie beschäftigt. Ein ebenfalls sehr interessanter und amüsanter Nebenfigur -Exkurs. Jemand hat sie schon im Zusammenhang mit Eddies Entwicklung erwähnt. Da wird das neue England gezeigt mit den Glatzköpfen und der neuen, egoistischen Karrieregeneration, die in ihrem Leben mehrere Berufe und Partnerschaften haben kann. Und Kinder nur will, wenn sie reinpassen. Eddie konfrontiert Vanessa damit, ob Kinder wohl eine solche Mutter haben wollten und spricht geichzeitig (erstmalig?), über seine und Bettys Entscheidung zur Kinderlosigkeit. Weil jemand, der nicht geliebt worden ist, kein Kind lieben kann.(Wie auch Ma Didd). Und wieder eine Überraschung, denn Vanessa wird von der Begegnung so berührt, dass sie mit Oliver ein Kind haben will. In diesem Moment wirkt Eddie, so sehr er auf seinem Weg auch schwankt, fest und sicher. Bezeichnenderweise ist auch Vanessa im Inner Temple, und bezeichnenderweise taucht auch der Vikar wie ein mahnender Zeigefinger in dieser Szene auf.

Bearbeitet von Christa
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Vielleicht sollten wir den Kolonialismus wirklich erst mal auf sich beruhen lassen, damit hier nicht alles anderen Themen untergehen – aber eins möchte ich noch loswerden, liebe Angelika, nämlich dass ich deinen Einwand grundsätzlich schon berechtigt und bedenkenswert finde:

 

Guck, dieser von dir zitierte Satz: 

 
"Ich glaube, dass wir der Geschichte fast gar nichts verzeihen sollten."
 
Den sagt ein weise gewordener Feathers zu der jungen Kollegin, die sich lieber mit "der Geschichte" befrieden würde. Insofern ist er hier der kritische Geist. Und weißt du, was ich den beiden sagen würde, wenn ich an ihrer Unterhaltung teilnehmen könnte? "Der Geschichte verzeihen oder nicht verzeihen? Bullshit! Das ist nicht die Geschichte, das waren Leute, die ihre Interessen verfolgt haben!" Sich die Geschichte als waltendes Subjekt vorzustellen, auf die Idee kommt jemand, der sich alles, was so passiert ist, gar nicht mehr anders denken kann denn als Selbstverständlichkeit. Klar, wenn man aus einem Reich kommt, in dem die Sonne nie untergeht ...

 

Nein, diese Haltung vertritt niemand im Buch. Und wie gesagt, ich kann nachvollziehen, dass dich das Fehlen dieser Stimme irritiert. Mir geht es nicht so, aber ich weiß, dass es mir bei anderen Themen sehr wohl so ginge (eine Liebesgeschichte in der Nazizeit, ohne dass die Haltung zur Judenverfolgung und zum Regime thematisiert wird: völlig inakzeptabel). Für mich ist das, glaube ich, eine graduelle Sache, eine Frage des Abstands:  wie viel Zeit zwischen dem menschenfeindlichen Geschehen und dem Schreiben liegt; wie nah die Figuren irgendwelchen konkreten verbrecherischen Handlungen oder Personen sind; wie viel persönliche Schuld die Figuren tragen; wie viel im Roman rumgelogen wird, um die Schuld zum Verschwinden zu bringen. Auch ist mir einiges Unrecht natürlich "näher" als anderes, für das britische Kolonialreich fühle ich mich einfach nicht sonderlich zuständig, und ich bin auch nicht sonderlich sachkundig. Ich habe zum Beispiel auch keine Vorstellung, wie Jane Gardam sich in dem Punkt äußern würde. Vermutlich in einem langen und komplexen Vortrag … Dazu kommt für mich, dass sich das Empire ja bereits weitgehend von der Weltbühne verabschiedet hatte, als Old Filth nach Hongkong kam. Und dass er selbst wahrlich kein Hurrah-Patriot oder aktiver Parteigänger des Imperialismus ist. Welche Schuld man auf sich lädt, wenn man Todesurteile fällt (ob in England oder in den Kolonien), wird im Roman ja durchaus thematisiert.

 

Und dazu kommt dann eben (für mich) der Aspekt der künstlerischen Einheit. Eine grundsätzliche Kritik am Empire hätte den Fokus des Romans völlig verschoben – wie gesagt, für mich liegt der auf dem Schicksal von Einzelfiguren, die selbst (völlig richtig) allesamt Nutznießer des Empire sind. Auch Betty, auch der Aufsteiger Veneering. Es hätte einen völlig anderen Roman ergeben.

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Es hätte einen völlig anderen Roman ergeben. Der Gedanke kam mir ebenfalls. Habe noch überlegt, an welcher Stelle

noch eine kritische Haltung zum Imperialismus hätte eingschoben werden können. Ich als Autorin hätte das vielleicht bei

diesen Gesprächen im Inner Temple gemacht, vielleicht ein kritischer Geist dabei, oder im Nachwort von Jane Gardam. Da spricht sie aber nur über "Dichtung und Wahrheit" und Danksagung.

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Darf ich das Augenmerk der Diskussion mal auf eine andere "Problematik" des Buches legen. Zeiten und Namen.

 

Beim ersten Mal lesen hat es mich wahnsinnig irritiert, dass so sehr in den Zeiten gesprungen wird (und das ohne Zeitangabe in der Überschrift) und außerdem, das mal von Eddy, mal von Edward, dann von Teddy und Filth die Rede war.

Das mag gut zu lesen sein, wenn man Stunden am Stück lesen kann. Wenn das nicht der Fall ist, scheint mir das eher problematisch.

 

Und nun - beim zweiten lesen - frage ich mich, ob das dem Buch insgesamt eher hilft oder eher schadet. Ich tendiere zu letzterem.

 

Was meint Ihr?

Sabine

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Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie dieser Roman noch dieser Roman sein sollte, wenn er keine Zeitsprünge enthielte, Sabine.

Ohne das Spiel mit den Namen würde ihm definitiv etwas fehlen; ohne Zeitsprünge wäre er gar nicht mehr vorhanden.

Finde ich.

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Ja, das würde ich auch sagen, Barbara. Zumal die Zeitsprünge hier hervorragend motiviert sind durch die schwankenden Erinnerungsbilder des Helden. Ende des ersten Kapitels z.B., Filth hat gebadet, geht zu Bett:

 

"Das ist jetzt nicht der richtige Moment zum Irrewerden", hörte er sich selbst laut sagen, als die Bilder des Tages sich zu Träumen verwoben. Er klammerte sich auf einem Bootsdeck an jemandem fest, das Meer war wie eine silbrige Haut. Jemand schrie, aber das war woanders und weckte ihn nicht...

 

Sechs Zeilen weiter beginnt das zweite Kapitel mit Auntie May und einer Barkasse auf dem Fluss.

 

Das ist doch ein toller Anschluss! 

 

Verwoben werden im Weiteren gerade über die Zeit- und Perspektivwechsel auch die Leben der beteiligten Figuren und die symbolhaltigen Dinge, die sie begleiten. Betty, die zwei Kapitel später mit ihrem Exgeliebten telefoniert, vom Tod seines Sohnes erfährt, die beiden Perlenketten, die Tulpenzwiebeln, die sie wenig später (zusammen mit den "Schandperlen") setzen und dabei sterben wird, der in Bangladesh gekaufte Thron, der den Anfang ihres Ehelebens mit Filth markiert. Bezeichnend übrigens, dass er in ihren Gedanken weder Edward noch Eddie genannt wird, sondern Filth. So spricht sie ihn auch an:

 

"Wiedersehen, meine Liebe."

"Wiedersehen, Filth. Gegen sechs zurück?" p. 90

Bearbeitet von Angelika Jo

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Ich habe jetzt fast die Hälfte des Buches auf englisch gelesen und kann jetzt vielleicht mal einen ersten Eindruck loswerden. Was mich zuerst angesprochen hat ist die feine Sprache der Autorin mit diesem larmoyanten, melancholischen Unterton, den ich schon aus einem anderen Roman eines anderen Autors über etwa die gleiche Zeit kenne. Dazu diese - mich berührende - Kindheits- und Jugendgeschichte Eddies: Immer wieder wird er herausgerissen aus einer liebevollen Beziehung. Zuerst die malayische Familie, Ada, Babs, dann Pat - immer wieder wird er enttäuscht und auf sich selbst zurückgeworfen (auch da Parallelen zu dem anderen Buch). Kein Wunder, dass er stottert, was sich in der Freundschaft zu Pat mildert. Die Zeitsprünge stören überhaupt nicht - wie Angelika schon sagte, sie sind immer verbunden und stimmig eingefädelt. Ich sehe Eddie in dieser ersten Hälfte auch nicht als kriegslüstern das Empire verteidigen, im Gegenteil, zuerst will er ja die weiße Flagge hissen: In meinem Buch auf Seite 59: "Eddie could make out the square shape of desecrated satin bring up against the house like a forlorn white flag." Davor ist zum ersten Mal davon die Rede, dass es Krieg geben wird, und Eddie ist sehr erstaunt darüber, dass Pat sich als freiwilliger melden wird. "But you'd fight for the Empire, wouldn't you? I mean - you'd fight for all this?" - er meint das grüne Land, und Pat nickt und meint die Fabrik. Und erst dann sagt Eddie: "So will I".

Jedenfalls bleibt die Tatsache, dass es im Leben nicht darum geht, Menschen richtig zu verstehen. Leben heißt, die anderen misszuverstehen ... Daran merken wir, dass wir am Leben sind: wir irren uns. (Philip Roth)

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Im Prinzip gebe ich Euch recht, Barbara und Angelika,

 

aber würde dem Roman wirklich etwas fehlen, wenn da z.B. nicht nur "Kotakinakulu", sonder "Kotakinakulu 1923" stehen würde? Ich glaube nicht.

Ich bin schon Eurer Meinung, dass dieses Verwirrspiel zum Roman gehört bzw. den Roman ausmacht, aber ich finde es einfach ein bisschen zu viel.

 

Anderes Thema: Für mich ist die große Stärke des Romans die Sprache, manche Sätze hauen mich geradezu aus den Socken.

Sollten wir vielleicht einen extra Thread mit "Lieblingssätzen" aus dem Buch aufmachen? Dann hätten auch die etwas davon, die dieser Diskussion nicht folgen.

 

Sabine

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Ich fand die Zeitsprünge genial, vor allem auch die Vermischung von Eddies eigener Wahrnehmung der Gegenwart und der Vergangenheit. Zum Beispiel, als jemand klopft, als er bei Claire ist und er denkt, es sei Ma Didd, die ihn wegen seines Bettnässens bestrafen würde. Das mit dem Bettnässen und den Bestrafungen ist übrigens auch noch ein Grund für Zusammenbruch und Stottern. Mit Eddie, Filth, Edward und Teddy hatte ich kein Problem, da alles, auch die Spitznamen, zusammenhängen. Einziges Problem waren Figuren, die längere Zeit nicht erwähnt werden, wie schon erwähnt am Schluss Vermeering, Babs und Claire, da musste ich überlegen, wer das denn nochmal war. Durch Erinnerungsfetzen (Ma Didd, die Eddie auf dem Schoß hatte, Vermeering als Nachbar, Bettys Liebhaber und Eddies Freund) kam ich dann schnell wieder drauf. Es ist aber sicher einfacher, wenn die Pausen bei der Lektüre nicht zu lang sind.

 

Es gibt noch einen Aspekt, der mir aufgefallen ist. Die Einsamkeit Eddies und die Beschreibung des Alterungsprozesses, wie vorsichtig er sich in der Badewanne und im Hotel bewegen muss. Auf der anderen Seite sehr ästhetisch, die negativen Sachen kommen gar nicht zur Sprache. Die Einsamkeit deswegen, weil im Inner Temple am Schluss davon gesprochen wird, dass er ganz allein war. Und doch nicht allein, denn es wird ja über ihn gesprochen.

 

Überschnitten mit BarbaraMMs Posting: Bei mir waren es Sätze, Bilder, Metaphern und Erkenntnisse, die mich manchmal Boaah! denken oder sogar die Hände vors Gesicht schlagen ließen, zusammen mit ein paar kleinen Krokodilstränen. Obwohl ich gar nicht so der superemotionale Typ bin. ;)

Bearbeitet von Christa
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Im Prinzip gebe ich Euch recht, Barbara und Angelika,

 

aber würde dem Roman wirklich etwas fehlen, wenn da z.B. nicht nur "Kotakinakulu", sonder "Kotakinakulu 1923" stehen würde? Ich glaube nicht.

 

Nur gang ganz kurz und rein technisch (heute Abend habe ich hoffentlich mehr Zeit) zu diesem einen Punkt: Ich glaube, das hätte nicht funktioniert. Die Zeitsprünge erfolgen ja keineswegs immer bei Kapitelwechseln.  Dann: Was macht man mit den Passagen, die auf zwei, drei Seiten viele Jahre zusammenfassen wie z.B. die Vorstellung von Filth ab S. 13? Und: Manchmal sind die Abstände zwischen zwei Sprüngen so kurz, dass der Text durch die vielen Jahreszahlen schrecklich buchhalterisch gewirkt hätte. In den Queen-Mary-Passagen z.B. geht es eine Weile in sehr kurzen Einheiten hin und her zwischen Früher und Jetzt. Und vor allem das, was schon andere hier geschrieben habe: Die Zeiten sollen verschmelzen, glaube ich, weil sie auch in Eddies Kopf zunehmend verschmelzen. Da darf es im Text keine Instanz geben, die alles säuberlich auseinanderhält.

 

Edit: ich sehe gerade, Christa hat schon ein tolles Beispiel für dieses Verschmelzen genannt, die Sache mit dem Klopfen.

Bearbeitet von BarbaraS
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Ich würde unbedingt gern noch genauer über die Symbole reden, Angelika, und über das klare Charakterisieren der Nebenfiguren, das Christa weiter oben angesprochen hat, und über das Herausstellen von bestimmten Szenen, was für mich alles zu dem Eindruck beiträgt, dass hier ganz viel über Bilder erzählt wird, im wörtlichen Sinn: über den Blick von außen. (Claudia, meinst du das mit filmischem Erzählen? Oder noch etwas anderes?)

 

Und noch etwas, was mich an dem Roman fasziniert: Das Überzeichnen oder Überhöhen von Figuren oder Situationen, wozu ich auch die "Zufalls"-Wiederbegegnungen rechnen würde: Die Art, wie Cumberledge immer mal durchs Bild läuft zum Beispiel. Aber auch dieser unglaubliche Pfarrer …

 

Aber vorher möchte ich noch ein paar Gedanken zur Konstruktion loswerden. Zu den Zeitsprüngen und den Anschlüssen, anschließend ;-) an das, was du geschrieben hast, Angelika:

 

"Das ist jetzt nicht der richtige Moment zum Irrewerden", hörte er sich selbst laut sagen, als die Bilder des Tages sich zu Träumen verwoben. Er klammerte sich auf einem Bootsdeck an jemandem fest, das Meer war wie eine silbrige Haut. Jemand schrie, aber das war woanders und weckte ihn nicht...

 

Sechs Zeilen weiter beginnt das zweite Kapitel mit Auntie May und einer Barkasse auf dem Fluss.

 

Das ist doch ein toller Anschluss!

 

Beim ersten Lesen war ich völlig fasziniert von der Geschichte und den Figuren, bin einfach mit durch die Zeiten gesprungen und hatte ziemlich genau das Gefühl, das Ulf schon beschrieben hat: Diese Jane Gardam erzählt einfach, wie es ihr gerade in den Sinn kommt. (Obwohl man sich ja denken kann, dass das vermutlich nicht stimmt.) Beim zweiten Lesen hatte ich dann den Ehrgeiz, ihr wenigstens ein bisschen auf die Schliche zu kommen, und tatsächlich sind mir ein paar Dinge aufgefallen, die zeigen, wie klug da komponiert wurde.

 

Zunächst mal: Wenn man von wenigen zusammenfassenden Passagen (besonders ganz am Anfang) absieht, spielt die gesamte Handlung ja auf zwei Zeitebenen. Die eine reicht von Eddies Geburt (nach meiner Rechnung 1923) bis zu dem Tag im Jahr 1947, an dem Coleridge in der Anwaltskanzlei auftaucht. Die zweite von Veneerings Telefonat mit Betty und der anschließenden vergeblichen Fahrt zur Anwältin nach London bis zu Filth's Tod.

 

Interessant finde ich dabei, dass der Erzählstrang um den jungen Eddie zwar immer wieder unterbrochen wird, in sich aber fast durchgängig chronologisch verläuft: Erst die Geburt, dann die Verschickung nach England, die Szene in Wales, die Schule von Sir, die höhere Schule, der Besuch in Oxford, die erzwungene Evakuierung etc.

 

Es gibt zwei Ausnahmen: Die Ferien- und Friedenszeiten bei den Ingoldbys werden bis zum Kriegsbeginn erzählt (S. 81 bis 85), dann gibt es einen Sprung zum alten Filth (Bettys Tod), und bei der Rückkehr zum jungen Eddie sind wir noch mal im Jahr 1936, und Eddie trifft Isobel. Die zweite Ausnahme ist kein Verdrehen der Zeiten, sondern diese eine strategische Auslassung: Dass von der Zeit in Wales nichts erzählt wird. Die Erzählung springt dort von der Schiffsfahrt nach England (bis S. 51) über einen kurzen Einschub direkt zu dem Tag, an dem die Kinder aus Wales abgeholt werden. (Nebenbei, letzteres ist eine der Szenen, die ich als überhöht empfinde – sie ist ja sogar explizit ins Theatralische gezogen. Geht euch das auch so?) Was in Wales passiert ist, wird nach und nach in Andeutungen und am Ende in Filth's "Beichte" nachgeliefert.

 

Im Erzählstrang um den alten Filth geht es weniger geordnet zu. Dort sind wir (in der allerersten Theaterszene) zunächst am Tag des London-Besuchs; dann bei der Wiederbegegnung mit Veneering, als Betty längst tot ist; dann wieder bei dem Besuch in London; dann bei Bettys Tod; zwischendurch gibt es ständig kurze Erinnerungs-Sprünge zu de früheren Zeit.

 

Auffällig finde ich hier, dass eine fast 80 Seiten lange Passage ganz ordentlich chronologisch durcherzählt wird, durchbrochen nur von kurzen Erinnerungen, bei denen man die Zeitebene nicht vollständig verlässt: das ist die verrückte Autofahrt des alten Filth gleich nach Bettys Tod, S. 150 bis 226. Und interessanterweise ist das genau die Zeit, in der Filth nach seiner eigenen Einschätzung einen psychischen Zusammenbruch erleidet, und das erste Kapitel ist mit "Irrewerden" überschrieben. Als müsste hier wenigsten formal Ordnung gehalten werden, damit der Zusammenbruch beherrschbar bleibt; als müsste sich die Geschichte stur vorwärts bewegen, so wie Filth in dieser Zeit ja offenbar auch in Bewegung bleiben muss. (und ich finde es sehr bezeichnend, nebenbei, dass er nach der Katastrophe von Bettys Tod automatisch Zuflucht bei den beiden Cousinen sucht, den Bundesgenossen aus der Kinderzeit. Obwohl sie bis dahin ja offenbar kaum Kontakt hatten.)

 

Interessant finde ich dabei auch, dass man zu Beginn dieser langen Passage bereits gut über Eddies Kindheits-Traumata Bescheid weiß. D.h. es ist nicht so konstruiert, wie man es ja häufig liest, dass das Wiedersehen mit den Cousinen Anlass zu Erinnerungen und Rückblenden gibt und wir als Leser auf die Art erfahren, was sich in Eddies Kindheit zugetragen hat. Sondern es ist genau umgekehrt: Die Begegnung mit den Cousinen gewinnt dadurch an Bedeutung, dass man schon ziemlich deutlich ahnt, dass in Wales irgendetwas Grauenhaftes geschehen ist.

 

Gleich darauf, in Teil 2, wird dann auch die gescheiterte Evakuierung des jungen Eddie über knapp 30 Seiten ohne Unterbrechung durcherzählt (ab S. 232). Aber dann ist zunächst der ganz alte Filth wieder da, und die Queen-Mary-Episode wird sehr eng mit diesem zweiten, späteren Erzählstrang verwoben. Eine Signal (glaube ich), dass Filth sich inzwischen aktiv mit seinen Erinnerungen auseinandersetzt: Er sucht sie auf. Und gleich danach kommt auch schon die Beichte, in der Vergangenheit und Gegenwart durch die Dialogform verbunden werden.

 

Edit: Was mich dabei total beeindruckt, ist das Unschematische. Die Methode, beide Zeitebenen zu verknüpfen, wechelt immer wieder, sie passt sich der Geschichte an.

Bearbeitet von BarbaraS
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Zunächst mal: Wenn man von wenigen zusammenfassenden Passagen (besonders ganz am Anfang) absieht, spielt die gesamte Handlung ja auf zwei Zeitebenen. Die eine reicht von Eddies Geburt (nach meiner Rechnung 1923) bis zu dem Tag im Jahr 1947, an dem Coleridge in der Anwaltskanzlei auftaucht. Die zweite von Veneerings Telefonat mit Betty und der anschließenden vergeblichen Fahrt zur Anwältin nach London bis zu Filth's Tod.

 

 

Ich bin mit dem Buch noch nicht durch, aber dem kann ich mich nur anschließen. Es sind zwei Zeitebenen, also nichts besonders Neues. Und natürlich baut die Autorin Neugierde und milde Spannung auf, was da in Wales in der Kindheit passiert sein könnte. Und warum ausgerechnet diese entfernten Kusinen wichtig sind. Dabei verwirrt sie den Leser gelegentlich mit sporadischen Rückblenden in Gedanken oder Träumen des Protagonisten, so dass ihr Erzählen spontan und ungeordnet erscheint, was es in Wirklichkeit nicht ist. Man fragt sich natürlich auch die ganze Zeit, wie ein so vernachlässigtes Kind, praktisch ohne Familienanbindung, später so erfolgreich werden konnte. Das ist für mich die große Frage und auch die für mich bisher völlig ungeklärte Beziehung zu seiner Frau, die in 2/3 des Romans ein völlig leeres Blatt bleibt. Was mir unverständlich ist, außer, es folgt noch irgendetwas Dramatisches in dieser Hinsicht.

 

Ich finde die Figuren gut gezeichnet, aber auch manchmal ein bisschen gewollt skurril. Die alte Kusine, die in eine 14-jährigen verliebt ist - na ja.  ;D

 

In vieler Hinsicht kommt mir die Welt, die sie darstellt, etwas unwirklich vor.

 

Am besten gefällt mir die Sprache, mit der es ihr gelingt, mit kurzen treffenden Sätzen, besonders in den Dialogen, das auszudrücken, was sie vermitteln möchte, über Figuren oder Umstände. Sie nimmt sich auch nicht die Zeit, viel zu erklären, fokussiert sich auf Wesentliches in ihren Beschreibungen.

Die Montalban-Reihe, Die Normannen-Saga, Die Wikinger-Trilogie, Bucht der Schmuggler, Land im Sturm, Der Attentäter, Die Kinder von Nebra, Die Mission des Kreuzritters, Der Eiserne Herzog, www.ulfschiewe.de

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Zunächst mal: Wenn man von wenigen zusammenfassenden Passagen (besonders ganz am Anfang) absieht, spielt die gesamte Handlung ja auf zwei Zeitebenen. Die eine reicht von Eddies Geburt (nach meiner Rechnung 1923) bis zu dem Tag im Jahr 1947, an dem Coleridge in der Anwaltskanzlei auftaucht. Die zweite von Veneerings Telefonat mit Betty und der anschließenden vergeblichen Fahrt zur Anwältin nach London bis zu Filth's Tod.

 

 

Ich bin mit dem Buch noch nicht durch, aber dem kann ich mich nur anschließen. Es sind zwei Zeitebenen, also nichts besonders Neues.

 

Nein, das Besondere an diesem Roman liegt sicherlich nicht darin, dass er auf zwei Zeitebenen spielt, sondern in der hoch künstlerischen Art, die Ebenen zum Verschmelzen zu bringen. Christa und Angelika haben ja schon Beispiele dafür gebracht, wie weich die Überleitungen oft sind. Dann trägt sicher die Erzählstimme ganz viel zu dem Gefühl der Einheitlichkeit bei, weil sie alle Geschehnisse mit der gleichen Mischung aus liebevoller Aufmerksamkeit und ironischer Distanz begleitet – und die Leser zugleich sehr zuverlässig lenkt. (Zum Beispiel der Zeitenwechsel auf S. 232, wo wir nach sehr langer Unterbrechung zum jungen Eddie zurückkehren, dort wird genau gesagt, wo wir jetzt sind: "In diesem Zug im Jahre 141, nach der Aufnahmeprüfung in Oxford …") Auch die Methode des Überleitens folgt also keinem Schema, sondern ist sehr organisch.

 

Und dann die vielen Kreuz- und Querverbindungen. Über Figuren und Motive. Da gerate ich immer wieder ins Staunen. Schon wie diese Perlen durch den Roman schwimmen, bei ziemlich überraschenden Personen landen und aus dem Bild driften – und dann plötzlich auf dem Schiff zurück nach England beim jungen Eddie und Miss Robinson auftauchen. Oder dass dieser schräge, aber doch nicht einfach lächerliche Father Tansy so lange vor der Beichte schon ins Bild gerät und dann immer wieder am Rand der Szene auftaucht, bevor er seinen wichtigen Auftritt hat. Das nur als willkürlich herausgegriffene Beispiele. Dass viele der Nebenfiguren etwas leicht Überzeichnetes haben, macht sie für mich zu Landmarken im Roman. Isobel ist nicht nur Isobel, sondern sie steht auch für einen Aspekt von Eddies Leben. Die Möglichkeit von etwas Wilderem vielleicht? Bei Sir denkt man daran, dass das Internat Eddies Rettung war. "Ma Didds" wird über lange Strecken als Synonym für das (noch unerzählte) Schlimme verwendet. Sobald man "Ma Didds" liest, weiß man, was Filth beschäftigt – und man horcht auf und schaut, ob man nicht etwas Neues erfährt.

 

Überhaupt. Diese Ökonomie des Erzählens. Mir ist das jetzt noch mal daran bewusst geworden, auf welche Weise die Beziehung zwischen Betty und Veneering dargestellt wird. Nämlich ausschließlich (bis auf Andeutungen von Dritten) über das Telefongespräch, in dem Veneering Betty vom Tod seines Sohns erzählt, und Bettys Reaktion darauf. So wenig – aber was erfährt man dadurch nicht alles: Nämlich dass sie nicht nur eine Affäre hatten, sondern dass Betty sich ihm offenbar so verbunden fühlt, wie man es bei ihr und Filth nirgendwo erlebt. Dass sie einen ganz wesentlichen Teil ihres Gefühlslebens gegen Filth abschottet. Eine ganz andere Art von Verrat, als eine reine Bettgeschichte es wäre. Das lässt doch alles, was Filth über sie sagt und denkt, noch mal in einem anderen Licht erscheinen.

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Ich finde die Figuren gut gezeichnet, aber auch manchmal ein bisschen gewollt skurril. Die alte Kusine, die in eine 14-jährigen verliebt ist - na ja.  ;D

 

 

Ich finde, dass die Figuren gerade durch die Überzeichnung, die ja fast schon in die Persiflage gehen (siehe Dein Beispiel, Ulf) spannend sind. Und zwar wirklich alle. Sir mit seinen diversen Mr. Smiths, die Cousinen, der Pfarrer. Diese Skurilität ist aus meiner Sicht ein ausgesprochen wichtiger Teil des Buches.

 

Und wenn ich daraus etwas lerne, dann die Tatsache, dass ich mit meinen eigenen Figuren durchaus etwas experimentieller sein darf.

 

Sabine

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Erst mal, danke, Barbara, für diese tolle Analyse der zeitlichen Ebenen. So was nehme ich mir auch immer vor und schaffe es dann doch nicht. Ich denke, daran werden wir noch eine Weile weiter diskutieren. Aber zuvor zu zwei Bemerkungen von Ulf:

 

1. dass die Beziehung zwischen Filth und Betty ein leeres Blatt zu sein scheint.

Ja, da gibt es nicht viel. Er sieht sie – als Gesicht – erst nach dem Tod richtig an, hört sie lachen, sieht sie winken. Vorher ist viel Leere, und alles, was wir über Betty lesen, kommt aus den Mündern anderer, z.B. Isobels in ihrem Brief (p. 107 f): "Betty war unantastbar. Niemand kannte sie ... Sie war nicht besonders hübsch." Oder aus dem von Claire (p. 196):

"Du warst Betty nie untreu?"

"Großer Gott, nein."

Und doch waren seine Augen umwerfend und hungrig, Claire dachte daran, wie Betty ihn unterschätzt hatte. Und hintergangen.

 

Und dann noch einmal richtig in dem Kapitel, wo wir aus Bettys Sicht vom Tod des Sohnes von Verneering erfahren.

[Für Wissensdurstige: Dieses Verhältnis Betty-Verneering wird im zweiten Buch das breite Thema]

 

2. die Überzeichnung der Figuren. Ich hatte noch gar nicht so recht darauf geachtet, aber jetzt, wo du es sagst, Ulf ... Teufel, Teufel! Sie ist so geschickt mit der Sprache, dass ich sie als realistische Autorin eingeschätzt hätte. Aber es stimmt ja, was ihr sagt: uralter Mann fährt Auto, uralte Frau macht 14jährigen an , der Pfarrer ... Ha! Das gibt gleich wieder meiner Theorie vom epochalen Roman Auftrieb! Ich denk noch mal drüber nach.

 

Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

www.angelika-jodl.de

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Ich würde unbedingt gern noch genauer über die Symbole reden, Angelika, und über das klare Charakterisieren der Nebenfiguren, das Christa weiter oben angesprochen hat, und über das Herausstellen von bestimmten Szenen, was für mich alles zu dem Eindruck beiträgt, dass hier ganz viel über Bilder erzählt wird, im wörtlichen Sinn: über den Blick von außen. (Claudia, meinst du das mit filmischem Erzählen? Oder noch etwas anderes?)

Ich meine den Blick von außen, gerade zu Anfang: Der Erzähler, der auswählt, was er über den alten Filth erzählt und was nicht,  der dabei aber die ganze Zeit die Distanz wahrt, zusammenfasst, auslässt. Sogar, wenn er beschreibt, was Filth denkt, hält er Distanz, und auch, wenn Filth nackt in der Badewanne liegt. Das muss wohl dieser ironische Ton sein, der diese Distanz erzeugt - und natürlich auch die Nennung seines offiziellen ... "Nicknames", müsste man eigentlich sagen, auch wenn es einem vorkommt wie ein Nachname. Hier am Anfang ist er nur Filth, nicht Eddie oder Feathers oder Teddy. Da ist seine Schale noch intakt, so kommt es mir nämlich vor, als ob von der Figur eine Hülle nach der anderen gepellt wird. Aber natürlich nicht verlässlich, manchmal geht auch mehr als eine Schale weg und man sieht etwas darunter, das man gar nicht hatte sehen sollen, nur kurz, es geht dem Leser hier wie der Figur. Und mit dem Filmischen meine ich auch, wie der Erzähler die Nebenfiguren zeigt, wie er ihnen folgt: Manchmal gibt es einen einzigen Gedanken oder eine wichtige Information, dann ist die Kamera wieder weg. Aber sie ist jedesmal scharf eingestellt, die Figur ist kurz im Hellen, im Fokus, man vergisst sie nicht, sie hat Konturen. Die Übergänge sind beinahe spielerisch, Ballabgabe, aber der Erzähler hat alles im Griff. (Wie Filth, jedenfalls früher). Ein filmisches Erzählen oder einen Kameraerzähler gibt es ja öfter, auch gerade in einfacher U-Literatur, was meist sehr hölzern wirkt, hier finde ich dieses Prinzip sprachlich großartig umgesetzt, also eher: in Sprache übersetzt bzw in dieses Medium transferiert. Und ich lese nur die deutsche Fassung, eine, wie mir scheint, grandiose Übersetzung, die ihre ganz eigene Sprache hat. (Isabel Bogdans Pfau fand ich übrigens auch großartig!)

 

Interessant ist auch bei diesem ersten Hineinfallen in die Erinnerung, das Angelika zitiert: ... das Meer war wie eine silbrige Haut. Jemand schrie, aber das war woanders und weckte ihn nicht etc ... dass das, was folgt, nämlich der Fokus auf Auntie May und dann die Beschreibung von Eddies Mutter etwas ist, was Eddie gar nicht wissen kann. Es sind also nicht seine Erinnerungen, die folgen, es ist der Filmerzähler, der uns die Hintergründe gibt und auch auswählt, dass über Eddies Mutter relativ viel berichtet wird. Hätte sie überlebt, wie anders wäre alles für Eddie geworden ... was für ein Mensch wäre er wohl geworden?

 

Am Anfang habe ich die Namen auch manchmal durcheinander gebracht - wie gesagt, die Umstände des Lesens, nicht immer so konzentriert, auch große Abstände - aber das fand ich nicht weiter schlimm, man war schnell wieder im Bild. Die Zeitsprünge fand und finde ich sehr klar, man weiß immer, wo man sich befindet, das ist die Souveränität der Erzählstimme, und, ja, es gibt kein System. Es wäre auch schnell ausgeleiert: ein traumhafter Gedanke, ein Abdriften in die Erinnerung, uuund: Rückblende ... wird ja gern gemacht, aber so funktioniert Erinnerung eben nicht, das Erinnern oder viel mehr das Sein besteht ja aus dieser Gleichzeitigkeit.

 

Den Ton fand und finde ich nicht "altmodisch", auf keinen Fall in den detaillierten Formulierungen, höchstens ein wenig britisch-ironisch, das Gefühl von "alter Sprache" könnte auch durch den Erzählstil kommen, dieses Quasi-Auktoriale und den Weitblick und dass dieser Erzähler den Leser an die Hand nimmt. Das sind eher altmodische oder früher mehr als heute benutzte Stilmittel, so kommt's mir vor.

 

Beim Wiederlesen der Szene, als Filth zu Veneering ins Haus geht, frag ich mich, ob er alles über ihn und  Betty weiß bzw ahnt ...

Liebe Grüße

Claudia

Bearbeitet von ClaudiaB

Baronsky&Brendler: Liebe würde helfen  Ein Staffelroman 
Februar 21, Kampa

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"Filmisch" am Erzählstil sind m.E. die Art, wie von Szene zu Szene gesprungen wird ohne narrative Brücke. Die Autorin präsentiert einzelne, ausgewählte Szenen, kurze Passagen, Dialogschnipsel oder Umgebungen, von denen einzelne im ersten Moment isoliert dargestellt werden, im Ganzen aber ein Bild ergeben. Ganz wie es in einem Film auch gemacht wird, da man ja keinen Erzähler aus dem "Off" hat.

 

Ich finde das interessant und überlege gerade, ob ich in meinem gegenwärtigen Projekt etwas Ähnliches machen sollte. Nicht im ganzen Roman, aber an der Stelle, wo ich mehrere Jahre überbrücken muss. Rückblenden sind immer etwas langweilig. Vielleicht kann man es so machen, ein paar Szenen, die stellvertretend für die vergangenen Jahren sind. Vielleicht sogar im Präsens geschrieben.

Die Montalban-Reihe, Die Normannen-Saga, Die Wikinger-Trilogie, Bucht der Schmuggler, Land im Sturm, Der Attentäter, Die Kinder von Nebra, Die Mission des Kreuzritters, Der Eiserne Herzog, www.ulfschiewe.de

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Ich meine den Blick von außen, gerade zu Anfang: Der Erzähler, der auswählt, was er über den alten Filth erzählt und was nicht,  der dabei aber die ganze Zeit die Distanz wahrt, zusammenfasst, auslässt. Sogar, wenn er beschreibt, was Filth denkt, hält er Distanz, und auch, wenn Filth nackt in der Badewanne liegt.

 

Genau – und mir ist noch aufgefallen, dass der Erzähler manchmal ganz ausdrücklich die Rolle des Beobachters (Filmzuschauers?) einnimmt, z. B. S. 15: "Warum eigentlich Dorset? Das wusste niemand. Vielleicht irgendeine alte Familientradition. Filth sagte, er möge den Rest von England nicht, Betty, es sei ihr zu kalt in Schottland. Von Wales hielten beide nichts." Worauf der Erzähler ausführlich darüber nachdenkt, was für ein Paar die beiden eigentlich sind – immer von außen: "Wer an Betty dachte, sah sie an ihrem runden Rosenholztisch sitzen, sich schnell vergewissern, ob etwa ein Teller leer war, und mit dem kleinen Glöckchen klingeln, mit dem sie die hinterhältig lächelnden Mädchen in identischen, prächtigen Cheongsams rief."

 

Und es stimmt, man kann den Roman so sehen, dass diese äußere Schale abgepellt wird, und dann die darunter usw.

 

Beim Wiederlesen der Szene, als Filth zu Veneering ins Haus geht, frag ich mich, ob er alles über ihn und  Betty weiß bzw ahnt ...

 

Das habe ich mich den ganzen Roman hindurch immer wieder mal gefragt und habe am Ende für mich beschlossen, dass er durchaus Bescheid wusste, zumindest im Prinzip. (Im nächsten Roman ist das noch mal Thema.)

 

 

Ich finde, dass die Figuren gerade durch die Überzeichnung, die ja fast schon in die Persiflage gehen (siehe Dein Beispiel, Ulf) spannend sind. Und zwar wirklich alle. Sir mit seinen diversen Mr. Smiths, die Cousinen, der Pfarrer. Diese Skurilität ist aus meiner Sicht ein ausgesprochen wichtiger Teil des Buches.

 

Und wenn ich daraus etwas lerne, dann die Tatsache, dass ich mit meinen eigenen Figuren durchaus etwas experimentieller sein darf.

 

Ja, das habe ich mir auch schon gesagt …

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