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Bettina Wüst

Das Mädchen - Teil 2: Figurenprofil, Figurenentwicklung

Empfohlene Beiträge

Ich nehme dich mal beim Wort, liebe Bettina, und ziehe mit diesem Punkt hierher um:

 

Den von Barbara zitierten Überlebensdrang, das Zerrissene, die teils widersprüchlichen Wünsche, Träume und Sehnsüchte würde ich mit euch gerne im Figurenteil dieser Diskussion besprechen. Claudia erwähnte das hochriskante Autospiel, mit dem das Mädchen ihr eigenes und das Leben ihres Bruders aufs Spiel setzt. Ich sehe das allerdings nicht als Todessehnsucht, sondern eher als ein Austesten, ob sie nochmals "davon kommt". Die Spiele hören ja auf, als der Bruder verunglückt. Mehr dazu dann im anderen thread :-)

Auf die Gefahr hin, dass es nervt: Ich sehe bei der Hauptfigur kein klares Ziel. Genau das macht für mich das Besondere und auch Faszinierende an diesem Roman aus. Die Hauptfigur wünscht sich wahrlich sehr oft aus ihrer Situation hinaus, aus gutem Grund. Aber ebenso oft sehnt sie sich zurück zum Vertrauten. Zu Hause wünscht sie sich zu entkommen – läuft aber erst weg, wenn die Mutter es ihr befiehlt. Als sie dann beim Vater ist, ruft sie die Mutter durch einen Brief wieder herbei. Im Heim möchte sie zu den "positiven Kindern" gehören, setzt das aber aufs Spiel, um ihre Brüder zu besuchen. Ebenfalls im Heim möchte sie bei den anderen Kindern und Jugendlichen beliebt sein, tyrannisiert sie aber auch. Und die ganze Zeit hindurch umwirbt sie ihre Mutter mit teuren Geschenken.

 

Gerade dieses Widersprüchliche macht für mich das Wesen dieser Figur aus. Egal wo sie hingerät, sie ist niemals am richtigen Ort. Es ist immer irgendwie falsch. Ihre Wünsche sind verworren und geben ihr selbst Rätsel auf. Auch den Satz, den wir schon mehrfach zitiert haben ("eigentlich will sie nur davonkommen, und manchmal gelingt es ihr") würde ich nach dem zweiten Lesen noch viel konkreter auf die Situation mit der Mutter beziehen: Sie wünscht sich, diesmal ohne Prügel davonzukommen.

 

Trotzdem wird sie im Verlauf des Romans eindeutig stärker. Vielleicht gerade weil sie die Widersprüche aushält? Ihr Bruder scheint ja viel harmoniebedürftiger zu sein als sie und wirkt darum auch viel geschlagener auf mich. Natürlich ist er auch noch deutlich jünger, der Vergleich ist also unfair ...

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Was du an der Figur lobst, Barbara - ihre Zerrissenheit und (scheinbare) Widersprüchlichkeit - macht für mich auch das Besondere und das Reizvolle aus. Und dennoch sehe ich sie nicht als "ziellos" im dramaturgischen Sinn. Diese Figur ist so aktiv - sie schmeißt schon auf der ersten Seite Scheiße auf die Leute! -, dass für mich hier ein starker Wille arbeitet. Vielleicht sollten wir nicht unbedingt von Ziel sprechen, denn dann sind wir tatsächlich viel zu schnell bei so platten Vorgaben wie: Sie will endlich in den Westen! Sie will Superstar werden! Sie will die Welt retten! In diesem Sinne hat sie kein Ziel, da stimme ich euch zu. Im dramaturgischen Sinne sind "Want" und "Need" aber in Wahrheit Größen der Psychologie einer Figur, die aus einem emotionalen Defizit entstehen. Dass es diesem Mädchen an vielem mangelt, liegt auf der Hand, schließlich hat sie nicht einmal einen Namen (wenn man mal von Spottnamen absieht). Und da sie keine ist, die sich aufgibt und sogar vor drastischen Maßnahmen nicht zurückschreckt (sie lässt sich den Arm brechen, um einem Verweis zu kriegen und lange krankgeschrieben zu werden). Sie will leben und sie will auch was davon haben, und vor allem will sie bemerkt und wertgeschätzt werden. Aber wie soll das gehen, wenn sie sich selbst nicht schätzt? Sie hat die seelische Grausamkeit ihrer Mutter im wahrsten Sinne des Wortes mit der Muttermilch aufgesogen, sie kennt kaum einen anderen Umgang mit sich und anderen, zumindest nicht auf Dauer. Deshalb eckt sie immer wieder an und begreift oft gar nicht, warum und wie sie in diese Situation geraten ist, sie wollte ja eigentlich was ganz anderes erreichen.

"Wir sind die Wahrheit", Jugendbuch, Dressler Verlag 2020;  Romane bei FISCHER Scherz: "Die im Dunkeln sieht man nicht"; "Die Nachtigall singt nicht mehr"; "Die Zeit der Jäger"

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Auf die Gefahr hin, dass es nervt: Ich sehe bei der Hauptfigur kein klares Ziel. Genau das macht für mich das Besondere und auch Faszinierende an diesem Roman aus. Die Hauptfigur wünscht sich wahrlich sehr oft aus ihrer Situation hinaus, aus gutem Grund. Aber ebenso oft sehnt sie sich zurück zum Vertrauten. Zu Hause wünscht sie sich zu entkommen – läuft aber erst weg, wenn die Mutter es ihr befiehlt. Als sie dann beim Vater ist, ruft sie die Mutter durch einen Brief wieder herbei. Im Heim möchte sie zu den "positiven Kindern" gehören, setzt das aber aufs Spiel, um ihre Brüder zu besuchen. Ebenfalls im Heim möchte sie bei den anderen Kindern und Jugendlichen beliebt sein, tyrannisiert sie aber auch. Und die ganze Zeit hindurch umwirbt sie ihre Mutter mit teuren Geschenken.

 

Gerade dieses Widersprüchliche macht für mich das Wesen dieser Figur aus. Egal wo sie hingerät, sie ist niemals am richtigen Ort. Es ist immer irgendwie falsch. Ihre Wünsche sind verworren und geben ihr selbst Rätsel auf. Auch den Satz, den wir schon mehrfach zitiert haben ("eigentlich will sie nur davonkommen, und manchmal gelingt es ihr") würde ich nach dem zweiten Lesen noch viel konkreter auf die Situation mit der Mutter beziehen: Sie wünscht sich, diesmal ohne Prügel davonzukommen.

Der "verworrene Wunsch" ist vielleicht einfach nur der Wunsch, von ihrer Mutter anerkannt und geliebt zu werden, was bedeutet: sie möchte nicht misshandelt werden. Dieses Ziel ist jedoch nicht erreichbar und sie gibt sich mit dem Teilaspekt "nicht misshandelt werden" zufrieden und haut ab. Dort, in der Fremde, sehnt sie sich wieder nach ihrer Mutter und nimmt auf ihre Art wieder Kontakt auf. Sie würde sich jedoch nie eingestehen, dass sie ihre Mutter liebt.

 

Trotz allem lieben misshandelte Kinder ihre Eltern. Es ist für Außenstehende schwierig nachzuvollziehen. Ich habe darüber viel gelesen und so scheint es wirklich zu sein.  Um bereit zu sein, die Eltern aufzugeben, muss das Kind reif genug sein, um die Liebe zu sich selber über die der Liebe zu den Eltern zu stellen. Vor allem, wenn Kinder noch klein sind. Die pubertären Autonomiebestrebungen bringen die Kinder dann in Konflikte, da sie nur außerhalb der Familie autonom sein können. Sie hauen ab

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Ja, das glaube ich auch, was Ulrike da schreibt (genauer gesagt habe ich es in einem Buch von Uschi gelesen): So scheußlich, sadistisch und krank eine Mutter auch sein mag – für jedes Kind ist sie die erste Anlaufstelle. Von dieser Person muss jedes Kind anerkannt, wenn möglich geliebt werden, sonst hat es keine Chance in der Welt. Dieser Abhängigkeit ist auch das arme Rippchen ausgeliefert. Pech, dass ihre Mutter so eine grausame Person ist. Da muss man doch beides: abhauen, um nur zu überleben und dann wieder um ihre Liebe werben. Richtig bei sich ist sie, fand ich, wenn Tiere ins Spiel kommen: Brehms Tierleben, ihre Lektüre im Keller; die Ratte dort und ganz besonders berührend das Begräbnis der toten Schwalbe

 

Ich muss sagen, mir hat bei diesem Buch ganz besonders gefallen, dass keine obligatorisch aktive Heldin mit ausgeprägtem Ziel durch die Seiten stürmt. Dieses Mädchen hat widersprüchliche Ziele, wie Barbara schreibt. Und das macht das Buch so realistisch.

 

Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

www.angelika-jodl.de

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Trotz allem lieben misshandelte Kinder ihre Eltern.

Ja, ich glaube auch, dass das der Grundwiderspruch ist. ;-) Sie möchte den Misshandlungen entkommen ("davonkommen")  aber wie Angelika auch schreibt, hat sie als Kind gar keine andere Wahl, als die Mutter als Zentrum des Universums wahrzunehmen und um ihre Liebe zu werben.

 

Und lieber Andreas, nur damit wir uns nicht missverstehen, ich finde die Figur, was ihr Handeln angeht, auch keineswegs passiv. Sie ist ja fast unaufhörlich in Bewegung, probiert ständig etwas Neues aus. Ich wollte nur sagen, dass die Handlung des Romans als Ganzem nicht durch ihr Handeln und auch nicht durch ihre Wünsche bestimmt wird, sondern durch Wechselfälle, die sie in keiner Weise durchschaut und denen sie auch ziemlich hilflos ausgesetzt ist. In den Situationen, in die sie durch diese Wechselfälle gerät, spielt sie dann aktiv unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten durch, aber eben als Reaktion auf das, was mit ihr passiert ist.

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Rippchen, um wenigstens einen Namen zu haben, scheitert aber auch an ihren Überlebensversuchen. Sie unternimmt einen (untauglichen) Suizidversuch mit der Miene eines Kopierstiftes, nachdem die grausame Mutter ihre schönen Briefmarken zerrissen hat und ihr mitteilt, dass sie eigentlich abgetrieben werden sollte. Wer kann mit solchen Aussagen weiterleben?

 

Trotz ihrer Fluchten, auch in Bücher, entwickelt sie nach meinem Empfinden eine Depression, die sie auch später nicht mehr verlassen wird. Ein Kind/Mädchen mit diesen (Mutter-)Erlebnissen kann kaum eine Persönlichkeit entwickeln, die mit sich selbst klarkommt. Rippchen wird verachtet und lernt verachten. Es sind ja auch kaum andere Bezugspersonen da, die ihr beistehen. Ich glaube, eine solche Kindheit führt immer ins Chaos, man hat dann vielleicht nur noch die Wahl, die Chaos-Form zu wählen, mehr nicht. Meine Sichtweise auf Rippchens Entwicklung ist nicht optimistisch.  

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Rippchen, um wenigstens einen Namen zu haben, scheitert aber auch an ihren Überlebensversuchen. Sie unternimmt einen (untauglichen) Suizidversuch mit der Miene eines Kopierstiftes, nachdem die grausame Mutter ihre schönen Briefmarken zerrissen hat und ihr mitteilt, dass sie eigentlich abgetrieben werden sollte. Wer kann mit solchen Aussagen weiterleben?

 

 

War es nicht eher ein Fluchtversuch?

 

"In der Pause bleibt sie neben einer Gruppe von Jungs stehen, zerbricht einen Kopierstift, steckt sich, für alle gut sichtbar, die Mine in den Mund. Sie will, dass man sie sieht, sie will nicht wirklich sterben." (S. 110)

 

Vielleicht weiß sie, dass sie aufgrund einer solchen Tat ins Heim kommt. Auf jeden Fall muss sie ins Krankenhaus, weg vom Einflussbereich der Mutter, von der sie kein Wort sagen wird und daher ins Heim kommt.

 

Für mich ist das eine willentliche Handlung. Sie ist aktiv. Nur eben anders, als wir es gewohnt sind oder erwarten würden.

 

Depressiv sehe ich sie nicht. Würde eine Depressive sich den Arm brechen, um Urlaub zu bekommen? Wohl eher nicht. Depressionen sind  von Passivität geprägt und sie würde im Bett liegen, könnte nichts machen - aber das ist mein angelesenes Halbwissen und Melanie weiß es bestimmt besser.

 

LG Ulrike

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Nun ja, Depression ist nicht nur an passivem Verhalten erkennbar. Und die Kranken liegen bei manisch-depressiven Formen auch nicht im Bett. Bei einer bipolaren Störung erleben die Betroffenen einen ständigen Wechsel zwischen den Gemütslagen. die sich zum Hypermanischen entwickeln kann. Ein Beispiel, das eine solche Störung vermuten lässt, hat ja kürzlich erst die ganze Welt erschüttert. 

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Ich weiß nicht, ob man eine Figur (wie das Rippchen, aber auch generell) so einordnen kann und sollte, wie das ein Mediziner täte (ich weiß auch nicht, ob die Mediziner mit ihren Einordnungen da immer richtig liegen): Die Autorin verzichtet doch gerade auf solche Daten zur Kategorisieriung und liefert nur die Oberfläche, das, was man als aufmerksamer Beobachter mit steigender Fassungslosigkeit sehen würde. Aber diese Oberfläche ist so gekonnt gezeichnet, dass der Leser wohl begreifen kann, wie es drinnen in der Seele von Rippchen aussieht.

 

Wenn man sich nach Begründungen fragen will, dann würde ich das so tun, wie Lisa angefangen hat: Die Mutter, die erste Hauptfigur im Leben jedes Menschen ist für Rippchen eine fahnenstange: betrunken und lustig - zack – gar nicht lustig, grausam, sadistisch. Dann ändert sich das Verhalten wieder. Rippchen ist dauernd damit beschäftigt, die jeweilige Stimmung zu erkunden, um sich entsprechend einzurichten. Später dann, bei den anderen Kindern und Heiminsassen, hat sie sich schon auf eine Rolle eingerichtet: Wer sich alles gefallen lässt, wird weiter gequält. Da spielt sie dann die Starke, die sofort zurückschlägt, die keine Angst vor Schmerzen hat.

 

Ich habe gerade gesucht und es nicht gefunden: Auf welcher Seite steht denn da mit der Mine?

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

www.angelika-jodl.de

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Gerade dieses Widersprüchliche macht für mich das Wesen dieser Figur aus. Egal wo sie hingerät, sie ist niemals am richtigen Ort. Es ist immer irgendwie falsch.

 

Trotzdem wird sie im Verlauf des Romans eindeutig stärker. Vielleicht gerade weil sie die Widersprüche aushält? Ihr Bruder scheint ja viel harmoniebedürftiger zu sein als sie und wirkt darum auch viel geschlagener auf mich. Natürlich ist er auch noch deutlich jünger, der Vergleich ist also unfair ...

 

Das sehe ich auch so. Und das mit dem Ziel ist ein bisschen kniffelig in diesem Roman (ich sehe das genau so, wie Andreas es beschrieben hat).  Vielleicht, weil es ein Ziel ist im Sinne von „weg von“ und weniger „hin zu“ (und dies auch nur kreisförmig).

 

Und ja, natürlich ist sie widersprüchlich, aber auch darin sehe ich eine innere Logik. Das Mädchen sehnt sich nach einem Platz im Leben, nach Nähe, kann aber mit diesen Gefühlen nicht umgehen (diese Dynamik wird stärker im Folgeband „April“ thematisiert). Ihr hattet es ja schon erwähnt: Kinder brauchen die Anerkennung der Eltern (oder einer anderen Bezugsperson, die fehlt in dieser Geschichte aber völlig. Es gibt keine Tante, keinen Onkel, keine Großmutter, nix, nada), um ein positives Selbstwertgefühl zu entwickeln. Das kann sie nicht entwickeln, sie empfindet sich selbst als minderwertig, was hinsichtlich der körperlichen und seelischen Misshandlungen nicht erstaunlich ist. Was sie entwickelt, ist ein permanent aktiviertes Alarmsystem, um Ausbrüche der Mutter zu antizipieren (was leider aber nichts nützt).

 

Zudem hat sie sich eine Schutzrüstung angezogen, sie muss sich stark machen, auch unempfindlich, um an den Misshandlungen und der Missachtung nicht zu zerbrechen, Nähe könnte diese Schutzrüstung porös machen und so entsteht Ambivalenz zwischen Sehnsucht und Angst. In diesem Sinne finde ich es auch stimmig, dass wir wenig Einsicht in die Gefühlswelt der Figur bekommen, bzw. fast ausschließlich über Umwege. So wie das Mädchen z.B. in die Literatur abtaucht und sich mit ihrem Helden Edmond Dantês identifiziert. Zitat: „Sie schwört Rache für ihren Helden, der so schmählich um Liebe und Jugend betrogen wurde“. Oder über die Symbolik in ihren Träumen und den Bezügen zur Tierwelt.

 

 

Barbara, du sagtest, vielleicht sei sie so stark, weil sie die Widersprüche aushält. Da stimme ich dir zu. Sie ist zäh und hat einen ausgeprägten Widerspruchsgeist, auch Rebellentum. Was war ich froh, als sie sich endlich gegen den Nachtisch-Terroristen Kreische im Heim auflehnte und sich nicht weiter gängeln ließ. Zum ersten Mal wehrt sie sich!

 

Liebe Grüsse

 

Bettina

" Winterschwestern" (AT)
Figuren- und Storypsychologie

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Nochmal zu den Widersprüchen und wie sie damit umgeht (das hatte ich vorhin vergessen hier hinüber zu kopieren ), ich nehme hier einmal das Beispiel, als sie sich von der Mutter hinaus werfen lässt (sie provoziert das ja, braucht also ihre "Erlaubnis). Gut, nun haut sie ab. Raus in die Freiheit. Nur, was fängt sie damit an? Wie soll sie diese nutzen? Auch später wird das ein Thema, immer wieder sucht sie etwas und weiss nicht, wie sie damit umgehen soll (woher auch).

 

Irgend jemand unter euch hatte die Abtreibungsversuche der Mutter erwähnt, leider kann ich den Beitrag nicht mehr finden. Die bekommt sie ja live mit, ihr wird erzählt, dass auch sie nicht hätte geboren werden sollen und wie die Mutter versuchte, sie mit einem Kissen zu ersticken. Der Zorn Gottes hatte ein Gebot aufgestellt: Du sollst nicht leben! Dagegen rebelliert sie, testet immer wieder aus, ob das nun mit dem "davon kommen" funktioniert, aber dass sie mit all diesen Ambivalenzen und fehlenden Richtlinien hin und her, vor und zurück, mal links, mal rechts agiert, scheint mir nachvollziehbar.

 

Liebe Grüsse

 

Bettina

" Winterschwestern" (AT)
Figuren- und Storypsychologie

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So viel zu ihrem Figurenprofil (also, ich meine jetzt, was ihr schon treffend gesagt habt) Seht ihr eine Entwicklung? Bettina sprach von einer Entwicklung "weg von" statt "hin zu". Ich sehe, wenn überhaupt, sehr kleine Schritte. Eigentlich viel Hin und Her. Ein paar Schritte voran - oder dorthin, wo man als Leser "voran" vermutet: zum Vater ziehen, in der scheinschwangeren Ellen - war das nicht gruselig? Ist Ellen nicht eine merkwürdige und eindrucksvolle Figur? - einen Mutterersatz finden, in eine Art von Normalität finden. Dann wieder ein paar Schritte zurück. Was sowohl an ihr selbst und ihrer Unfähigkeit, mit Zuneigung umzugehen, liegt, als auch an ihrer Umwelt. Das wiederholt sich im Prinzip mit dem Heim oder mit allem Guten, was man ihr als Leser so dringend wünscht.

Es wird im Laufe des Buchs absehbar, oder ist schon früh absehbar, dass es nicht "vorangehen" wird. Und trotzdem entsteht für mich eine große Spannung. Getragen von einer Figur, die sich quasi nicht oder kaum entwickelt. Wie kommt das? Das hat mich beim ersten Lesen von Anfang an fasziniert. Ich will ihr immer zum nächsten Schritt folgen, wissen, was ihr jetzt widerfährt und welche Haken sie schlägt, um rauszukommen oder irgendwie damit zurechtzukommen, ich hoffe für sie, dass jemand kommt und sich ihrer so behutsam annimmt, dass sie Nähe zulassen kann, und gleichzeitig ist mir klar, dass dies nicht passieren wird, dass immer mehr desselben passieren wird. Woraus bezieht der Roman also seine Spannung? Aus diesem faszinierten Zusehen, aus einem Einblick in eine (den meisten) unbekannte Innenwelt/ Reaktionsweisen? (Was äußerlich passiert, ist es, glaube ich, nicht unbedingt. Das meint man traurigerweise zu "kennen" oder zumindest immer wieder gelesen/gesehen zu haben.)

Liebe Grüße

Claudia

Bearbeitet von ClaudiaB

Baronsky&Brendler: Liebe würde helfen  Ein Staffelroman 
Februar 21, Kampa

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Guten Morgen!

 

Uns wird nie ein vollständiger Einblick in das Bewusstsein der Figur gewährt, immer nur ganz kurz gleitet die Perspektive von der Außensicht in die Innensicht. geht dann aber wieder schnell wieder nach außen, so empfinde ich das jedenfalls. Auf diese Weise bleibt die Figur nur punktuell nachvollziehbar, fast unerklärt, eher unerschlossen, vielleicht deshalb geheimnisvoll? Rührt vielleicht daher die Spannung? Man möchte verstehen, wie sie denkt, fühlt, und warum sie wie handelt, bekommt aber immer nur Krümel davon? Vielleicht ist die Form dann die Antwort des Inhalts: die Figur begreift sich selbst nicht richtig, hat nur ein rudimentäres Bewusstsein für ihre eigene Lage, und das spiegelt sich in der Erzählform wieder. Die ErzählerIn gibt gar nicht vor mehr zu wissen.

 

Herzlichst

jueb

"Dem von zwei Künstlern geschaffenen Werk wohnt ein Prinzip der Täuschung und Simulation inne."  

AT "Aus Liebe Stahl. Eine Künstlerehe."

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Ja, das kann sein, Jueb. Und zwar bleibt es deshalb spannend, weil die punktuellen Einblicke sehr genau sind, wirklich auf dem Punkt. Sie beschreiben konkrete, oft körperliche Empfindungen, die seelische Zustände ausdrücken. Damit muss ich aber in den anderen (sprachlichen) Bereich umziehen ...  was ich auch tue. Unerschlossene Figur: das gefällt mir!  Sie ist eine Figur, die ihr Geheimnis behält, egal, wie viel wir psychologisch an ihr heruminterpretieren. (Das ist es übrigens nicht unbedingt, was mich an der Figur interessiert, die psychologische Ebene. Bzw diese ist schnell "abgefrühstückt", macht für mich aber nicht die Faszination aus. Man kann sich ja denken, dass sie einen ganz weiten Weg gehen muss, um zu lernen, jemandem zu vertrauen oder um nicht Opfer ihrer eigenen, sprunghaften Handlungen zu werden, die ihr selbst unverständlich bleiben.)

 

 

Die ErzählerIn gibt gar nicht vor mehr zu wissen

Ja, seh ich auch so: sie ist nur da, um diese Distanz zu erzeugen.

Das Undramatische, ich glaube, das ist es auch, was für mich die Spannung ausmacht. Eigentlich passieren ständig schreckliche Dinge. Sie werden aber vollkommen beiläufig erzählt. Es lauert nicht irgendwo noch ein "finsteres Geheimnis", eine düstere Vergangenheit, und selbst wenn es so wäre, bleibt es im Dunkeln, es ist egal, denn es ist auch Rippchen egal.

 

Darauf kam ich, weil ich - vielleicht les ich die falschen Bücher! - immer mehr den Eindruck habe, dass Geschichten mit Drama "vollgepumpt" werden. Auch in

bei rein literarischen, genrefreien Romanen.

Viele Absätze.

Wichtig.

Und dann noch mal abgesetzt.

Weil es echt was zu sagen gibt.

 

Habe gerade so ein Buch hinter mir, eigentlich eine schöne Geschichte, australische Autorin, EU, würde ich sagen, super übersetzt, sprachlich zum Teil wirklich toll.

Aber diese wichtigen Absätze.

Und dann ist früher etwas ganz Schreckliches passiert.

Alle ahnen es.

Und wie sie es ahnen.

Aber kommen nicht drauf.

Erst als sie auf dem Meer in einen Sturm geraten, hat der Vater nix besseres zu tun, als seinem Sohn die Wahrheit zu sagen.

Während das Boot absäuft.

Und dann gibt es haufenweise Ungereimtheiten.

Geradezu absurd.

Damit die Geschichte überhaupt funktioniert.

 

Diese Art von angekündigtem großen Drama im Hintergrund plus gewisse Tatsachen, die ich einfach nicht glauben konnte, das alles hat bei mir jegliche Spannung getötet, ich hatte keine Lust, die Geschichte zu Ende zu lesen (habe es dann trotzdem getan, aber desinteressiert. Und ich gehöre nicht zu den Lesern, die jede Kleinigkeit mit der Realität abgleichen müssen, das waren wirkliche Hämmer.)

 

Dagegen finde ich den Fließtext und das unaufgeregte, "realistische" oder scheinbar wirklichkeitsnahe Erzählen in "Das Mädchen" anregend, und so viel spannungsgeladener. Vermutlich speist sich die Spannung auch aus Empathie, die man ja, wie alle gesagt haben, trotz dieser Betrachtung von außen entwickelt. Und: nach zweimaligem Lesen finde ich doch, dass Rippchen, hakenschlagend, eine Entwicklung durchmacht, in sehr kleinen Schritten. Am Anfang habe ich nur das Hin und Her gesehen, die kleinen Fortschritte und den Riesenschritt zurück, sie schien mir nicht von der Stelle zu kommen. Aber immerhin schafft sie es doch, sich von der Mutter zu lösen. Auch wenn diese Lösung gefährdet bleibt (sie schreibt ja, schickt die Briefe aber nicht mehr ab.) Dass sie am Schluss noch einmal selbstzerstörerisch handelt, finde ich konsequent.

 

 

 

Vielleicht ist die Form dann die Antwort des Inhalts: die Figur begreift sich selbst nicht richtig, hat nur ein rudimentäres Bewusstsein für ihre eigene Lage, und das spiegelt sich in der Erzählform wieder.

Ja, so soll es doch sein, Form follows Function. Vielleicht erscheints mir deshalb so rund.

Und auf die Gefahr hin, zu nerven: Für mich ist dahinter der Gedanke oder die Frage(n) nach der Freiheit/Befreiung. Gefangensein in der Rolle/Familie (der Gewalt) im eigenen Muster, im Wiederholungszwang, im Land. Welche Freiheitsideen tauchen bei den einzelnen Figuren auf? Wo oder worin ist jede von ihnen gefangen?  Ist das Mädchen in diesem Moment nicht selbst freier als die Klassengenossen, als sie in Staatsbürgerkunde einfach mal nachfragt? Sie hat nichts zu verlieren, sie ist sowieso draußen. etc

Auch das alles macht es für mich spannend.

Liebe Grüße

Claudia

Bearbeitet von ClaudiaB

Baronsky&Brendler: Liebe würde helfen  Ein Staffelroman 
Februar 21, Kampa

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Liebe Claudia,

 

auf deinen wunderschönen langen Post kann ich nur ganz kurz: den Daumen heben. Du hast genau das sehr treffend ausformuliert, das mir schon lange im Kopf herum ging.

 

Wobei ich mich ertappt fühle: in meinen eher literarischen Kurzgeschichten mache ich auch viele Absätze. Erst gestern wieder.

Vielleicht sollte ich sie überdenken :s23

 

Danke,

Ulrike

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Ich wollte aber bestimmt nichts gegen Absätze an sich sagen (hatte schon ein schlechtes Gewissen deswegen :)) ... es ist mir nur bei einigen neueren, oft bei aus dem Englischen übersetzten Büchern aufgefallen, so eine Tendenz, eine Geschichte mit Drama zu "pimpen", habe mich gefragt, ob es gerade eine Massenerscheinung oder Mode ist, oder ob es nur mir immer passiert bzw ich so empfindlich bin. Das Buch, das ich meine, heißt: Jenseits der Untiefen, von Favel Parrett, übersetzt von Antje Ravic Strubel.

Dagegen erschien mir das Mädchen und auch April so klar und dabei so viel eindringlicher ...

Liebe Grüße

Claudia

Baronsky&Brendler: Liebe würde helfen  Ein Staffelroman 
Februar 21, Kampa

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Bettina Wüst

 

Dagegen finde ich den Fließtext und das unaufgeregte, "realistische" oder scheinbar wirklichkeitsnahe Erzählen in "Das Mädchen" anregend, und so viel spannungsgeladener. Vermutlich speist sich die Spannung auch aus Empathie, die man ja, wie alle gesagt haben, trotz dieser Betrachtung von außen entwickelt. Und: nach zweimaligem Lesen finde ich doch, dass Rippchen, hakenschlagend, eine Entwicklung durchmacht, in sehr kleinen Schritten. Am Anfang habe ich nur das Hin und Her gesehen, die kleinen Fortschritte und den Riesenschritt zurück, sie schien mir nicht von der Stelle zu kommen. Aber immerhin schafft sie es doch, sich von der Mutter zu lösen. Auch wenn diese Lösung gefährdet bleibt (sie schreibt ja, schickt die Briefe aber nicht mehr ab.) Dass sie am Schluss noch einmal selbstzerstörerisch handelt, finde ich konsequent.

 

Dem möchte ich mich anschließen. Die undramatische und auch unerbittliche Erzählweise, die auch viel ausspart, bewirkt, dass ich ganz nahe an die Figur rücke und mir sie selbst erschliessen muss, sofern das überhaupt möglich ist. Klassische Empathie-Knöpfe werden hier nicht gedrückt (ok, natürlich werden Knöpfchen gedrückt, aber sehr subtil und ohne Nötigung. Ich hoffe, ich kann mich halbwegs verständlich ausdrücken :-). Daraus erfolgt das Interesse für Ihr Schicksal und meine Empathie. Und damit einhergehend die spannende Frage, ob das Mädchen wohl jemals ihrer Misere entkommen kann. Und ja, ich finde definitiv, dass sie sich entwickelt! Am Ende der Geschichte steht sie an einem anderen Punkt als zu Beginn.

 

LG, Bettina

 

P.S. Über die Frage nach Freiheit, was auch die anderen Figuren betrifft, muss ich nachdenken, nachlesen. Wie denkt ihr darüber?

" Winterschwestern" (AT)
Figuren- und Storypsychologie

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Hallo Ihr,

ich bin seit längerem zum ersten Mal wieder im Forum (war durch die Arbeit an meinem neuen Roman völlig eingebunden) und sehe, dass ihr Angelika Klüssendorfs "Mädchen" besprecht. Gute Wahl! Ich habe das Buch nach einer Lesung von Klüssendorf gekauft und gelesen und fand es gerade aus schriftstellerischer Sicht sehr interessant.

 

Liebe Grüße

Maria

Frisch erschienen: "Letzte Meile"

www.mariaknissel.de

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