Zum Inhalt springen
Bettina Wüst

Das Mädchen - Teil 3: Erzählstruktur, Stil

Empfohlene Beiträge

Zuerst hatte ich mich gefragt, wieso das Mädchen keinen Namen bekommt und ob hier die Absicht der Autorin war, sie zu „versachlichen“ oder die Figuren als Stellvertreter für menschliche Gleichgültigkeit und Grausamkeit zu nutzen.  Auch die Mutter und der Vater nicht bleiben namenlos, die Brüder hingegen werden benannt. Wie interpretiert ihr das?

 

Das Gefühl, einen Unfall zu beobachten (toller Vergleich, Olga!) wurde schon mehrfach erwähnt. Dieses Gefühl hatte ich auch. Wir haben hier einen Erzähler, der beobachtet und das Gesehene widergibt, ohne Wertung, ohne Gebrauchsanweisung, ohne Vermittler zu sein zwischen Figur und Leser. Mir wird als Leser kein Mitgefühl aufgezwungen. Andreas hatte die sentimentalen Fallstricke solch einer Geschichte erwähnt und wie sehr ihm die nüchterne Erzählweise gefiel. Dem möchte ich mich unbedingt anschließen. Die Außenperspektive herrscht vor, es gibt nur wenige Einblicke in die Gefühlswelt der Figur. Gefühle werden überwiegend mittels Motive, Tag- oder Nachtträume gezeigt, wir folgen dem Mädchen und ihren täglichen Bemühungen, den Augenblick zu überstehen und davon zu kommen im Präsens, kommen also auch nicht davon, trotz distanzierter Erzählweise (gott sei Dank, möchte ich sagen!) Mich hat dieser Stil und die Konsequenz sehr beeindruckt.

 

Ich kopiere die aufgeworfenen Fragen im anderen thread in diesen Teil:

Wie ist der Roman erzählt? Wie distanziert? Wodurch entsteht die Distanz? Ist die Distanz denn mit dieser scheinbaren Ziellosigkeit verbunden? Was in dem Roman ist Figurenton, was Erzählstimme?

 

Was meint ihr dazu?

 

 

Liebe Grüsse

Bettina

Bearbeitet von Bettina Wüst

" Winterschwestern" (AT)
Figuren- und Storypsychologie

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Was du zur Erzählstimme schreibst, würde ich voll unterschreiben, Bettina. Und ich glaube tatsächlich, dass diese distanzierte Erzählweise etwas mit der Ziellosigkeit der Figur zu tun hat. Ich habe ja in dem anderen Thread schon mal geschrieben, dass es für die Figuren in dem Roman keine Vision von Freiheit gibt. Ich glaube aber, dass wir als Leser genau diese Vision in den Roman hineintragen - und dass das die Sache so spannend macht. Wir verfolgen mit, was mit dem Mädchen geschieht - aber wir tauchen nicht völlig ab in ihre Welt und ihre Weltsicht, sondern wir haben die ganze Zeit unser eigenes Weltbild dabei und beziehen das Gelesene darauf, und genau das hat bei mir zumindest dazu geführt, dass ich emotional sehr mitgegangen bin. Was die Wirkung angeht, fand ich den Roman alles andere als kühl oder auf Distanz bleibend.

Ich hoffe, das war jetzt halbwegs verständlich ...

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

 Ich glaube aber, dass wir als Leser genau diese Vision in den Roman hineintragen - und dass das die Sache so spannend macht. Wir verfolgen mit, was mit dem Mädchen geschieht - aber wir tauchen nicht völlig ab in ihre Welt und ihre Weltsicht, sondern wir haben die ganze Zeit unser eigenes Weltbild dabei und beziehen das Gelesene darauf, und genau das hat bei mir zumindest dazu geführt, dass ich emotional sehr mitgegangen bin. Was die Wirkung angeht, fand ich den Roman alles andere als kühl oder auf Distanz bleibend.

 

 

Guter Gedanke, Barbara! Durch die reduzierte Erzählweise (ich finde, gerade dadurch entwickeln die heftigen Szenen eine große Wucht) wird viel ausgelassen. Das bindet mich als LeserIn ein und  führt dazu, dass ich das  Ausgelassene ergänze.  

Als Leserin bin ich eigentlich ähnlich ambivalent positioniert wie die Hauptfigur: Hin- und Hergerissen zwischen distanzierter Erzählweise und Nähe zur Figur beobachte ich das Mädchen, was ihr widerfährt, und gleichzeitig werde ich – fern  jeder Identifikation – völlig in die Geschichte hinein gezogen.

 

Liebe Grüße

Bettina

" Winterschwestern" (AT)
Figuren- und Storypsychologie

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Ja, ich schließe mich an, Barbara. Und ich finde das sehr kunstfertig, gerade weil es scheinbar so kunstlos daherkommt. Dieses ab und zu ganz in die Figur hineinsehen zu können, wobei der Erzähler recht schonungslos über seine Figur berichtet: vom sich Verstellen, lügen, der eigenen Grausamkeiten gegenüber dem Bruder, dann den anderen Heimkindern. Und man versteht sie die ganze Zeit. Ich hatte beim Lesen immer das Gefühl: Ja, genau so ist es. So werden Schläger aus den Geschlagenen. Dass dabei keine Larmoyanz zu hören ist, trägt ein Gutteil dazu bei, dass ich so mitgehen kann, glaube ich.

 

Und das mag wieder daran liegen, dass sowieso für Reflexionen kein Platz bleibt (also auch nicht für Rührseligkeiten), weil alles Szene ist. Szene reiht sich an Szene. Seht ihr das auch so?

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

www.angelika-jodl.de

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Ja, Angelika, für mich reiht sich auch Szene an Szene - aber was ich genial finde, ist, dass sie zum größten Teil summarisch/narrativ erzählt werden. Und das erzeugt für mich noch mehr das Gefühl, das Olga mit einem "Unfall beobachten" so treffend beschrieben hat. Ich fühlte mich beim Lesen dieses beeindruckenden Buches, als würde Welle auf Welle über mich hinwegrauschen, auf einer Seite passiert so viel, in jedem Absatz, ja in jeder Zeile kann sich die Situation krass ändern, die Stimmung sowieso. Das einzige Beständige in "Rippchens" Leben, das einzige, worauf sie sich verlassen kann, ist ja, dass die Stimmung der Mutter jederzeit umschlagen kann. Die emotionale Distanz, die das Mädchen zu allem hat - auch zu sich selbst -, ist dabei ihr größter Schutz. Und dieser "psychologische Inhalt" wird für mich durch das summarische/narrative Erzählen der Szenen noch unterstützt. Wenn all das, was passiert in ausführlichen Szenen erzählt worden wäre, wäre für mich eine zu große Nähe zum Geschehen entstanden, alles wäre "verlangsamt" worden. Aber das besonders Fiese ist für mich die Schnelligkeit, mit der alles auf das Mädchen einprasselt. So, in der Kombination Präsens plus hauptsächlich summarisch/narrativ erzählte Szenen, werde ich ganz in die Lage des Mädchens versetzt. Es gilt Augenblick für Augenblick zu überstehen. Oder zu nutzen, wenn es ein guter Augenblick ist.

 

Für mich ist die Figur gleichzeitig zielstrebig und ziellos. Es gibt Augenblicke, in denen sie sehr zielstrebig etwas tut oder nicht tut. So zum Beispiel, als sie die Schule wegen einer Arbeit schwänzen will und sich krank stellt (und dann am Blinddarm operiert wird). Oder als sie sich den Arm brechen lässt, wie sie Elvis beschützt, wie sie den Jungen "verfolgt" (ich hab das Buch grade nicht hier, und mir fällt der Name nicht mehr ein), der dann an Alexander interessiert ist, usw. Aber sie hat kein langfristiges Ziel. Wie soll sie das auch entwickeln, wenn sie damit beschäftigt ist, sich permanent auf eine neue Situation einzustellen (die Mutter, der auftauchende Vater, das Heim, Elvis,usw.)? Es lebt ihr ja auch niemand vor. Und genau diese "langfristige" Ziellosigkeit wird für mich durch das summarisch/narrative Erzählen der Szenen auch wieder wunderbar betont.

 

Zitat AngelikaJo: Dieses ab und zu ganz in die Figur hineinsehen zu können, wobei der Erzähler recht schonungslos über seine Figur berichtet: vom sich Verstellen, lügen, der eigenen Grausamkeiten gegenüber dem Bruder, dann den anderen Heimkindern. Und man versteht sie die ganze Zeit. Ich hatte beim Lesen immer das Gefühl: Ja, genau so ist es. So werden Schläger aus den Geschlagenen. Dass dabei keine Larmoyanz zu hören ist, trägt ein Gutteil dazu bei, dass ich so mitgehen kann, glaube ich.

 

Ja, so ging es mir auch. Und ich glaube, mit dieser Schonungslosigkeit würde das Mädchen auch seine eigene Geschichte erzählen.

 

Liebe Grüße

Lisa

Bearbeitet von Lisa
Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Was du zur Erzählstimme schreibst, würde ich voll unterschreiben, Bettina. Und ich glaube tatsächlich, dass diese distanzierte Erzählweise etwas mit der Ziellosigkeit der Figur zu tun hat. Ich habe ja in dem anderen Thread schon mal geschrieben, dass es für die Figuren in dem Roman keine Vision von Freiheit gibt. Ich glaube aber, dass wir als Leser genau diese Vision in den Roman hineintragen - und dass das die Sache so spannend macht. Wir verfolgen mit, was mit dem Mädchen geschieht - aber wir tauchen nicht völlig ab in ihre Welt und ihre Weltsicht, sondern wir haben die ganze Zeit unser eigenes Weltbild dabei und beziehen das Gelesene darauf, und genau das hat bei mir zumindest dazu geführt, dass ich emotional sehr mitgegangen bin. Was die Wirkung angeht, fand ich den Roman alles andere als kühl oder auf Distanz bleibend.

Ich hoffe, das war jetzt halbwegs verständlich ...

 

Das ging mir ganz genauso. Von der ersten Seite an ist da auf der einen Seite diese voyeristische Neugier, ohne Frage. Gleichzeitig aber auch tiefes Mitgefühl für die Kinder - sofort denke ich "wie kann man als Mutter nur seine Kinder ...", rege mich auf, empöre mich, und lese begierig weiter., um durch ihre Taten das Mädchen in ihrem Innersten verstehen zu können. Manchmal gibt es ja auch Brocken einer Innensicht.

Der Text, so einfach er daherkommt und sich wie eine reine Handlungsbeschreibung lesen lässt, macht es uns als Leser nicht leicht. Das merkt man auch an den verschiedenen Sichtweisen hier in der Diskussion. Jede Tat will interpretiert werden.

Dadurch, dass keine größeren Innenwelten beschrieben werden, kommt vielleicht der Verdacht auf, da wären keine, sie wäre ein passiver Ball im Spiel des Lebens. Ich kenne den Folgeband nicht, April - werden dort Innenwelten und eine innere Entwicklung beschrieben?

 

LG Ulrike

Link zu diesem Kommentar
Auf anderen Seiten teilen

Bitte melde Dich an, um einen Kommentar abzugeben

Du kannst nach der Anmeldung einen Kommentar hinterlassen



Jetzt anmelden


×
×
  • Neu erstellen...