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BarbaraS

Erzählstimme

Empfohlene Beiträge

P.S. Um zu Barbaras Ausgangsfrage zurückzukommen:

 

Diesen Erzähler stelle ich mir so vor: Im Halbschatten eines Raumes, auf einem Schaukelstuhl sitzend erzählt er die Geschichte(n) von ein paar Menschen, die er faszinierend findet. Er weiß auch, dass er auf faszinierende Weise erzählen kann. Deshalb geht er von einem Publikum aus, das irgendwo sitzt und gebannt lauscht. Aber er wendet sich nicht an das Publikum, er erzählt, selbstbewusst, mit Pausen, in denen er seine Pfeife stopft. Das Publikum lauscht, mäuschenstill, das weiß er.

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

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Liebe Claudia, liebe Angelika,

total spannend, wie unterschiedlich "Lichtjahre" gelesen wird! Für mich kennt sich der Erzähler zu 100% aus, weiß er ganz genau über diese Welt Bescheid (für mich ist er selbst auch jemand, der sich in dieser Welt bewegt, der dort zuhause ist). Um so eine Beschreibung dieser Welt abzugeben, wie das Zitat von Seite 32 (das ja gleichzeitig die Struktur des Romans beschreibt), Ihr Leben ist geheimnisvoll, es ist wie ein Wald; von weitem sieht es wie eine Einheit aus, man kann es genreifen, beschreiben, aber wenn man näher kommt, beginnt es sich zu trennen, sich in Licht und Schatten aufzulösen, die Dichte blendet einen. (...), muss er meiner Meinung nach die Welt und allen voran Viri und Nedra kennen und durchschaut haben. Sonst könnte er für mich dieses Bild gar nicht benennen. Und er sorgt ja genau dafür, dass wir diese blendende Dichte erleben, diese sich überallhin ausbreitenden, unendlichen Facetten, das Fehlen klarer Formen, er benennt hier für mich den Kern dieser Welt und gleichzeitig ist das auch die Erzählweise.

 

Für mich ist schon der Romaneinstieg ein klares Signal, dass er selbst aus dieser Welt kommt. Wir schlenderten im Garten, aßen die kleinen, bitteren Äpfel. Die Bäume waren trocken und knorrig. In der Küche brannte das Licht. Und er beginnt den Roman mit einer Fülle an Details, mit Besonderheiten, mit denen Nedra sich so gerne intellektuell schmückt, oder Arnaud oder Peter. Für mich beginnt der Roman wie eines der Gespräche, die später bei den Dinners folgen. Auch lese ich das Zitat von Seite 12, Ich werde ihr Leben von innen nach außen beschreiben, von seinem Kern aus, ...nicht wie eine Anweisung an sich selbst, das so zu erzählen. Sondern eine an mich gerichtete Information. Genau wie das Zitat von Seite 45: Habe ich schon gesagt, dass er ein Mann war, der Talent hatte, wenn auch im kleinen Rahmen?

 

Was das Publikum angeht, Claudia, hab ich mich etwas doof ausgedrückt. Ich meinte ein Hilfskonstrukt wie das von Nadolny, also eines nur für den Autor, ein unsichtbares. Bei Icherzählern ist das mit dem Adressaten auch viel zwingender und einfacher, Barbara und ich hatten überlegt, wie das bei den distanzierten personalen/auktorialen Erzählern ist. Ob hier so ein Konstrukt auch helfen könnte, den Platz auf der Bühne für den Erzähler zu finden und die Richtung, in die er spricht. Also, wenn ich mir bei einem Projekt zum Beispiel eine der Figuren als Adressat vorstelle, die ich von der Geschichte überzeugen möchte, dann entsteht in der Erzählweise sofort ein Konflikt, der Erzähler würde viel argumentativer, viel aggressiver erzählen (nur ein Beispiel). Er würde eine andere Auswahl treffen, anders beginnen. Oder Salter, der mit dem wir beginnt, was sofort eine andere Richtung erzeugt als ein Einstieg ohne das wir. Diese Überlegungen von Barbara und mir betreffen aber wie gesagt nur das Hilfskonstrukt für den Autor. Deswegen habe ich auch nach der Fee gefragt, was du dir da genau vorgestellt hast :-)

 

Liebe Grüße

Lisa

Bearbeitet von Lisa
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Was das Publikum angeht, Claudia, hab ich mich etwas doof ausgedrückt. Ich meinte ein Hilfskonstrukt wie das von Nadolny, also eines nur für den Autor, ein unsichtbares. Bei Icherzählern ist das mit dem Adressaten auch viel zwingender und einfacher, Barbara und ich hatten überlegt, wie das bei den distanzierten personalen/auktorialen Erzählern ist. Ob hier so ein Konstrukt auch helfen könnte, den Platz auf der Bühne für den Erzähler zu finden und die Richtung, in die er spricht. Also, wenn ich mir bei einem Projekt zum Beispiel eine der Figuren als Adressat vorstelle, die ich von der Geschichte überzeugen möchte, dann entsteht in der Erzählweise sofort ein Konflikt, der Erzähler würde viel argumentativer, viel aggressiver erzählen (nur ein Beispiel). Er würde eine andere Auswahl treffen, anders beginnen.

Nein, wir meinen schon dasselbe, ich habe es so verstanden. Als Hilfskonstrukt (schrieb ich ja auch: Wenn ich mir ein Publikum - als Hilfskonstrukt - für die Fee-Erzählerin vorstelle etc). Ich glaube dennoch, dass es diese: Ich stelle mir den personalen oder auktorialen Erzähler vor UND seinen Adressaten nicht allzu häufig gibt. Weil es eventuell sehr einschränkend ist, nicht in den Raum hinein zu erzählen. Das heißt natürlich nicht, dass es das nicht gäbe oder dass diese Vorstellung nicht genau das Richtige für eine ganz bestimmte Art zu erzählen wäre.

 

Bei Ich Erzählern kennt man das ja: Der Junge, der seine Adressaten duzt (Gleichgesinnte) oder siezt (er will bei Erwachsenen Eindruck schinden). Das vorgestellte Publikum ergibt die Haltung des Erzählers. Agressiv, wehmütig, er will sich verteidigen, imponieren etc

 

Ich frage mich, ob es nicht ausreicht, sich die Haltung des Erzählers genau vorzustellen.

 

Wie gesagt, bei der Fee wollte ich die Adressaten-Hilfskonstruktion nicht, sie hätte vollends von den Figuren und der Kammerspielsituation abgelenkt. Aber mir war immer klar, dass die Erzählerin ein einsamer Mensch ist.

 

Und Angelika, ich glaube, wir haben uns auch missverstanden, was den Salter betrifft.

Aber dazu später mehr.

Liebe Grüße

Claudia

Baronsky&Brendler: Liebe würde helfen  Ein Staffelroman 
Februar 21, Kampa

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 Für mich beginnt der Roman wie eines der Gespräche, die später bei den Dinners folgen.

 

Ja, für mich auch.

 

Aber das hier:

 

Auch lese ich das Zitat von Seite 12, Ich werde ihr Leben von innen nach außen beschreiben, von seinem Kern aus, ...nicht wie eine Anweisung an sich selbst, das so zu erzählen. Sondern eine an mich gerichtete Information. Genau wie das Zitat von Seite 45: Habe ich schon gesagt, dass er ein Mann war, der Talent hatte, wenn auch im kleinen Rahmen?

lese ich anders. Ich – das Publikum – bin keine Größe für diesen Erzähler. Zwar stellt er eine Frage, aber die wird ja sofort weiter gesponnen in Erzählung: ...wenn auch im kleinen Rahmen ...

 

Einen Erzähler, der nicht nur als solcher hörbar ist, sondern sich hörbar an ein Publikum richtet, kenne ich eigentlich nur aus antiquierten Geschichten:

 

"Und so", sprach der alte Trapper am Lagerfeuer zu uns, "endet meine Geschichte. Schlaft nun wohl und vergesst nie der wahren Treu im Himmel und auf Erden."

 

Oder bei Kinderbüchern:

 

Kennt ihr eigentlich Seebühl? Das Gebirgsdorf Seebühl? Seebühl am Bühlsee? Nein? Nicht? [Kästner, Das Doppelt Lottchen]

 

Hat denn da jemand ein Beispiel?

Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

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Hab mich tatsächlich nicht gut ausgedrückt, ich meine DAS:

 

Es ist aber auch nicht so, dass der Erzähler selber ahnungslos darin herum irrt. Er  t u t  allerdings so – so kommt es mir vor.

 

Ich nehme es auch so wahr, dass der Erzähler aus dieser Welt stammt, sich vorzüglich auskennt. Er will das Leben erforschen, über das Leben berichten - das Leben ist ihm das Geheimnisvolle, das Fremde, er will es aufspüren in dieser Welt, die ihm bekannt ist bis in die kleinste Einzelheit, deshalb diese Nähe-Distanz-Haltung, ganz vereinfacht ausgedrückt.

Dies nur in aller Kürze!

Claudia

Baronsky&Brendler: Liebe würde helfen  Ein Staffelroman 
Februar 21, Kampa

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Und schnell nochmal.

 

Sie tut alles, sie tut nichts. – Wäre dieser letzte Satz ganz und gar die Auffassung des Autors, müsste der sich ja wohl die Frage gefallen lassen, ob da kein Unterschied besteht zwischen alles und nichts. Mit kam es so vor, als sei diese Auskunft zum Teil dem Selbstverständnis der Figur (und ihrer Umgebung) entsprungen: Mensch, Nedra, sagt die Umgebung, du schrubbst tatsächlich die Böden, du, das Luxusgeschöpf? Du tust wohl alles für deine Familie, dein Haus? Und sie antwortet graziös: Aber das ist doch nichts, ich bitte dich.

 

Ich finde, dieser Satz: Sie tut alles, sie tut nichts ist einer derjenigen Sätze, die diesem Roman diesen einmaligen Klang verleihen. Diese ganzen, ständigen Beschreibungen der glänzenden, polierten, alten, schönen Gegenstände nehme ich immer als große Leere wahr, was ist dahinter, nichts, auch, wie sie reden, leichthin, über Nichtigkeiten und Pseudowichtigkeiten, ist ebenso leer, eine große Leere in der Fülle, in der Schönheit, bei der auch die Natur mitspielt, eine große Sinnlosigkeit. (Die Sinnlosigkeit des Lebens vielleicht ...)

Aber ich muss noch weiterlesen, bin ja noch nicht durch mit dem Buch.

Liebe Grüße

Claudia

Baronsky&Brendler: Liebe würde helfen  Ein Staffelroman 
Februar 21, Kampa

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was mir in Sachen Erzählstimme noch durch den Kopf geht, ist nicht nur die Sache mit dem "wo im Raum steht der Erzähler?", sondern auch: An wen wendetet er sich? Wem erzählt er die Geschichte?

 

Diese Frage auf 3.-Person-Erzähler anzuwenden, finde ich gerade sehr inspirierend. Und schwierig …

Bei Ich-Erzählern habe ich da etwas mehr Erfahrung – und da ist mir jetzt aufgefallen, dass ich die Frage, wem sie erzählen, vor allem bei kürzeren Texten extrem wichtig fand. Ich vermute, weil bei kürzeren Texten die Frage des Weglassens so eine große Rolle spielt. Da muss der Erzähler genau wissen, was er aussprechen will und was nicht.

 

Bei "Visby" hatte ich einen Ich-Erzähler mit klarem Adressaten, der aus einem konkreten Grund für eine konkrete Person erzählt – und sich sehr genau überlegt, was er wie sagt bzw. vor allem, was er nicht sagt. Und außerdem eine Ich-Erzählerin, die "für sich" erzählt bzw. für einen unbestimmten Adressaten. Die erzählt, um sich selbst noch mal zu vergegenwärtigen, was da passiert ist, und die sich dabei als Zuhörer/Leser einen wohlwollenden Fremden vorstellt. In kürzeren Texten hatte ich dagegen eigentlich immer Modell A: eine klar definierte Erzählsituation, die auch in der Geschichte vorkam.

 

Bei naher personaler Perspektive "sehe" ich den Erzähler meist als Sekundanten der Figur, glaube ich. Er steht ihr zu Seite, auch wenn sie Mist baut, aber er hat sich nicht einzumischen. Bei etwas distanzierteren Erzählern … Wie gesagt, da fange ich gerade erst an nachzudenken. Da wäre ich auch sehr dankbar für weitere Erfahrungsberichte!

 

 

Die Frage von Lisa finde ich auch sehr spannend, weil ich bisher selbst, wie du so treffen beschreibst, Barbara, den Erzähler in der nahen personalen Perspektive als Sekundanten (tolles Bild!) einsetze.

Jetzt habe ich gestern, angetriggert durch diese Diskussion, in den ersten Rabbit-Band von John Updike (Hasenherz) noch einmal reingelesen.

Er hat m.E. einen sehr nahen personalen Erzähler, der seine Person aber nicht sekundierend zur Seite steht, sondern auch ein bisschen wie ihr bewusster Beobachter daher kommt. Der Erzähler macht sich Dinge bewusst, die vielleicht der Figur in dem Moment nicht selbst bewusst sind.

 

 

Besipiel, Seite 13, rororo. Ausgabe:

(Szene: Rabbit kommt nach Hause, seine schwangere Frau Janice betrunken vor der Glotze. Ihn ekelt das an. Er kann sich aber gleichzeitig auch nicht dem entziehen, was in der Glotze läuft.)

  "Der große Mausketier tritt auf. Jimmy, ein erwachsener Mann mit runden schwarzen Ohren. Rabbit läßt kein Auge von ihm, er hat Respekt vor ihm. Er hofft immer, dass er von ihm etwas lernen kann, was ihm bei seiner eigenen Arbeit von Nutzen sein könnte, und die besteht darin, daß er in ein paar billigen Warenhäusern in und um Brewer ein Küchengerät vorführt."

 

Oder die Szene ganz am Anfang des Buchs. Da kippt Updike sogar einmal kurz aus der Perspektive, was mich einmal dazu verleitet hat anzunehmen, dass er einen auktorialen Erzähler hat. Hat er aber m.E. nicht, da er dafür zu sehr immer nur aus Rabbits Perspektive die Dinge schildert und in seinem Kopf drin ist.

 

Erste Szene: Jungen, die Basketball spielen und Rabbit schaut zu:

"Er (Rabbit) steht da und denkt: die Bengel kommen immer näher, sie umzingeln dich noch. Und dass er so dasteht, bringt die Jungen in Verlegenheit. Sie schielen aus den Augenwinkeln zu ihm hin. Sie spielen hier zu ihrem eigenen Vergnügen und nicht für so einen Erwachsenen [...]. Wo ist sein Auto? Die Zigarette macht das ganze noch mulmiger..."

 

Irgendwie könnte es ja auch alles das sein, was Rabbit denkt und nicht die Jungen. Er war ja selbst erst vor ein paar Jahren so ein Jugendlicher (er ist 26 Jahre als in dieser Szene), der auf der Straße gespielt hat. Es könnte ja sein, dass Rabbit sich in die Jungs reinversetzt und es eigentlich seine Gedanken/Gefühle sind, die hier geschildert werden. Die Jungen bekommen nämlich sonst keine besondere Form/Charakter. Sie sind nur Statisten.

 

Diese Art von Perspektive kommt nur ganz am Anfang der Szene. Dann wird alles aus Rabbits Sicht geschildert. Aber auch hier kommen dann wieder Gedanken, die er vielleicht als Figur so gar nicht hat. Die zwar zutreffen auf die Situation und seine Gefühle, aber die die Figur Rabbit so niemals äußern würde.

 

Für mein Empfinden steht dieser Erzähler immer hinter der Figur, aber er hat auch Zugang zu ihrem Unterbewusstsein und macht dieses bewusst, wenn es ihm passend erscheint,  obwohl es der Figur nicht bewusst ist.

Das gibt der Figur und dem ganzen Roman eine Tiefe, die der Trivialität der Handlung - Updike schildert in seiner Rabbit-Reihe meist nur Alltag - Brisanz verleiht.

 

Viele Grüße,

Juliane

Bearbeitet von JulianeB

"Man kann auf seinem Standpunkt stehen, aber man sollte nicht darauf sitzen."

Erich Kästner Vorträge und Lesungen einstudieren  und  Autorenseite Juliane Breinl

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Liebe Angelika,

einen Erzähler, der mich klar bzw. direkt anspricht, habe ich nicht gemeint. So einer kommt ja immer wieder vor, auch in moderneren Büchern. Mir ist grad der Fänger im Roggen eingefallen, der spricht uns ja direkt an (muss das Zitat gleich mal raussuchen). Oder die Beispiele von dir. Salters Erzähler spricht mich nicht direkt an, trotzdem empfinde ich es so, dass er sich immer wieder an mich richtet. So auch zum Beispiel in diesem Zitat von Seite 91: Ihr Leben bestand aus zwei Dingen: es war erstens mehr oder weniger ein Leben - oder zumindest die Vorbereitung auf eines -, und es war zweitens eine Illustration des Lebens für ihre Kinder. Sie hatten das nie so klar ausgedrückt, aber sie waren sich darin einig, und diese zwei Versionen waren miteinander verknüpft - wenn die eine verdeckt war, kam die andere zum Vorschein. In jenen Jahren wollten sie, dass ihre Kinder das Unmögliche bekamen, nicht im Sinne des Unerreichbaren, sondern im Sinne des Reinen.

Bis hier ist er ganz bei dem Leben, das er beschreibt, bei Viri und Nedra. Aber dann geht es so weiter:

Kinder sind unsere Ernte, unsere Felder, unsere Erde. Sie sind in die Dunkelheit entlassene Vögel. Sie sind erneuerte Irrtümer. Und doch sind sie die einzige Quelle, aus der ein Leben geschöpft werden kann, das erfolgreicher, das wissender ist als unser eigenes. Vielleicht werden sie etwas tun, einen Schritt weiter gehen, den Gipfel erblicken. Wir glauben daran, an den Glanz, der aus der Zukunft strömt, aus Tagen, die wir nicht erleben werden. Kinder müssen leben, müssen triumphieren. Kinder müssen sterben; das ist eine Vorstellung, die wir nicht akzeptieren können.

Hier macht der Erzähler das, was Barbara schon angemerkt hat, er sagt seine Meinung über Kinder - aber damit richtet er sich doch an mich, oder? Er erzählt das ja nicht sich selbst. Und den Figuren auch nicht. Das ist sein Wissen über etwas, an dem er mich teilhaben lässt. Er hätte das auch komplett für sich behalten und bei Vidi und Nedra bleiben können. Er kehrt nach diesem Kinderabschnitt auch wieder zu ihnen zurück: ​Es gibt kein Glück wie dieses Glück: ruhige Morgen, Licht vom Fluss, das Wochenende liegt vor einem. Sie lebten ein russisches Leben, ein reiches Leben, ineinander verwoben, in dem das Unglück von einem, ein Misserfolg, eine Krankheit, sie alle ins Wanken brächte. Es war wie ein Gewand, dieses Leben. Seine Schönheit lag außen, seine Wärme innen.

 

Liebe Grüße

Lisa

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Und zur Frage, wem erzählt der Erzähler die Geschichte, habe ich bei Updikes-Erzähler den Eindruck, dass er es mir erzählt, aber es ihm eigentlich völlig egal ist, was ich denke und ob ich das hören will. Er will es einfach loswerden und ich höre zufällig zu. Ich fühle mich nicht direkt angesprochen.

Bearbeitet von JulianeB

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Ja, "Der Fänger im Roggen", Lisa, stimmt. Das ist ein Jugendbuch. Oder "Die neuen Leiden des jungen W." mit seinem He, Leute!

 

Und was du zu Salter weiter sagst, das kann man wohl schon so lesen:

 

Bis hier ist er ganz bei dem Leben, das er beschreibt, bei Viri und Nedra. Aber dann geht es so weiter:

Kinder sind unsere Ernte, unsere Felder, unsere Erde. Sie sind in die Dunkelheit entlassene Vögel. Sie sind erneuerte Irrtümer. Und doch sind sie die einzige Quelle, aus der ein Leben geschöpft werden kann, das erfolgreicher, das wissender ist als unser eigenes. Vielleicht werden sie etwas tun, einen Schritt weiter gehen, den Gipfel erblicken. Wir glauben daran, an den Glanz, der aus der Zukunft strömt, aus Tagen, die wir nicht erleben werden. Kinder müssen leben, müssen triumphieren. Kinder müssen sterben; das ist eine Vorstellung, die wir nicht akzeptieren können.

Hier macht der Erzähler das, was Barbara schon angemerkt hat, er sagt seine Meinung über Kinder - aber damit richtet er sich doch an mich, oder? Er erzählt das ja nicht sich selbst. Und den Figuren auch nicht. Das ist sein Wissen über etwas, an dem er mich teilhaben lässt. Er hätte das auch komplett für sich behalten und bei Vidi und Nedra bleiben können. Er kehrt nach diesem Kinderabschnitt auch wieder zu ihnen zurück: ​Es gibt kein Glück wie dieses Glück ...

Ich denke, dass man es aber auch wie einen schwingenden, inneren Monolog der Figuren lesen kann: "Wir ... und unsere Kinder ..."

Wenn es die Meinung des Erzählers ist – okay, offen bleibt das – aber wenn es seine Meinung ist, dann könnte ich ihn kaum ernster nehmen als seine Figuren. Sehr viel mehr als eine Binsenweisheit ist es ja nicht, dieses "mit den Kindern geht das Leben weiter", "sie sollen es mal besser haben" – natürlich glanzvoller ausgedrückt. Dass Nedra und Viri sich so unterhalten, kann ich mir sehr gut vorstellen.

 

Herzlich,

Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

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Spannend, meine Güte. In Jugendbüchern ist die Du/Ihr-Ansprache eines Ich-Erzählers an sein Publikum tatsächlich gang und gäbe, so weit ich das mitbekomme. Da scheint sich der plaudernde Ich-Erzähler (der seien Peer-Group anspricht?) fest etabliert zu haben, so mein Eindruck.

 

Und was das Publikum betrifft, so habe ich auch den Eindruck, dass ein Erzähler gewissermaßen narzisstisch sein kann, sein muss.

Wie Juliane sagt:

"Und zur Frage, wem erzählt der Erzähler die Geschichte, habe ich bei Updikes-Erzähler den Eindruck, dass er es mir erzählt, aber es ihm eigentlich völlig egal ist, was ich denke und ob ich das hören will. Er will es einfach loswerden und ich höre zufällig zu. Ich fühle mich nicht direkt angesprochen."

 

 

Ein Erzähler kann quasi von der Bühne herunter in den Lichtkegel sprechen - aber ob sich jemand in den Zuschauerraum verirrt, ob jemand zuhört und bleibt, das kann er nicht bestimmen. Erzählen, gerade literarisches Erzählen, ist vielleicht immer auch wie die Suche nach dem unbekannten Zuhörer in der Schwärze des Welt-/Bühnenraums, eine Expedition in unbekannte Weiten mit ungewissem Ausgang. Gibt es einen Alien, der genau meine Art der Wahrnehmung und sie auszudrücken, versteht? - Ich sehe das Erzählen - und auch wenn ich Salter nicht kennen, scheint es mir auch bei ihm sehr so, wie ihr ihn beschreibt - , immer auch als Erkundung. Vielleicht nicht die sehr plotorientierten Geschichten nach bewährtem Muster, aber die, die sprachliche und formale Grenzen ausloten. Wer das hören will - man weeß et nich.

 

Liebe Grüße

Anna

Bearbeitet von AnnaW

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Hallo ihr Lieben, ich hinke mit dem Posten gerade in wenig hinterher, finde die Diskussion aber auch total spannend!!

 

Erst mal Salter: Sehr interessant, wie unterschiedlich man den Erzähler sehen kann. Dass er die Welt, über die er spricht, sehr genau kennt, darin scheinen wir uns alle einig zu sein. Wobei ich unter "Welt" vor allem das Äußere fassen würde: die Gegend, die Stadt, die Gesellschaftschicht, diesen Typ von Menschen. Das alles ist ihm vertraut, das beschwört er für uns herauf (oder für sich?).

 

Sobald es jedoch um die konkreten Figuren geht – um das Innenleben der Figuren und darum welche Kräfte in ihnen wirken – steht der Erzähler meinem Eindruck nach genau so vor Rätseln, wie jeder es täte, der sie nur von außen kennt. Also jeder, der nicht "Autor" ist, sie nicht erfunden hat. Ich glaube, genau das macht diesen Erzähler für mich so stark zu einer eigenen Person. Er ist eben nicht allwissend. Er führt die Figuren nicht am Draht wie Marionetten. Er ist Beobachter. Vor allem, wenn es um Nedra geht.

 

Zum Beispiel der Satz, den ihr schon ein paarmal zitiert habt: Ich werde ihr Leben von innen nach außen beschreiben […] Starke Ansage, aber was er dann macht, ist doch, uns mit Details zu überhäufen, die zwar schöne Bilder ergeben, aber alle im Außen spielen. D.h. mit "innen" meint er offenbar ihr Zuhause. Und wenn er "ihr Leben" beschreibt, dann beschreibt er, wie sie handelt, wie sie sich bewegt. Über ihr Innenleben sagt er nur, was ein wacher Beobachter wahrnehmen könnte: Ihre Träume hängen noch an ihr, schmücken sie; sie ist selbsicher, ruhig, man denkt bei ihr an langhälsige Tiere, an Wiederkäuer, vergessene Heilige. Sie ist vorsichtig, es ist schwer, sich ihr zu nähern. (Nebenbei, was ist das schon wieder für eine geniale Beschreibung: man denkt an Wiederkäuer, an vergessener Heilige!!)

 

Das bezieht sich jetzt allerdings alles auf den Anfang - ich habe gerade erst angefangen, den Roman noch mal zu lesen. In Erinnerung habe ich es allerdings so, dass man Nedra eigentlich bis zum Schluss fast nur von außen sieht. Während man Viri ein wenig mehr in die Karten schaut. Aber auch bei ihm beobachtet der Erzähler vor allem von außen, was er tut.

 

Der Erzähler macht darum auch auf mich den Eindruck, dass er erzählt, um sich selbst einen Überblick zu verschaffen, und dabei doch ständig ins Gewirr der Details gerät. Die einen "blenden", wie er selbst sagt. Ich sehe ihn eher nicht als den souveränen Erzähler, der seine Geschichte voll im Griff hat.

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Jetzt habe ich gestern, angetriggert durch diese Diskussion, in den ersten Rabbit-Band von John Updike (Hasenherz) noch einmal reingelesen.

Er hat m.E. einen sehr nahen personalen Erzähler, der seine Person aber nicht sekundierend zur Seite steht, sondern auch ein bisschen wie ihr bewusster Beobachter daher kommt. Der Erzähler macht sich Dinge bewusst, die vielleicht der Figur in dem Moment nicht selbst bewusst sind.

 

 

Besipiel, Seite 13, rororo. Ausgabe:

(Szene: Rabbit kommt nach Hause, seine schwangere Frau Janice betrunken vor der Glotze. Ihn ekelt das an. Er kann sich aber gleichzeitig auch nicht dem entziehen, was in der Glotze läuft.)

  "Der große Mausketier tritt auf. Jimmy, ein erwachsener Mann mit runden schwarzen Ohren. Rabbit läßt kein Auge von ihm, er hat Respekt vor ihm. Er hofft immer, dass er von ihm etwas lernen kann, was ihm bei seiner eigenen Arbeit von Nutzen sein könnte, und die besteht darin, daß er in ein paar billigen Warenhäusern in und um Brewer ein Küchengerät vorführt."

 

Oder die Szene ganz am Anfang des Buchs. Da kippt Updike sogar einmal kurz aus der Perspektive, was mich einmal dazu verleitet hat anzunehmen, dass er einen auktorialen Erzähler hat. Hat er aber m.E. nicht, da er dafür zu sehr immer nur aus Rabbits Perspektive die Dinge schildert und in seinem Kopf drin ist.

 

Erste Szene: Jungen, die Basketball spielen und Rabbit schaut zu:

"Er (Rabbit) steht da und denkt: die Bengel kommen immer näher, sie umzingeln dich noch. Und dass er so dasteht, bringt die Jungen in Verlegenheit. Sie schielen aus den Augenwinkeln zu ihm hin. Sie spielen hier zu ihrem eigenen Vergnügen und nicht für so einen Erwachsenen [...]. Wo ist sein Auto? Die Zigarette macht das ganze noch mulmiger..."

 

Nur am Rande, liebe Juliane, weil mich das Thema lange beschäftigt hat: Für mich ist das ein tolles Beispiel, weshalb die Unterscheidung zwischen "auktorial" und "personal" oft total künstlich und nutzlos ist. Klar, bei einem nahen personalen Erzähler sind plötzliche Sprünge in eine andere Person verwirrend und irritierend. Aber wenn der Erzähler sowieso schon so viel Distanz hält wie Updikes Erzähler zu Rabbit, wieso soll er da nicht zwischendurch mal was berichten, was  genau genommen in einer anderen Figur spielt? Störend fände ich es nur, wenn es einen Bruch in dem Bild erzeugte, das man sich von dem Erzähler macht. Und du schreibst ja schon, dass dieser Erzähler auch sonst oft besser über Rabbit Bescheid weiß als Rabbit selbst.

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Ein Erzähler kann quasi von der Bühne herunter in den Lichtkegel sprechen - aber ob sich jemand in den Zuschauerraum verirrt, ob jemand zuhört und bleibt, das kann er nicht bestimmen. Erzählen, gerade literarisches Erzählen, ist vielleicht immer auch wie die Suche nach dem unbekannten Zuhörer in der Schwärze des Welt-/Bühnenraums, eine Expedition in unbekannte Weiten mit ungewissem Ausgang. Gibt es einen Alien, der genau meine Art der Wahrnehmung und sie auszudrücken, versteht?

 

Das finde ich toll beschrieben. Genau so fühle ich mich gerade, mal wieder …

 

Aber gibt es bei Erzählern nicht schon Unterschiede darin, wie stark sie ihr Publikum umwerben? Oder wie sicher sie sich ihres Publikums sind?

Gut, ich weiß jetzt selbst nicht, nach welchen Kriterien man das beurteilen soll. Mir ist nur aufgrund von eurem Bild, Claudia und Anna, aufgefallen, dass ich Salters Wir-Anfang durchaus als leicht "umwerbend" empfinde. Und dann ist mir der erste Satz von "Stolz und Vorurteil" wieder eingefallen (ich hab's leider nur auf Englisch): It is a truth universally acknowledged, that a single man in possession of a good fortune must be in want of a wife. Daraus spricht doch eine solche Sicherheit, wie das Publikum dieses Erzählers aussieht, oder? Ein Satz aus einer anderen Zeit.

 

Aber ich weiß selbst nicht. Vielleicht ist das überinterpretiert.

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Hallo ihr Lieben, ich hinke mit dem Posten gerade in wenig hinterher, finde die Diskussion aber auch total spannend!!

 

Erst mal Salter: Sehr interessant, wie unterschiedlich man den Erzähler sehen kann. Dass er die Welt, über die er spricht, sehr genau kennt, darin scheinen wir uns alle einig zu sein. Wobei ich unter "Welt" vor allem das Äußere fassen würde: die Gegend, die Stadt, die Gesellschaftschicht, diesen Typ von Menschen. Das alles ist ihm vertraut, das beschwört er für uns herauf (oder für sich?).

 

Sobald es jedoch um die konkreten Figuren geht – um das Innenleben der Figuren und darum welche Kräfte in ihnen wirken – steht der Erzähler meinem Eindruck nach genau so vor Rätseln, wie jeder es täte, der sie nur von außen kennt. Also jeder, der nicht "Autor" ist, sie nicht erfunden hat. Ich glaube, genau das macht diesen Erzähler für mich so stark zu einer eigenen Person. Er ist eben nicht allwissend. Er führt die Figuren nicht am Draht wie Marionetten. Er ist Beobachter. Vor allem, wenn es um Nedra geht.

 

Zum Beispiel der Satz, den ihr schon ein paarmal zitiert habt: Ich werde ihr Leben von innen nach außen beschreiben […] Starke Ansage, aber was er dann macht, ist doch, uns mit Details zu überhäufen, die zwar schöne Bilder ergeben, aber alle im Außen spielen. D.h. mit "innen" meint er offenbar ihr Zuhause. Und wenn er "ihr Leben" beschreibt, dann beschreibt er, wie sie handelt, wie sie sich bewegt. Über ihr Innenleben sagt er nur, was ein wacher Beobachter wahrnehmen könnte: Ihre Träume hängen noch an ihr, schmücken sie; sie ist selbsicher, ruhig, man denkt bei ihr an langhälsige Tiere, an Wiederkäuer, vergessene Heilige. Sie ist vorsichtig, es ist schwer, sich ihr zu nähern. (Nebenbei, was ist das schon wieder für eine geniale Beschreibung: man denkt an Wiederkäuer, an vergessener Heilige!!)

 

Das bezieht sich jetzt allerdings alles auf den Anfang - ich habe gerade erst angefangen, den Roman noch mal zu lesen. In Erinnerung habe ich es allerdings so, dass man Nedra eigentlich bis zum Schluss fast nur von außen sieht. Während man Viri ein wenig mehr in die Karten schaut. Aber auch bei ihm beobachtet der Erzähler vor allem von außen, was er tut.

 

Der Erzähler macht darum auch auf mich den Eindruck, dass er erzählt, um sich selbst einen Überblick zu verschaffen, und dabei doch ständig ins Gewirr der Details gerät. Die einen "blenden", wie er selbst sagt. Ich sehe ihn eher nicht als den souveränen Erzähler, der seine Geschichte voll im Griff hat.

 

Total spannend, Barbara! Das hier: Sobald es jedoch um die konkreten Figuren geht – um das Innenleben der Figuren und darum welche Kräfte in ihnen wirken – steht der Erzähler meinem Eindruck nach genau so vor Rätseln, wie jeder es täte, der sie nur von außen kennt. Also jeder, der nicht "Autor" ist, sie nicht erfunden hat -  hat bei mir für mein Projekt grade total viel angestoßen. Stichwort von außen erzählen.

 

Bei Lichtjahre wirkt der Erzähler auf mich souverän (wobei unsere Diskussion grade wunderbar zeigt, was für eine Bandbreite in Sachen souveräner Erzähler es gibt!). So wie er sein Material auswählt und anordnet, wie der Roman von Anfang bis Ende durchkomponiert ist (am Ende stehen wir wieder am Ufer des Flusses, auch das wir), so wie er die Figuren mit Bildern verbindet, an Wiederkäuer, vergessene Heilige, wirkt er auf mich nicht wie ein Erzähler, der sich selbst einen Überblick verschafft, der seine Geschichte nicht im Griff hat. Auch wirkt es auf mich nicht so, dass ihn die Details blenden, dass er in ihr Gewirr gerät, sondern dass er diese Gesellschaftsschicht und speziell die Ehe/das Leben von Viri und Nedra ohne diese blendeten Details gar nicht abbilden könnte. Diese Details, diese unendlichen Facetten, die sich überallhin ausbreiten, das Fehlen von klaren Formen, das ist doch das, was diese Ehe ausmacht.

 

Wenn ich es richtig in Erinnerung habe - ich fange auch grad wieder an ;-) - dann kriegt man auch nach und nach mehr Innenleben von Viri und Nedra mit. Vor allem nach der Scheidung hatte ich das Gefühl, dass diese blendend Oberfläche durchbrochen wird und man mehr von ihrem Innenleben mitbekommt, jetzt, wo sie eben nicht mehr ein Ehepaar sind (von Viri noch mehr als von ihr). Dieses Zitat hatte ich mir von früheren Lesedurchgängen markiert, Zitat (Berlin Verlag Taschenbuch Seite 248), auf der Londonreise, kurz vor der Scheidung: Viri war wie benommen von diesem Bild, ein Bild, mit dem er selbst andere so oft beeindruckt hatte, eheliche Gemeinschaft in ihrer reinsten, großzügigsten Form. Er war plötzlich verletzbar, hilflos. Es schien, als wüsste er nichts, als hätte er alles vergessen. Er versuchte, die Schattenseiten ihrer Zufriedenheit zu entdecken, aber die Oberfläche blendete ihn. Claires Hände, an denen sie keine Ringe trug, die schmale Nacktheit ihrer Finger, verwirrten ihn, die Form ihrer Wangen, ihrer Knie. Er erschrak tief, es war der Moment des Schreckens, den man niemandem gestehen kann, der Moment, wenn einem klar wird, dass das eigene Leben ein Nichts ist.

Nedra sah es auch, aber für sie bedeutete es etwas anderes: der Beweis, dass Leben Egoismus verlangte, dass man sich zurückziehen musste und dass selbst in einem fremden Land eine völlig unbekannte Frau ihr dies so unmissverständlich zeigen konnte, denn die Albas, dessen war sie sich sicher, bestanden auf einer bestimmten Art von Leben und keiner anderen, und sie hatten es - zu ihrem Glück - zusammen gefunden. (...)

Kurz nach dieser Stelle sagt Nedra, dass sie nicht mehr in ihr altes Leben zurück möchte.

 

Aber ich muss wie gesagt auch erst noch mal von vorne und am Stück lesen. Was für mich gerade ein toller Gedankenanstoß von dir, Barbara, war, ist die Sache mit dem souveränen Erzähler. Ich kau jetzt mal auf dem Gedanken herum, dass ein Erzähler auch souverän sein kann, wenn er nichts über das Innenleben seiner Figuren preisgibt, sondern sie nur von außen beschreibt. Das bedeutet ja nicht automatisch, dass er das Innenleben nicht kennt, sondern dass er sich dazu entschlossen hat, uns die Figur so zu beschreiben. Weil vielleicht genau dadurch ihre große Einsamkeit sichtbar wird (nur ein Beispiel). 

 

Hach, ich finde es superklasse, dass wir hier ja fast wieder ne halbe Leserunde machen :-)

Bearbeitet von Lisa
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Wenn ich es richtig in Erinnerung habe - ich fange auch grad wieder an ;-) - dann kriegt man auch nach und nach mehr Innenleben von Viri und Nedra mit. Vor allem nach der Scheidung hatte ich das Gefühl, dass diese blendend Oberfläche durchbrochen wird und man mehr von ihrem Innenleben mitbekommt, jetzt, wo sie eben nicht mehr ein Ehepaar sind (von Viri noch mehr als von ihr). Dieses Zitat hatte ich mir von früheren Lesedurchgängen markiert, Zitat (Berlin Verlag Taschenbuch Seite 248), auf der Londonreise, kurz vor der Scheidung: Viri war wie benommen von diesem Bild, ein Bild, mit dem er selbst andere so oft beeindruckt hatte, eheliche Gemeinschaft in ihrer reinsten, großzügigsten Form. Er war plötzlich verletzbar, hilflos. Es schien, als wüsste er nichts, als hätte er alles vergessen. Er versuchte, die Schattenseiten ihrer Zufriedenheit zu entdecken, aber die Oberfläche blendete ihn. Claires Hände, an denen sie keine Ringe trug, die schmale Nacktheit ihrer Finger, verwirrten ihn, die Form ihrer Wangen, ihrer Knie. Er erschrak tief, es war der Moment des Schreckens, den man niemandem gestehen kann, der Moment, wenn einem klar wird, dass das eigene Leben ein Nichts ist.

Nedra sah es auch, aber für sie bedeutete es etwas anderes: der Beweis, dass Leben Egoismus verlangte, dass man sich zurückziehen musste und dass selbst in einem fremden Land eine völlig unbekannte Frau ihr dies so unmissverständlich zeigen konnte, denn die Albas, dessen war sie sich sicher, bestanden auf einer bestimmten Art von Leben und keiner anderen, und sie hatten es - zu ihrem Glück - zusammen gefunden. (...)

Kurz nach dieser Stelle sagt Nedra, dass sie nicht mehr in ihr altes Leben zurück möchte.

Ah – sehr interessant, Lisa! Ja, da blickt der Erzähler sehr viel mehr ins Innere, als ich es in Erinnerung hatte. Ich muss wirklich erst mal weiterlesen.

 

Die Sache mit der Souveränität finde ich aber auch sehr spannend. Für mich wäre es zum Beispiel kein Widerspruch, wenn ein Erzähler souverän seine Geschichte komponiert und dennoch die Figuren nicht bis ins Innerste durchschaut. Es ist – finde ich – eher eine Frage, wie sein Verhältnis zu diesen Figuren definiert ist: "Gehören" sie ihm? Oder steht er ihnen gleichberechtigt gegenüber wie ein gewöhnlicher Mensch einem anderen? Das wird jetzt allerdings sehr abstrakt, gebe ich zu, und zur Illustration fallen mir gerade nur Ich-Erzähler ein.

 

Ich denke mal weiter nach, und lese weiter …

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Die Sache mit der Souveränität finde ich aber auch sehr spannend. Für mich wäre es zum Beispiel kein Widerspruch, wenn ein Erzähler souverän seine Geschichte komponiert und dennoch die Figuren nicht bis ins Innerste durchschaut. Es ist – finde ich – eher eine Frage, wie sein Verhältnis zu diesen Figuren definiert ist: "Gehören" sie ihm? Oder steht er ihnen gleichberechtigt gegenüber wie ein gewöhnlicher Mensch einem anderen? Das wird jetzt allerdings sehr abstrakt, gebe ich zu, und zur Illustration fallen mir gerade nur Ich-Erzähler ein.

 

Ich denke mal weiter nach, und lese weiter …

 

Ja, das finde ich auch super spannend! Vor allem auf diesem Punkt kaue ich herum:  Oder steht er ihnen gleichberechtigt gegenüber wie ein gewöhnlicher Mensch einem anderen? Bei Lichtjahre ist der Erzähler ja in so vielen Situationen dabei - wenn Nedra zum Beispiel mit Jivan schläft (by the way, da fällt mir gerade ein, dass ich glaube mich zu erinnern (ich kann aber auch komplett falsch liegen!), dass wir in dem ganzen Roman nicht eine einzige Sexszene zwischen Viri und Nedra erleben, nur zwischen Nedra und anderen Männern (Jivan, André, Brom, usw) und Viri und Kaya und die Italienerin) - die ein gewöhnlicher Mensch ja nicht mitbekommen würde. Schon gleich zu Beginn, die Szene in der Badewanne, wenn Viri allein ist und die Zeitung liest. Da ist der Erzähler ja dabei, wie es kein gewöhnlicher Mensch kann (oder nur schwer). Aber bestimmt ist das auch kein Widerspruch! Ich finde die Idee eines Erzählers, der überall dabei ist und dem das Innere der Figuren trotzdem nicht gehört, der dem Inneren genauso gleichberechtigt gegenüber steht wie ein gewöhnlicher Mensch einem anderen, total faszinierend. 

 

Ich denke auch mal weiter nach und lese weiter ... :-)

Bearbeitet von Lisa
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Ja, das finde ich auch super spannend! Vor allem auf diesem Punkt kaue ich herum:  Oder steht er ihnen gleichberechtigt gegenüber wie ein gewöhnlicher Mensch einem anderen? Bei Lichtjahre ist der Erzähler ja in so vielen Situationen dabei - wenn Nedra zum Beispiel mit Jivan schläft (by the way, da fällt mir gerade ein, dass ich glaube mich zu erinnern (ich kann aber auch komplett falsch liegen!), dass wir in dem ganzen Roman nicht eine einzige Sexszene zwischen Viri und Nedra erleben, nur zwischen Nedra und anderen Männern (Jivan, André, Brom, usw) und Viri und Kaya und die Italienerin) - die ein gewöhnlicher Mensch ja nicht mitbekommen würde.

 

Ja, klar, der Erzähler ist nicht einfach wie eine Figur im Roman, die von ganz vielem ausgeschlossen wäre, völlig einverstanden. Meine Frage wäre, ob er die Figuren bis ins Innere kennt – so wie ein realer Mensch einen anderen realen Menschen gar nicht kennen kann, nicht mal dann, wenn er ihm Tag und Nacht nicht von der Seite weicht (am Wannenrand sitzt, wenn er badet ;-)), seine Lebensgeschichte kennt, ihn jederzeit über seine Gefühle befragen kann undundund. Bei Salters Erzähler frage ich mich, ob ihm die Figuren nicht letztlich auch rätselhaft bleiben, undurchschaubar.

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