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(Mascha)

Perspektive und Tempus

Empfohlene Beiträge

In den Textkritiken geht es gerade um die Ich-Perspektve, was mich auf eine Frage bringt:

Gehören für euch bestimmte Perspektiven zu bestimmten Tempora?

 

Die Ich-Perspektive ist für mich mit der Gegenwart verbunden: Man ist nah dran, alles wird unmittelbar erfahren. Das macht den Reiz dieser Perspektive aus.

 

Die personale Perspektive verträgt sich sowohl mit Gegenwart als auch mit der Vergangenheit.

 

Die auktoriale Perspektive gehört für mich eher zur Vergangenheit, aber es wäre auch interessant, sie mit dem Präsens zu kombinieren.

 

Wenn die Ich-Perspektive aus der Rückschau benutzt wird, langweile ich mich schnell, da der Erzähler die Ereignisse ja offensichtlich gut überstanden hat, sonst könnte er uns nicht davon erzählen. Dazu stellt sich durch die Rückschau bei mir ein starkes Gefühl von Distanz ein. ich sehe dann immer einen alten Menschen vor mir, der im Lehnstuhl am Kamin sitzt und seinen Enkeln aus seinem Leben erzählt.

 

Wie seht ihr das?

 

 

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Bei der Ich-Perspektive geht es mir genau umgekehrt, Mascha. Ich plus Präsens empfinde ich beim Lesen oft als einengend: Als wollte mich der Autor auf Teufel komm raus mit seiner Figur zusammensperren und mir keinen Platz für Distanz und eigenes Denken lassen. Da frage ich mich manchmal, ob er der eigenen Geschichte so wenig vertraut … Wie gesagt: Das ist meine persönliche Erfahrung beim Lesen. Vielleicht irritiert mich auch ein wenig, dass man mit dieser Erzählweise derzeit regelrecht überschwemmt wird, während sie vor wenigen Jahren noch als hoch artifiziell galt. Aber selbstverständlich gibt es auch im Ich plus Präsens viele richtig gute Romane, bei denen diese Erzählweise genau passt.

 

Umgekehrt hat mich bei rückblickenden Ich-Erzählern noch nie gestört, dass man weiß, dass die Figur überlebt; die Romane beziehen ihre Spannung dann halt aus anderen Konflikten und Fragen. Ganz toll finde ich aber auch Romane, in denen sich Rückblick und Jetztzeit-Handlung verschränken. "Der Unberührbare" von Banville zum Beispiel.

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Ich sehe das genau wie Barbara. Ich schreibe sehr gern in dieser Form, weil es die Persönlichkeit des Erzählers nahe bringt und der Leser so oft näher am Geschehen ist. Ich wähle die Vergangenheit, und ja, manchmal lasse ich eine Bemerkung einfließen, die daran erinnert, dass der Erzähler überlebt hat und vielleicht im Lehnstuhl sitzt. Das gibt aber manchmal dem Text noch eine besondere Würze, besonders da ich zu 99% immer direkt im jeweiligen Geschehen bin. Und auch dem Erzähler nicht zu viele Selbstbetrachtungen gestatte, sondern den Leser selbst beobachten lasse, was um ihn herum geschieht.

 

Die Tatsache, dass der Erzähler überlebt, hat noch keinen Leser gelangweilt, so viel ich weiß. Im Gegenteil, ich bekomme Rückmeldungen, dass die Bücher spannend und kaum wegzulegen sind. Letztens hat einer drei Bände der Normannen-Saga in einer Woche gelesen und nach mehr verlangt.  ;D  Kann nicht langweilig gewesen sein.

Die Montalban-Reihe, Die Normannen-Saga, Die Wikinger-Trilogie, Bucht der Schmuggler, Land im Sturm, Der Attentäter, Die Kinder von Nebra, Die Mission des Kreuzritters, Der Eiserne Herzog, www.ulfschiewe.de

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Ein Überlebender muss auch nicht zwangsläufig gemütlich im Lehnstuhl sitzen. Der kann auch schwer geschädigt sein. Und die Frage ist ja auch immer: wie hat er überlebt? Zu welchem Preis? Hat er in seinem Leben etwas von dem erreichen können, was er wollte?

LG Luise

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Durchgängige Ich-Perspektive und Präsens, wie man es z.Zt. häufig vorfindet, empfinde ich als unangenehm, indiskret und aufdringlich. Der Autor nötigt mich, seiner Figur genauso zu folgen, wie er es will? Danke, nichts für mich!

 

Ebenso missfällt mir eine durchgängige auktoriale Perspektive.

Gerade lese ich (Recherche!) Forsyth, Der Afghane, und fühle mich durch seinen „general overlock“ extrem genervt. Dieses distanzierte erzählen, eher berichten oder sogar aufzählen (aber das ist vielleicht auch Forsyth-typisch) ohne "Live-Szenen" behindert enorm den Facettenreichtum der Figuren. Für mich bleiben sie eindimensional und die Geschichte bekommt keine Dramatik. Danke, auch nichts für mich!

 

Bis man irgendwann etwas anderes erfindet, bleibt für mich also nur die personale Perspektive  :-X.

MAROKKO-SAGA: Das Leuchten der Purpurinseln,  Die Perlen der Wüste,  Das Lied der Dünen; Die Wolkenfrauen

Neu seit März 2020: Thea C. Grefe, Eine Prise Marrakesch

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Hm, dass Ich-Perspektive und Vergangenheit für mein Empfinden nicht gut zusammenpassen, muss ich revidieren. Theoretisch kommt es mir so vor, aber nachdem ich in meinem Bücherregal gewühlt und etliche tolle Romane mit genau dieser Konstellation gefunden habe, ist es wohl doch nicht so. Es sind allerdings Romane, die keine "Lehnstuhl"-Perspektive einnehmen (»damals, als ich jung und unwissend war …«), sondern eher solche mit unzuverlässigen Erzählern.

 

Beim Schreiben würde ich diese Kombination trotzdem nicht wählen, glaube ich, kann allerdings nicht genau begründen, weshalb.

 

Interessant …

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Forsyth war schon mal besser. "Der Afghane" ist ein idiotisches Buch.

Die Montalban-Reihe, Die Normannen-Saga, Die Wikinger-Trilogie, Bucht der Schmuggler, Land im Sturm, Der Attentäter, Die Kinder von Nebra, Die Mission des Kreuzritters, Der Eiserne Herzog, www.ulfschiewe.de

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Hm, dass Ich-Perspektive und Vergangenheit für mein Empfinden nicht gut zusammenpassen, muss ich revidieren. Theoretisch kommt es mir so vor, aber nachdem ich in meinem Bücherregal gewühlt und etliche tolle Romane mit genau dieser Konstellation gefunden habe, ist es wohl doch nicht so. Es sind allerdings Romane, die keine "Lehnstuhl"-Perspektive einnehmen (»damals, als ich jung und unwissend war …«), sondern eher solche mit unzuverlässigen Erzählern.

 

Beim Schreiben würde ich diese Kombination trotzdem nicht wählen, glaube ich, kann allerdings nicht genau begründen, weshalb.

 

Interessant …

 

Das ist vielleicht nur Gewohnheit, Mascha. Ich muss mich auch "umgewöhnen", wenn ich die Ich-Perspektive verlasse. Kommt mir total "strange" vor.  ;D 

Die Montalban-Reihe, Die Normannen-Saga, Die Wikinger-Trilogie, Bucht der Schmuggler, Land im Sturm, Der Attentäter, Die Kinder von Nebra, Die Mission des Kreuzritters, Der Eiserne Herzog, www.ulfschiewe.de

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Durchgängige Ich-Perspektive und Präsens, wie man es z.Zt. häufig vorfindet, empfinde ich als unangenehm, indiskret und aufdringlich. Der Autor nötigt mich, seiner Figur genauso zu folgen, wie er es will? Danke, nichts für mich!

 

(..)

 

Bis man irgendwann etwas anderes erfindet, bleibt für mich also nur die personale Perspektive  :-X.

 

Ein Autor, liebe Doris, will dich immer dazu nötigen, seiner Figur genau so zu folgen, wie er es möchte. Das ist sein – unser – Job! Aber nur ein guter schafft es, das so zu tun, dass du denkst, du willst das auch. ;-)  Maschas Rücknahme ihres ersten Urteils zeigt, finde ich, eines sehr gut: Wir denken, wir mögen etwas nicht, in ihrem Fall die Kombination Ich + Präteritum, und dann sind einige unserer liebsten Bücher genau in dieser Kombination geschrieben. Ich denke, der Grund dafür ist, dass wir zu viele Bücher gelesen haben, wo die erzählerischen Mittel nicht wirklich zusammengepasst haben.

 

Es stimmt, dass die Kombination Ich + Präsens gerade gerne verwendet wird, um Figurennähe, Intensität und Tempo zu erzeugen. Ich glaube aber nicht, dass das zwangsläufig die Wirkung ist, schon gar nicht die einzige. Auch hier behaupte ich: Die Abwehr kommt davon, weil diese Kombination eben falsch gewählt ist und die weiteren erzählerischen Mittel nicht dazu passen, ihr vielleicht sogar widersprechen und sie unterlaufen, was dann zu Irritationen und Abwehr beim Leser führt. Um eine Figur nah oder distanziert zu zeigen, braucht es eben sehr viel mehr, als nur so eine simple Kombination.

 

In meinem aktuellen fantastischen Projekt habe ich auch die Kombination Ich + Präsens, doch es geht mir dabei nicht darum, die Figur so näher an das Leserempfinden heranzurücken. Vielmehr dient mir diese Kombination unter anderem dazu, die wachsende Verunsicherung rüberzubringen angesichts der Erfahrung des Protagonisten, dass die Realität entgleitet und die Figur nicht weiß, wohin und wie weit das noch führt.

 

Wäre es nicht lohnender, sich hier mal zu überlegen, was die einzelnen Mittel sind und was sie in welcher Kombination zu leisten imstande sind? Und was nicht? Die erzählerischen Mittel sind unsere Werkzeuge, und ich rate dazu, dieses oder jenes nicht ohne Not aus dem Werkzeugkasten zu verbannen. Man könnte es ja irgendwann doch noch gebrauchen, und dann steht man schon dumm da. ;-)

 

Andreas

"Wir sind die Wahrheit", Jugendbuch, Dressler Verlag 2020;  Romane bei FISCHER Scherz: "Die im Dunkeln sieht man nicht"; "Die Nachtigall singt nicht mehr"; "Die Zeit der Jäger"

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Interessante Frage.

 

Vielleicht bereitet einem die Kombination Ich + Vergangenheit auch deshalb - manchmal - ein latentes Unwohlsein, weil sie an die alten Schulaufsätze erinnert ("Mein schönstes Ferienerlebnis") und einer Erzählung in dieser Form deshalb besonders schnell dieser Duktus eines Besinnungsaufsatzes anhaften kann?

 

Schwierigkeiten, die sich aus dem vorhersehbaren Ende ergeben, sehe ich nicht so sehr. Es stirbt halt nicht der Ich-Erzähler, sondern vielleicht die Liebe zwischen ihm und der anderen Hauptfigur. Oder es stirbt vielleicht jemand aus dem Umfeld des Ich-Erzählers. Oder es geht gar nicht um den Tod eines Menschen, sondern um den Gewinn von Erkenntnissen. Wofür ich den Ich-Erzähler besonders naheliegend finde.

Ich finde auch die Verwechslungsgefahr Ich-Erzähler/Autor reizvoll - das schafft Authentizität. Den Verdacht auf tatsächlich selbst Erlebtes.

 

Die Kombination Ich + Präsens finde ich komischerweise irgendwie ... verkünstelt. Wenn sie dann noch von einer besonders hippen, aber sperrigen Gebt-mir-einen-Literaturpreis-Sprache begleitet wird, zerstört sie vielleicht auch schnell ausgerechnet den großen Vorteil des Ich-Erzählers: Nähe.

Bearbeitet von AndreasS
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... und ja, manchmal lasse ich eine Bemerkung einfließen, die daran erinnert, dass der Erzähler überlebt hat und vielleicht im Lehnstuhl sitzt. Das gibt aber manchmal dem Text noch eine besondere Würze ..

Ich liebe das.

Ich find Lehnstuhl-Perspektive toll. Und sehe sofort den gealterten, mit Lebenserfahrung randvollen Bilbo vor mir, der eine Kerze anzündet und sich daranmacht, sein Vermächtnis vor mir auszubreiten.

 

Und der Lehnstuhl muss ja nicht das Ende sein. Wenn dann der alte Erzähler und seine Erzählung zu einem großartigen Twist zusammenfinden, ist das ein tolles Erlebnis. Die alte Frau, die stundenlang Peter Pan nacherzählt - und am Ende stellt sich heraus, dass sie selbst Wendy ist. Oder Tinker Bell. Der alte Mann, der unter Tränen von dieser KZ-Geschichte berichtet, und erst ganz am Schluss begreife ich plötzlich, dass er gar nicht der Häftling ist, wie ich die ganze Zeit dachte, sondern der SS-Mann.

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Gehören für euch bestimmte Perspektiven zu bestimmten Tempora?

Nein. Beides hängt für mich davon ab, was der Roman braucht (und/oder was mir mein Bauchgefühl sagt).

Ich+Präsens bedeutet für mich zum Beispiel, dass die Figur im gewissen Sinne isoliert ist. Es gibt für sie im Moment weder die Vergangenheit noch die Zukunft, alles ist auf sie fokussiert. Ich+Vergangenheit bedeutet einen Rückblick, hier muss ich mich fragen: In welchem Moment beschließt die Figur, mir die Geschichte zu erzählen? Warum gerade in diesem Moment? Wie fühlt sich die Figur in diesem Moment (davon hängt dann der Ton der Geschichte ab)? usw.

 

Liebe Grüße,

Olga

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Hm, dass Ich-Perspektive und Vergangenheit für mein Empfinden nicht gut zusammenpassen, muss ich revidieren. Theoretisch kommt es mir so vor, aber nachdem ich in meinem Bücherregal gewühlt und etliche tolle Romane mit genau dieser Konstellation gefunden habe, ist es wohl doch nicht so. Es sind allerdings Romane, die keine "Lehnstuhl"-Perspektive einnehmen (»damals, als ich jung und unwissend war …«), sondern eher solche mit unzuverlässigen Erzählern.

 

Beim Schreiben würde ich diese Kombination trotzdem nicht wählen, glaube ich, kann allerdings nicht genau begründen, weshalb.

 

Interessant …

 

Das ist vielleicht nur Gewohnheit, Mascha. Ich muss mich auch "umgewöhnen", wenn ich die Ich-Perspektive verlasse. Kommt mir total "strange" vor.  ;D 

 

 

Das ist gut möglich, Ulf – vielleicht sollte ich es genau deswegen mal ausprobieren.

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Vielleicht sollte ich auch noch etwas ergänzen.

Ich wollte ganz bestimmt nicht behaupten, das Erzählen im Ich plus Präsens sei einfach nur eine Masche. Falls das so angekommen sein sollte, tut es mir leid. Natürlich gibt es Geschichten, die diese Form brauchen. Ich habe sie auch schon benutzt.

 

Mir geht es ähnlich wie Olga: Ich plus Präsens erzeugt für mich ein Gefühl von Isolation, sowohl in der Zeit als auch in der Beziehung zu den anderen Figuren. Das Ich mit seinen Wahrnehmungen und Gedanken nimmt sehr viel Raum ein, und durch den Kontrast wirkt alles andere oft besonders undurchschaubar oder umrisshaft. Wenn das zur Geschichte passt, dann finde ich das klasse.

 

Trotzdem pralle ich bei Ich und Präsens häufig erst einmal zurück. Evtl. sind mir in letzter Zeit wirklich zu viele schwache oder amateurhafte Texte in dieser Form begegnet. Wenn jemand zwar berichtet, aber dabei scheinbar nur so ins Leere hinein vor sich hinspricht, ob ihm nun jemand zuhört oder nicht, dann muss er schon einen ziemlich starken Auftritt hinlegen, damit ich ihm zuhöre. Etwas ganz anderes sind Anfänge, die mir das Gefühl geben, dass hier jemand wirklich erzählen will und das eben im Präsens tut. "Raum" von Emma Donoghue fängt an mit: "Heute bin ich fünf. Als ich gestern Abend in Schrank eingeschlafen bin, war ich noch vier. Aber dann wache ich im Dunkel in Bett auf und bin plötzlich fünf, Abrakadabra." Da fand ich die Erzählstimme anfangs zwar etwas strange, aber sehr sehr sehr interessant. Ein Gefühl von Beliebigkeit stellt sich da nie ein.

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Vielleicht sollte ich auch noch etwas ergänzen.

Ich wollte ganz bestimmt nicht behaupten, das Erzählen im Ich plus Präsens sei einfach nur eine Masche. Falls das so angekommen sein sollte, tut es mir leid. Natürlich gibt es Geschichten, die diese Form brauchen. Ich habe sie auch schon benutzt.

 

Mir geht es ähnlich wie Olga: Ich plus Präsens erzeugt für mich ein Gefühl von Isolation, sowohl in der Zeit als auch in der Beziehung zu den anderen Figuren. Das Ich mit seinen Wahrnehmungen und Gedanken nimmt sehr viel Raum ein, und durch den Kontrast wirkt alles andere oft besonders undurchschaubar oder umrisshaft. Wenn das zur Geschichte passt, dann finde ich das klasse.

 

Trotzdem pralle ich bei Ich und Präsens häufig erst einmal zurück. Evtl. sind mir in letzter Zeit wirklich zu viele schwache oder amateurhafte Texte in dieser Form begegnet. Wenn jemand zwar berichtet, aber dabei scheinbar nur so ins Leere hinein vor sich hinspricht, ob ihm nun jemand zuhört oder nicht, dann muss er schon einen ziemlich starken Auftritt hinlegen, damit ich ihm zuhöre. Etwas ganz anderes sind Anfänge, die mir das Gefühl geben, dass hier jemand wirklich erzählen will und das eben im Präsens tut. "Raum" von Emma Donoghue fängt an mit: "Heute bin ich fünf. Als ich gestern Abend in Schrank eingeschlafen bin, war ich noch vier. Aber dann wache ich im Dunkel in Bett auf und bin plötzlich fünf, Abrakadabra." Da fand ich die Erzählstimme anfangs zwar etwas strange, aber sehr sehr sehr interessant. Ein Gefühl von Beliebigkeit stellt sich da nie ein.

 

Ich habe Ich und Präsens oft in meinen "literarischen" Erzählungen benutzt, allerdings habe ich dabei Gedanken und Gefühle soweit wie möglich weggelassen und nur die Wahrnehmungen der Figur geschildert. Ich mag das gleichzeitige Gefühl von Distanz der Figur zu sich selbst, und dass man ihr als Leser trotzdem sehr nah kommt. Der Zugang zur Figur ergibt sich fast ausschliesslich durch die Art, wie sie Welt sieht, nicht durch das, was sie fühlt oder denkt.

 

Ich frage mich aber gerade, ob man das auch durch eine personale Perspektive in der dritten Person erreichen könnte. Aber dann würde wohl die Distanz so groß, dass der Leser nicht mehr mitginge. Ich finde zwar auch, wie Andreas, dass die Perspektive nicht das einzige und wahrscheinlich nicht einmal das ausschlaggebende Mittel ist, um Nähe zu einer Figur herzustellen, aber einen Unterschied macht es doch, ob man direkt ins Ich einer Person hineinversetzt wird oder ob der personale Erzähler als Vermittler zwischen Leser und Figur steht.

Bearbeitet von Mascha
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Nachdem ich weiß, dass es dabei um meinen Text in der Textkritik geht, klinke ich mich hier mal ein.

Ich glaube, dass es einzig die Gewohnheit ist, welche Perspektive und Zeitform man bevorzugt Der Trend ist ja momentan Ich + Präsens, und inzwischen gefällt mir das sehr gut. Meinen derzeitigen Roman habe ich im Präteritum angefangen und auch zuende geschrieben. Aber zwischendrin habe ich ihn mir immer wieder im Präsens vorgestellt und fand das ehrlich gesagt viel besser, weil es auch so gut zu der Situation meiner Protagonistin passen würde. Mein Entschluss stand fest: Wenn ich mit dem Roman fertig bin, schreibe ich ihn um ins Präsens. Denn wie Mascha sagt, die Vorstellung, meine Prota sitzt jetzt im Lehnsessel und erzählt, was sie unglaubliches erlebt hat und das auch noch bis ins Detail!, finde ich nicht nur unglaubwürdig, sondern es macht auch die Unzuverlässigkeit meiner Erzählerin realistisch betrachtet kaputt. Ich versteh hier nicht, dass die Leute das bei der Vergangenheitsform nicht bemängeln, kein Mensch der seine Erlebnisse nacherzählt geht dabei so detailverliebt vor, wie es im Roman beschrieben ist - aber dann behaupten, die Gegenwartsform sei unrealistisch.

Letztendlich stellte ich mir die Frage, stört die Vergangenheitsform tatsächlich so viele? Ich startete eine Umfrage und die fiel vernichtend aus. Die meisten fanden Ich + Präsens schrecklich. Jetzt lass ich ihn doch im Präteritum - schweren Herzens.

 

Wie seht ihr das hinsichtlich Verlagen? Halten die auch eher Abstand von Ich + Präsens? Das ist nämlich meine Angst, weshalb ich ihn im Präteritum lasse.

Bearbeitet von Sabine
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Wie seht ihr das hinsichtlich Verlagen? Halten die auch eher Abstand von Ich + Präsens? Das ist nämlich meine Angst, weshalb ich ihn im Präteritum lasse.

 

Meiner Erfahrung nach haben die großen Verlage im Unterhaltungsbereich am liebsten die dritte Person und Vergangenheitsform. Das will nicht heißen, dass es überall so ist. Wie du ganz richtig sagst, mögen die meisten Leser das wohl am liebsten, weil sie daran gewöhnt sind. Aber Ich und Präsens scheint ja auf dem Vormarsch zu sein, wird also inzwischen vielleicht eher akzeptiert.

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Sabine, nur der Vollständigkeit halber: Es geht mir hier hier nicht um deinen Text. Die Diskussion im Kritik-Thread hat mich nur dazu angeregt, mich mit dem Thema zu befassen.

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Ich frage mich aber gerade, ob man das auch durch eine personale Perspektive in der dritten Person erreichen könnte. Aber dann würde wohl die Distanz so groß, dass der Leser nicht mehr mitginge. Ich finde zwar auch, wie Andreas, dass die Perspektive nicht das einzige und wahrscheinlich nicht einmal das ausschlaggebende Mittel ist, um Nähe zu einer Figur herzustellen, aber einen Unterschied macht es doch, ob man direkt ins Ich einer Person hineinversetzt wird oder ob der personale Erzähler als Vermittler zwischen Leser und Figur steht.

 

 

Die Kombination Präsens und sehr naher personaler Erzähler hat Roddy Doyle in einer meiner Lieblingsbücher benutzt "Paula Spencer". Das Tempus hat er nicht zufällig gewählt. Paula Spencer ist eine trockene Alkoholikerin, ihr Alltag ist immer noch geprägt von ihrer Konfrontation mit der Droge Alkohol, auch ein Thema ihrer Kinder. Man rückt verdammt nahe an Paula heran, eine Figur, die in ihrem Handeln und ihren Gedanken so springlebendig und gegenwärtig ist, dass sie aus den Buchseiten heraus zu springen scheint. Distanz habe ich zu keinem Zeitpunkt empfunden, ganz im Gegenteil. Die Nähe ist natürlich nicht nur eine Konsequenz von EP und Tempus,  Doyle wählt ja auch noch andere Stilmittel. Nur denke ich ebennicht, dass ein personaler Erzäler automatisch grössere Distanz herstellt.

 

LG, Bettina

Bearbeitet von Bettina Wüst

" Winterschwestern" (AT)
Figuren- und Storypsychologie

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Liebe Sabine, mir zumindest ging es ganz und gar nicht um deinen Text. Es täte mir sehr leid, wenn du irgendetwas, das ich oder andere hier auf Maschas allgemeine Frage geantwortet haben, auf deinen Text beziehen würdest. Den habe ich nämlich, ehrlich gesagt, gar nicht gelesen, weil mir für die Textkritiken einfach die Zeit fehlt.

 

Die Frage, was man als Leser als realistisch empfindet und was nicht, finde ich sehr spannend, aber auch sehr schwierig. Meine persönliche Meinung dazu ist: "Künstlich" ist alles, was man beim fiktionalen Schreiben produziert, deshalb ist "Realismus" für mich da erst mal kein Argument. Wichtig finde ich, sich bewusst zu machen, was welche Wirkung erziehlt, wie Andreas es schon weiter oben geschrieben hat.

Bearbeitet von BarbaraS
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Mascha, das meinte ich so auch nicht. Dass es um meinen Text als solchen ginge, hatte ich nicht gemeint. Ich hab nur festgestellt, dass sich deine Frage auf den Thread bezog, in dem mein Text zur Kritik stand. Deine Frage hat genau meinen Nerv getroffen, weil ich das Problem gerade bei meinem Text habe. Deshalb hab ich mich hier mit dran gehangen.

Hab mir nichts besonderes dabei gedacht, als ich Bezug genommen habe. Keiner hier hat mich in irgendeiner Form verletzt etc. Macht nur weiter so.

Bearbeitet von Sabine
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Wäre es nicht lohnender, sich hier mal zu überlegen, was die einzelnen Mittel sind und was sie in welcher Kombination zu leisten imstande sind? Und was nicht? Die erzählerischen Mittel sind unsere Werkzeuge, und ich rate dazu, dieses oder jenes nicht ohne Not aus dem Werkzeugkasten zu verbannen. Man könnte es ja irgendwann doch noch gebrauchen, und dann steht man schon dumm da. ;-)

 

Andreas

 

 

DAS, lieber Andreas, fände ich eine total spannende Diskussion :-)!

 

LG, Bettina

" Winterschwestern" (AT)
Figuren- und Storypsychologie

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Andreas Vorschlag fände ich auch sehr interessant. Oft übernimmt Gewohnheit ja bis zu einem gewissen Grad den bewussten Umgang mit den verschiedenen erzählerischen Werkzeugen.

 

Zum Ausgangsthema zurückkommend, geht es mir schon so, dass Ich + Präsens, verbunden mit einer großen erzählerischen Nähe zu der FIgur, die größte Nähe herstellt. Das trifft auf mich sowohl beim Lesen, als auch beim Schreiben zu. Bei Texten, die ich im dieser Form geschrieben habe, ist es mir in der Regel leichter gefallen, wirklich im Kopf der Figur zu bleiben. Auch Dritte Person + Präsens empfinde ich als näher an der Figur, als Dritte Person + Präteritum. Ich hätte bis vor kurzem auch gedacht, dass ich diese Kombination nicht gerne lese, aber einige Bücher, die ich in den letzten Monaten gelesen habe, haben mich da eines besseren belehrt. Ein Beispiel war "Italienische Nächte" von Kathrin Webb, das gerade am Anfang größtenteils von der Atmosphäre lebt, die die Autorin aufbaut. Durch die Unmittelbarkeit des Erzählens im Präsens habe ich mich noch mehr in die Szenerie versetzt gefühlt. Wie hier schon gesagt wurde - Vergangenheit und Zukunft haben beim Lesen an Bedeutung verloren, sodass ich alle unmittelbaren Eindrücke noch stärker empfunden habe und miterleben konnte.

 

Rücksprachen mit unserem Agenten und unseren bisherigen Verlagen haben aber auch bestätigt, was hier bereits angesprochen wurde: Dass die meisten Verlage (zumindest in den Genres, in denen ich unterwegs bin) dritte Person + Präteritum bevorzugen. Ob aus Gewohnheit (der Leser oder der Lektoren sei mal dahingestellt) oder aus echter Erfahrung sei mal dahingestellt. Grundsätzlich scheinen mir viele experimentellere Perspektivformen, wie zum Beispiel auch der Wechsel von Ich zu Dritter Person je  nach Perspektivträger, eher ein Phänomen der gehobenen Literatur auf der einen Seite und der Selfpublisher auf der anderen Seite zu sein, das sich mit wachsendem Erfolg dann auch in die Großverlage "einschleicht". Wenn der Gewöhnungseffekt beim Lesen dann einsetzt, werden Erzählformen, die man bis dato als unangenehm empfand, plötzlich normal oder sogar besonders beliebt.

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Es ist wichtig, die eigene Intention bei der Wahl der Perspektive unter die Lupe zu nehmen.

Ich+Präsens-Erzählungen ziehen den Leser direkt ins Geschehen hinein. Die Handlung wird unmittelbar in seinen Kopf projiziert. Gelungen ist das, wenn sich der Leser ohne Widerstand in den Ich-Erzähler hinein versetzt, unabhängig davon, ob es sich um einen sympathischen oder unsympathischen Protagonisten handelt.

 

Ich finde es nachvollziehbar, was Doris schreibt. Ich+Präsens birgt das Risiko, dass der Leser sich von der Figur entfernt und im Extremfall nicht mehr weiterliest.

 

Durchgängige Ich-Perspektive und Präsens, wie man es z.Zt. häufig vorfindet, empfinde ich als unangenehm, indiskret und aufdringlich. Der Autor nötigt mich, seiner Figur genauso zu folgen, wie er es will? Danke, nichts für mich!

 

Mir persönlich gefällt das Erzählen im Ich+Präteritum besser. Die Dinge aus der Entfernung zu betrachten, lässt dem Erzähler gegebenenfalls auch eine Beurteilung der Situation zu, die auf zukünftige Ereignisse vorgreift (diese Maßnahme sollte mir später noch das Leben retten). Damit lässt sich die Neugier/Spannung erhöhen.

 

In meinem Roman Aaron Grünblatt und der blinde Passagier aus Madras sollte der Leser dicht am Ich-Erzähler dran sein, sich jedoch nicht mit ihm identifizieren müssen. Ich variierte zwischen diesen beiden Erzählformen.

 

Mein Protagonist erzählt seine Geschichte im Ich+Präteritum, spricht aber den Leser im Ich+Präsens an. Es kommt zu einer regelrechten Interaktion mit dem Leser. Ich habe Situationen geschaffen, in welchen er beispielsweise den Leser dazu anhält, den folgenden Abschnitt allein, ohne ihn zu lesen, während er selbst sich die Zeit mit Rasenmähen vertreibt. Zeitgleich, wenn der Leser am Ende des Abschnitts anlangt, kehrt mein Protagonist vom Rasenmähen zum Leser zurück und fährt fort, ihm seine Geschichte im Ich+Präteritum zu erzählen.

 

Während die Jetzt-Zeit beim Erzählen voranschreitet, laufen beide Zeiten auf einen gemeinsames Ende zu. Zum Schluss sollte mein Protagonist zusammen mit dem Leser, im Präsens bis zur zuende erzählten Geschichte vorstoßen.

Durch dieses Zusammenführung von (erzählter) Geschichte und aktueller (erzählter) Realität befindet sich der Leser am Ende des Buches direkt in der Geschichte. Gemeinsam mit dem Erzähler erlebt er den Schlussakkord.

Ich hoffe dass es mir durch dieses Zusammenspiel von Ich+Präsens und Ich+Präteritum gelungen ist, meine Leser mitzunehmen, ihnen das Gefühl vermittelt zu haben, ein eigenständiger Teil der Ich-Geschichte geworden zu sein.

Tränen im Mississippi     •     Aaron Grünblatt      •      Amüsante Spaßitüden      •     Völlich Anders Verlach

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DorisC, on 12 Jan 2016 - 13:33, said:

 

). Damit lässt sich die Neugier/Spannung erhöhen.

 

In meinem Roman Aaron Grünblatt und der blinde Passagier aus Madras sollte der Leser dicht am Ich-Erzähler dran sein, sich jedoch nicht mit ihm identifizieren müssen. Ich variierte zwischen diesen beiden Erzählformen.

 

Mein Protagonist erzählt seine Geschichte im Ich+Präteritum, spricht aber den Leser im Ich+Präsens an. Es kommt zu einer regelrechten Interaktion mit dem Leser. Ich habe Situationen geschaffen, in welchen er beispielsweise den Leser dazu anhält, den folgenden Abschnitt allein, ohne ihn zu lesen, während er selbst sich die Zeit mit Rasenmähen vertreibt. Zeitgleich, wenn der Leser am Ende des Abschnitts anlangt, kehrt mein Protagonist vom Rasenmähen zum Leser zurück und fährt fort, ihm seine Geschichte im Ich+Präteritum zu erzählen.

 

Während die Jetzt-Zeit beim Erzählen voranschreitet, laufen beide Zeiten auf einen gemeinsames Ende zu. Zum Schluss sollte mein Protagonist zusammen mit dem Leser, im Präsens bis zur zuende erzählten Geschichte vorstoßen.

Durch dieses Zusammenführung von (erzählter) Geschichte und aktueller (erzählter) Realität befindet sich der Leser am Ende des Buches direkt in der Geschichte. Gemeinsam mit dem Erzähler erlebt er den Schlussakkord.

Ich hoffe dass es mir durch dieses Zusammenspiel von Ich+Präsens und Ich+Präteritum gelungen ist, meine Leser mitzunehmen, ihnen das Gefühl vermittelt zu haben, ein eigenständiger Teil der Ich-Geschichte geworden zu sein.

 

Die Sache mit dem Rasenmähen klingt total interessant, ich glaube, ich muss mir dein Buch mal näher ansehen ;)

 

Für mich hängen übrigens Person und Tempus nicht zusammen. Alle Kombinationen sind denkbar, lesbar und schreibbar und man kann sie alleine nicht für Nähe/Distanz oder die Frage der Spannung verantwortlich machen. Wenn mir ein literarisches Ich im Hier und Jetzt nur langweilige Sachen erzählt, hat es Pech gehabt. George RR Martin schreibt konventionell 3. Person Präteritum und ist spannend ohne Ende. Auch in der 3. Person kann man sehr eng schreiben, im Kopf der Person wohnen. Auch im Präteritum kann man Handlungen unmittelbar erlebbar schreiben.

Mir geht es ein wenig wie Doris. Und auch ich habe Lieblingsbücher, die in der 1.Person Präsens geschrieben sind. Aber sie sind es nicht deswegen, sondern weil das Gesamtpaket einfach stimmig war - Inhalt und Sprache zusammenpassten.

 

LG Ulrike

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