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DirkH

Epische Rückblende

Empfohlene Beiträge

Liebe Mitleser,

 

derzeit treibt mich eine Frage zur Textstruktur um. Darauf gestoßen bin ich zum ersten Mal bei Homers Odyssee. Die hat in etwa folgenden Aufbau: 

1. Odysseus wird an die Küste Phäakiens gespült. Dort lebt er zunächst unerkannt. Irgendwann gibt er sich aber dem König der Phäaken zu erkennen und erzählt seine Geschichte. 

2. In der Rückschau werden die berühmten Irrfahrten des Odysseus erzählt. 

3. Odysseus kehrt heim und nimmt Rache an den Freiern, die seine Frau und sein Heim bedrängen. (Entschuldigt bitte den Spoiler)

 

Jetzt stoße ich in John Miltons "Das verlorene Paradies" auf eine ähnliche Struktur.

1. Satan und seine Heerscharen fallen aus dem Himmel. In der Hölle sinnen sie auf Rache. Satan entkommt der Hölle und dringt in das Paradies ein, um dort seine Rache an den Menschen zu verüben. 

2. Im Paradies erzählt der Erzengel Uriel den ersten Menschen von der Schlacht im Himmel und wie Satan die Auseinandersetzung verlor. 

3. Satan versucht Eva. Der Ausgang der Geschichte ist bekannt.

 

Bei beiden Werken ist der Mittelteil eigentlich eine Rückblende, aber von der Bedeutung und von der Länge her gleichwertig mit dem Schluss. 

 

Was ich mich frage: Wäre eine solche Struktur, die hier ja in beiden Fällen in Versepen angewendet wird, in einem Roman möglich? Oder ist das undenkbar: Eine Art Rückblende, die ein Drittel des Textes einnimmt? Kennt jemand Romane, in denen das funktioniert?

 

(Literaturwissenschaftler mögen mir bitte mangelnde Sachkenntnis, falsche Begriffe und Verkürzungen der Inhalte beider Werke nachsehen.)

 

 

Sagt Abraham zu Bebraham: Kann ich mal dein Cebraham?

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3. Odysseus kehrt heim und nimmt Rache an den Freiern, die seine Frau und sein Heim bedrängen. (Entschuldigt bitte den Spoiler)

:)  :)  :)

 

Hi Dirk,

 

Somerset Maugham hat das gern gemacht. Reiseschriftsteller (vergleichbar mit Odysseus) trifft seltsamen Fremden, der erzählt ihm seine Geschichte. Anfang und Beginn sind da nur der Rahmen.

 

Bei den Moderneren? Frag mal unseren AndreasG, der lässt in seinem letzten Jugendthriller die Protagonistin nach vollbrachter Tat die Geschichte – aus dem Jugendgefängnis schreibend – erzählen.

 

Angelika

Bearbeitet von Angelika Jo

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

www.angelika-jodl.de

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Sebastian Niedlich

Ob so etwas möglich wäre?

Sicher, warum nicht. Die eigentlich Frage wäre: Kommen moderne Leser damit zurecht? Die Frage ist schon schwieriger zu beantworten.

 

Der weitaus häufigere Fall ist sicherlich der, dass eine gesamte Geschichte als Rückblende erzählt wird und quasi nur Anfang und Ende die Geschichte im "Jetzt" klammern. (Vielleicht mit eingestreuten Zwischenspielen, die ebenfalls im "Jetzt" spielen.)

 

Ich denke, dass ein Roman, der quasi zu einem Drittel oder mehr als Rückblende erzählt wird, um dann im "Jetzt" weiterzuspielen, heutzutage vielleicht ungewöhnlich ist, aber das Ganze trotzdem funktionieren kann, wenn es denn einen logischen Grund für diese Erzählweise gibt. Könnte alles "normal" erzählt werden, wird der Leser das vermutlich merken und sich fragen, was das Ganze soll.

Man könnte auch argumentieren, dass gerade bei der Odyssee das Ganze nicht so sinnvoll war, weswegen seitdem in jeder "Bearbeitung" des Stoffs im Grunde alles der Reihenfolge nach erzählt wurde.

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Wichtig finde ich, dass Gegenwartshandlung und Vergangenheitshandlung beide spannend sind und v.a. eigenständig.

Im Prinzip findet man das bei Familiengeheimnisromanen häufig - der Unterschied zwischen einer langen Rückblende und einem verschachtelten Roman, der in verschiedenen Zeitebenen spielt, ist ja marginal. Und beim Familiengeheimnis funktioniert es meistens sehr gut. Schau dir mal Mascha Vassenas "Schattenhaus" an!!

 

LG Ulrike

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Beispiele fallen mir da auf Anhieb nicht ein, bin auch nicht so belesen.

 

Die Frage ist, ob man einen modernen Leser mit der erwähnten Struktur bei Laune halten kann, wie Sebastian schon sagte. Beide deiner Beispiele haben aber schon die Antwort in sich. Die Leser treffen die erwähnten Figuren in einer besonderen Situation an (ausgesetzt, abgestürzt :-) ) Das allein macht ja schon neugierig auf den Grund, warum die Figur diesem Erleben ausgesetzt war.

Ich würde weiterlesen, wenn mich eine anfängliche Ausnahmesituation neugierig macht. Wenn Anfang und Rückblende dann gut gemacht sind, ist es doch ok. Dazu dann das spannende Ende, das ja optimalerweise von vornherein auch suggeriert werden kann. 

 

Brunhilde

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Man nennt diese Struktur auch Rahmenhandlung, und die ist ziemlich üblich.

 

Andrea

Neu: Das Gold der Raben. Bald: Doppelband Die Spionin im Kurbad und Pantoufle

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Wichtig finde ich, dass Gegenwartshandlung und Vergangenheitshandlung beide spannend sind und v.a. eigenständig.

Im Prinzip findet man das bei Familiengeheimnisromanen häufig - der Unterschied zwischen einer langen Rückblende und einem verschachtelten Roman, der in verschiedenen Zeitebenen spielt, ist ja marginal. Und beim Familiengeheimnis funktioniert es meistens sehr gut. Schau dir mal Mascha Vassenas "Schattenhaus" an!!

 

LG Ulrike

 

Danke, dass du meinen Roman als Beispiel heranziehst, Ulrike. :-) Im Schattenhaus wechseln sich die Zeitebenen allerdings ab.

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Ich denke, eine Rahmenerzählung ist sinnvoll, wenn das, was in der Vergangenheit passiert ist, großen Einfluss auf das hat, was in der Gegenwart geschieht.

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Sebastian Niedlich

Ich glaube nicht, dass Dirk speziell eine Rahmenhandlung meint. Eine Rahmenhandlung ist ja mehr etwas, was eine andere Geschichte klammert, also z.B. Kutte erzählt seinen Enkeln, wie er damals im Krieg von Außerirdischen entführt wurde und Mithilfe von Schlafmittelplacebos die außerirdischen Frauen verführt hat, um wieder zurück zur Erde zu kommen. Anfang und Ende der Geschichte (und vielleicht auch etwas mittendrin) spielen sich zwischen Kutte und den Enkeln ab.

 

Dirk meint eher etwas, wo die Rahmenhandlung z.B. nur das erste Drittel des Buches ausmacht, um dann ganz anders im Rest des Buches fortgesetzt zu werden. Beispiel: Ein islamischer Terrorist wird von den Behörden befragt, wie er denn dazu gekommen ist und er erzählt es denen in einer exzessiven Rückblende, nur um nach der Erzählung zu fliehen, den Hope-Diamanten zu stehlen / alle Zoo-Tiere zu befreien / die Atomcodes zu klauen, die große Liebe zu finden und sein Glück als sibirischer Bergbauer zu versuchen.

 

Oder habe ich das falsch verstanden?

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Dirk meint eher etwas, wo die Rahmenhandlung z.B. nur das erste Drittel des Buches ausmacht, um dann ganz anders im Rest des Buches fortgesetzt zu werden. Beispiel: Ein islamischer Terrorist wird von den Behörden befragt, wie er denn dazu gekommen ist und er erzählt es denen in einer exzessiven Rückblende, nur um nach der Erzählung zu fliehen, den Hope-Diamanten zu stehlen / alle Zoo-Tiere zu befreien / die Atomcodes zu klauen, die große Liebe zu finden und sein Glück als sibirischer Bergbauer zu versuchen.

 

Oder habe ich das falsch verstanden?

 

Im Familiengeheimnisroman dienen die Rückblenden dazu, das Geheimnis zu offenbaren, z.B. fremdgehen, weswegen Opa kein Opa ist oder so und dass der Cousin, in den man sich verliebt hat, gar kein Cousin ist und der Liebe nichts im Wege steht (sehr plattes Bsp.)

Nur, dass diese Romane in verschiedenen Zeitebenen spielen. Es fehlt vielleicht ein "ich erzähl euch jetzt, was ich als junge Frau erlebt habe" - über dem Kapitel steht einfach "Rom 1962".

 

Dirk, war es das,, was du gemeint hast?

Jedenfalls funktioniert es - wenn beide Geschichten spannend sind und sie sich gegenseitig nicht spoilern.

 

Ansonsten gibt es natürlich im Thrillerbereich auch die Fälle, wo im Prolog eine spannende Szene aus der Mitte der Geschichte erzählt wird - Dann ein "5 Tage vorher" und es wird von vorne erzählt.

Aber das ist wohl nicht ganz, was Dirk meinte.

 

LG Ulrike

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Danke für Eure Einschätzungen. 

 

@Sebastian: Da hast Du mal eben den Inhalt von mindestens drei Bestsellern hingetupft. Gratuliere! Auf die Texte bin ich schon gespannt. 

 

Es ist tatsächlich so, wie Sebastian sagt: Ich meine keine Rahmenhandlung, die ja tatsächlich recht üblich ist. Sondern eine Aufteilung des Textes in drei etwa gleich lange Teile, sagen wir ruhig jeweils 200 Seiten, um es plastisch zu machen. Der zweite Teil beschreibt die Geschehnisse, die den ersten Teil ausgelöst haben, dort aber nur angedeutet wurden. Der dritte Teil setzt wieder an den zweiten Teil an. 

 

Ansonsten soll es aber keine Rückblenden oder Rückgriffe geben. 

 

Je länger ich darüber nachdenke, desto reizvoller erscheint mir diese Art Aufbau. 

Sagt Abraham zu Bebraham: Kann ich mal dein Cebraham?

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Ich habe gerade "Versunken" gelesen, einen Thriller von Sabine Thiesler. Der ist in vier Teile gegliedert und der zweite Teil besteht aus einer langen Rückblende. Dort wird sehr ausführlich die Kindheit des Mörders erzählt, wie er zunächst ein glücklicher kleiner Junge war mit liebevollen Eltern, wie diese Eltern bei einem Autounfall starben und der Junge eine traumatische Nacht allein zu Hause verbrachte, wie er dann von seiner grässlichen Tante aufgenommen wurde und einen völligen Bruch erlebte mit Umzug vom Dorf in die Stadt, Mobbing in der Schule, Misshandlung durch die Tante. Das alles soll natürlich erklären, warum dieser Mensch wurde wie er später ist. Nun gibt es das in Krimis und Thrillern ja oft, dass Taten mit einer schlimmen Kindheit erklärt werden, und meistens fließen dann in die laufende Handlung kurze Erinnerungen oder Andeutungen ein. Aber mir ist aufgefallen, dass diese epische Breite, in der das hier erzählt wird, tatsächlich dazu führt, dass man sich dabei ertappt, eine seltsame Form von Verbundenheit mit dem Täter zu entwickeln.

 

LG Luise

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Danke für Eure Einschätzungen. 

 

@Sebastian: Da hast Du mal eben den Inhalt von mindestens drei Bestsellern hingetupft. Gratuliere! Auf die Texte bin ich schon gespannt. 

 

Es ist tatsächlich so, wie Sebastian sagt: Ich meine keine Rahmenhandlung, die ja tatsächlich recht üblich ist. Sondern eine Aufteilung des Textes in drei etwa gleich lange Teile, sagen wir ruhig jeweils 200 Seiten, um es plastisch zu machen. Der zweite Teil beschreibt die Geschehnisse, die den ersten Teil ausgelöst haben, dort aber nur angedeutet wurden. Der dritte Teil setzt wieder an den zweiten Teil an. 

 

Ansonsten soll es aber keine Rückblenden oder Rückgriffe geben. 

 

Je länger ich darüber nachdenke, desto reizvoller erscheint mir diese Art Aufbau. 

 

Bei "Pippa Lee" wurde genau das in m. E. sehr schöner Form umgesetzt. Die Rückblende wurde außerdem in der Ich-Form geschrieben, während die beiden Teile zur Gegenwart auktorial waren. Das ist zwar kein Krimi, sondern eher Feel Good oder so, aber ein Beispiel, wo es eindeutig funktioniert.

Bearbeitet von HannaT
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