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Bettina Wüst

Das Mädchen - Teil 1: Dramaturgie, Setting

Empfohlene Beiträge

 

Dabei fällt mir ein westdeutsches Pendant ein: "Scherbenpark" von Alina Bronsky. Hier ist die Heldin 17, also so alt wie unser Mädchen am Ende der Geschichte, und wesentlich aktiver, da sie den Mann, der die Familie tyrannisiert, umbringen wird.

 

Scherbenpark erscheint mir dagegen ungleich unglaubwürdiger und - tja, die Heldin, die etwas will und bewirkt - theatralischer (im negativen Sinne.) Ich nehme der Heldin die Geschichte nicht ab, dahinter knirschen - nur meine Meinung- die Scharniere.

 

Geht mir ganz genauso :-)

 

LG Ulrike

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"Scherbenpark" habe ich auch gelesen, aber für mich war es mehr ein Unterhaltungsroman. Ich fand nicht, dass die Geschichte sich wirklich mit den Problemen der Ghetto-Kinder auseinandersetzt. "Das Mädchen" liest sich ganz anders. 

Als Kritik an der DDR habe ich den Roman aber nicht gelesen. Ich glaube nämlich, diese Situation hätte sich überall ereignen können. Wie oft haben wir schon in den Zeitungen gehabt, dass Kinder von ihren Eltern zu Tode gequält wurden.

 

Daher habe ich mir überlegt: Wie wichtig ist das DDR-Setting für diese Geschichte?

 

Liebe Grüße,

Olga

 

Ich fand es nicht wichtig, dass diese Geschichte in der DDR spielt. Es ist für mich auch keine Systemkritik, sondern eher eine allgemeine gesellschaftliche Kritik, denn diese Art von Verwahrlosung wird man in jeder Gesellschaft finden.

Auch, wenn es im Westen schon aufgeklärtere Menschen gab - die Regel waren sie nicht. Und es war von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich, wie die beiden Nachbarn Hessen und Bayern zeigen (bin in Hessen aufgewachsen und finde es immer wieder erstaunlich, wie unterschiedlich Kindheit und Schulzeit von meinen Freunden hier in Bayern verlaufen ist)

 

Auch die Zeit, in der die Geschichte spielt (ca. 1972 bis 1977 - jedenfalls wurde Conny Kramer 1972 veröffentlicht) finde ich nicht überragend wichtig. Natürlich, in heutiger Zeit gibt es Mechanismen, die Kindesmisshandlung vorbeugen sollen und auch können. Trotzdem ist es immer wieder möglich, dass jemand durchs System rutscht und die Sozialämter belügt.

 

Auch das Heim wird nicht massiv kritisiert, sondern lakonisch geschildert. Im Vergleich zu den Schilderungen bei Peter Wawerzinek "Rabenliebe" kommt das Heim sogar relativ gut weg.

Es gibt genügend Anhaltspunkte im Text, um sich zu orientieren. Das ist wichtig. Mehr braucht es nicht.

 

Was mir gefällt, ist, dass der Westen nicht das verlockende Paradies ist. Zwar kommen von dort die Geschenke , die die Mutter von der Arbeit bei der Mitropa mitbringt. Aber da das erste, das aus dem Westen im Buch erwähnt wird, der arme, sterbende Conny Kramer ist, wird gleich klar: für das Mädchen ist der Westen keine Verlockung, kein Ziel, wo sie hinwill.

 

Aber vielleicht habe ich als im Westen aufgewachsene eine andere Sicht.

 

LG Ulrike

(der jetzt leider Juliane Werding als Ohrwurm das Hirn verpestet)

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Hallo ihr Lieben,

 

bei mir war nun doch eine Zeit lang "Land unter", so dass ich erst jetzt wieder zum Posten komme. Ich habe aber eure spannenden Beiträge mitgelesen!


Eigentlich zeigt er nur die Vereinsamung eines Kindes aus schwierigen Verhältnissen unter den Bedingungen der DDR. Es könnte aber überall spielen, halt dann unter etwas anderen Bedingungen, im Kern aber wohl genauso.

Ja, so habe ich das auch gelesen. Obwohl man natürlich einiges über die DDR-Gesellschaft erfährt. Aber entscheidender fand ich das Provinzielle. Auch das Ärmliche. In den Sechzigern oder Siebzigern hätte das auch in der BRD sein können, vielleicht auch später noch.

 

Das mit den Zielen ist ja wirklich eine knifflige Frage. ;) Ich sehe es eigentlich nach wie vor so, dass nicht die Ziele des Mädchens die Dramaturgie des Romans bestimmen. Natürlich hat sie Wünsche bzw. Sehnsüchte. Aber zum einen scheinen mir die widersprüchlich: Sie will ihrer besch… Lage entfliehen; sie will aber auch dazugehören. Sie stellt sich zu den kichernden Mädchen auf dem Schulhof; sie verbündet sich mit der Mutter gegen den Bruder; sie erzählt der blinden Frau eine wundervolle Fantasiegeschichte über ihr Zuhause. Und zweitens weiß sie doch selbst nicht, wie dieses Entkommen eigentlich aussehen könnte. Die beiden Male, als sie in der ersten Hälfte von ihrer Mutter wegläuft, weiß sie dann absolut nichts mit diesem Frei-Sein anzufangen. Wie gesagt: Woher auch.

 

Das finde ich übrigens auch wunderbar eingefangen: dass es in der Welt des Mädchens eigentlich gar keine Freiheit gibt. Gar keine Vision von Freiheit. Es gibt nur ein Weg-Sein, ein Verschwinden, was nicht gelingen kann. Dass es mehr geben könnte, entdeckt das Mädchen nur ganz allmählich. Und ich habe es eigentlich so im Kopf (die zweite Hälfte will ich mir daraufhin aber noch mal anschauen), dass sie bis zum Schluss relativ planlos und unstrategisch mit den Freiräumen umgeht, die sie sich schaffen kann.

 

Was ich bei ihr sehe, ist ein starker Drang zu überleben. Und einiges an Klugheit, weil sie aus ihren Erfahrungen ja durchaus viel lernt. Beim nächsten Mal macht sie es anders.

Bearbeitet von BarbaraS
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Sie will etwas Schönes, sie will etwas für sich, das ihr das Gefühl gibt, etwas wert zu sein.

 

Ja, das könnte ein oder ihr "Want" sein. Gleichzeitig ist da aber auch ein sehr zerstörerisches Wollen, teils bewusst, teils unbewusst. Das erwähnte Autospiel, der Drang, jemandem wehzutun. Und ich finde, ihre Konflikte rühren genauso daher, dass die Umwelt ihr ständig Gewalt antut oder damit droht, dass sie reagieren muss. Sie ist eine Romanfigur, die Haken schlägt, nicht auf einen "Wendepunkt" zusteuert. Genau das imponiert und gefällt mir unter anderem an dieser Geschichte.

Sie weiß nicht, wohin,  hat, wie Barbara sagt,  keine Freiheit, auch keine Idee. Das Widersprüchliche, das Barbara anspricht, das ist für mich der ganz starke Eindruck beim Lesen. Sie flüchtet erstmal, ändert die Richtung, versucht vieles. Versucht es natürlich auch mit Zuneigung, will mit allen Mitteln, dass diejenigen, die sie mag, sie auch ganz besonders mögen. Aber auch hier verhält sie sich widersprüchlich. Und würde ihr einer in dieser Phase wirklich dauerhaft Zuneigung zeigen, könnte sie wahrscheinlich nicht damit umgehen.

 

 

 

 

Eigentlich zeigt er nur die Vereinsamung eines Kindes aus schwierigen Verhältnissen unter den Bedingungen der DDR. Es könnte aber überall spielen, halt dann unter etwas anderen Bedingungen, im Kern aber wohl genauso.

 

Den ersten Satz würde ich glatt unterschreiben. Aber ich glaube, dass die DDR-Details wichtiger sind und auch mit der Geschichte verbunden sind. Deutlicher sieht man es in der Fortsetzung "April", wo sie tatsächlich gegen das System rebelliert. Vielleicht verleiht dieser Hintergrund der Geschichte "nur" eine spezielle Farbe oder einen bestimmten Klang, aber diese Klangfarbe gehört für mich zur Geschichte. Das System im Positiven und im Negativen. Barbara spricht von ländlicher Umgebung, aber die kommt doch erst später, im Heim. Der Anfang der Geschichte spielt meines Wissens in Leipzig (?), auf jeden Fall in einer Stadt. (Straßenbahn etc.) Genau das, dass diese ganze Umgebung etwas so Provinzielles hat, das ist für mich der DDR-Atem, der dieses Buch durchzieht. Bis in die Sprödigkeit der Sprache hinein.Und es gibt so viele Kleinigkeiten: "Sie gibt sich das Versprechen, eine gute Schülerin zu sein, freut sich darauf, die erste Seite eines Heftes vollzuschreiben, sie verspürt den Ehrgeiz, ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu werden, vielleicht wird sie sogar freiwillig den Posten der Milchkassiererin übernehmen."

 

Allein hier steckt so vieles ... Positives und Negatives. Ich glaube nicht, dass einem Kind in ähnlicher Lage im Westen der Gedanke gekommen wäre, ein nützliches Mitglied der Gesellschaft werden zu wollen (beinahe scheint die Erzählstimme hier auch ein bisschen ironisch), und es wird auf die Posten angespielt, die nötig sind, um auf irgendeine Weise in der Klasse und vom Lehrer anerkannt zu sein, wenigstens ein bisschen. Dies halt auch anders als im Westen (wo sie natürlich auch ausgegrenzt worden wäre, keine Frage, aber anders. Hier hätte es sich vielleicht stärker über die Klamotten abgespielt, über Abfälligkeit der Mitschüler, die Armut verachtet hätten.) Gleichzeitig wird sie sich bestimmte Dinge nicht kaufen müssen, um in der Schule mitmachen zu können, wie es hier im Westen gewesen wäre. Und da ist die Idee der Freiheit im Westen, die sie natürlich nicht interessieren kann, aber viele andere prägt. Die Frage nach der Freiheit zieht sich durch den ganzen Roman - und allein deshalb ist das Setting wichtig bzw unverzichtbar. Was macht einen Menschen unfrei?

 

Die Mutter wäre im Westen vielleicht arbeitslos und im Westen der damaligen Zeit mit Sicherheit weniger autark, würde sich vermutlich abhängiger von einem Mann machen. Zwischen 1972 und 1976 spielt die Geschichte (glaube ich). Damals durfte im Westen eine Frau noch nicht einmal ein eigenes Konto führen ohne Erlaubnis des Ehemanns, war es nicht so? Diese Frau aber hat einen Job, hat als Kellnerin in der Mitropa auch Macht (DDR-Kellner!) und ihre Männer wechseln, sie scheint relativ selbstständig und auch das verleiht ihr vielleicht zu Hause noch mehr Macht. Eine schreckliche, interessante, und wie ich finde, schon DDR-typische Figur.

 

Ich finde das Setting berührt den Kern des Romans ...

Liebe Grüße

Claudia

Bearbeitet von ClaudiaB

Baronsky&Brendler: Liebe würde helfen  Ein Staffelroman 
Februar 21, Kampa

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Eigentlich zeigt er nur die Vereinsamung eines Kindes aus schwierigen Verhältnissen unter den Bedingungen der DDR. Es könnte aber überall spielen, halt dann unter etwas anderen Bedingungen, im Kern aber wohl genauso.

 

Was ich bei ihr sehe, ist ein starker Drang zu überleben. Und einiges an Klugheit, weil sie aus ihren Erfahrungen ja durchaus viel lernt. Beim nächsten Mal macht sie es anders.

 

Das sehe ich auch so. Es stimmt natürlich, Claudia, dass dieses Setting dem Roman einen spezifischen Klang gibt, aber den Kern verändert es nicht, diese Geschichte würde auch mit einem anderen Setting funktionieren.

 

Den von Barbara zitierten Überlebensdrang, das Zerrissene, die teils widersprüchlichen Wünsche, Träume und Sehnsüchte würde ich mit euch gerne im Figurenteil dieser Diskussion besprechen. Claudia erwähnte das hochriskante Autospiel, mit dem das Mädchen ihr eigenes und das Leben ihres Bruders aufs Spiel setzt. Ich sehe das allerdings nicht als Todessehnsucht, sondern eher als ein Austesten, ob sie nochmals "davon kommt". Die Spiele hören ja auf, als der Bruder verunglückt. Mehr dazu dann im anderen thread :-)

 

Liebe Grüsse

 

Bettina

" Winterschwestern" (AT)
Figuren- und Storypsychologie

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Jetzt hätte ich es auch gelesen und bin ziemlich hin und weg. Ulrikes frage hatte ich auch gleich: Ist das autobiographisch? Bitte, bitte – das würde ja bedeuten, dass sie es geschafft hat. Und es gibt einen Folgeband? Wird sogleich gekauft.

 

Aber jetzt müsst ihr erst sagen, ob ich noch einsteigen darf.

 

Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

www.angelika-jodl.de

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Ist das autobiographisch? Bitte, bitte – das würde ja bedeuten, dass sie es geschafft hat. Und es gibt einen Folgeband? Wird sogleich gekauft.

 

Aber jetzt müsst ihr erst sagen, ob ich noch einsteigen darf.

 

Angelika

 

Wie schön, noch eine Klüssendorf-Meise :-) Willkommen auf unserem Ast, mach's dir gemütlich, ich freue mich schon auf deine Kommentare!

Ja, es gibt einen Folgeband: "April", diesen Namen gibt sich die Heldin selbst. Der Roman hat anscheinend autobiographische Züge, die Autorin ist in der DDR aufgewachsen und hat eine Heimvergangenheit. Inwiefern die Familienkonstellation im Roman autobiographisch ist, weiss ich nicht (anscheinend lebt die Autorin aber nun in dem Haus, dass die Romanheldin sich erträumt hat...)

 

Liebe Grüsse

 

Bettina

" Winterschwestern" (AT)
Figuren- und Storypsychologie

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Barbara spricht von ländlicher Umgebung, aber die kommt doch erst später, im Heim. Der Anfang der Geschichte spielt meines Wissens in Leipzig (?), auf jeden Fall in einer Stadt. (Straßenbahn etc.) Genau das, dass diese ganze Umgebung etwas so Provinzielles hat, das ist für mich der DDR-Atem, der dieses Buch durchzieht

 

Neinnein, ich meinte nicht irgendeine Ländlichkeit, sondern genau diese Provinzialität. Die Tristesse. Dass es für Jugendliche so wenig zu tun gibt. So gar keine Farbe. Kein Wegkommen. Auch, dass es vorstellbar ist, die Kneipen nach dem eigenen Vater abzusuchen und ihn tatsächlich zu finden ... Vieles hat mich da durchaus ans Ruhrgebiet in den Siebzigern erinnert zum Beispiel.

 

Anderer ist natürlich unverwechselbar DDR, da hast du ja schon einiges aufgezählt, Claudia. Wobei ich mich frage: Gab es die autarken alleinerziehenden Unterschichtfrauen im Westen wirklich nicht? Sind die nicht auch arbeiten gegangen, einfach weil sie "mussten"? Da klafft bei mir aber eine richtig große Wissenslücke.

 

Mir ging es aber mehr um den Punkt, dass ich den Roman nicht als Anklage oder Entlarvung des DDR-Systems lese. Und ob das DDR-Setting den Kern des Romans berührt? Ich weiß nicht genau. Für mich ist es ein Roman über Sehnsucht, glaube ich. Und zwar gerade über die Widersprüchlichkeit der eigenen Sehnsüchte. Im Roman sind diese Sehnsüchte sehr stark durch das Leben in der DDR mit geprägt, so weit würde ich mitgehen. Aber den eigentlichen Kern -  diese Unfreiheit und Lieblosigkeit, aus der das Mädchen sich heraussehnt - den kann ich mir auch in der BRD vorstellen.

 

"April" will ich auch unbedingt noch lesen!

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Ich sehe es wie ihr und denke ebenfalls, die besondere Qualität des Romans ist es, dass er einerseits ein bestimmtes Setting wählt, eben die DDR in den 70ern, aber gleichzeitig etwas Allgemeines, Universelles daraus macht. Und trotzdem ist das Setting nicht bloß austauschbare Kulisse, es bestimmt Figuren und Handlung mit. So wie eben auch die Verhältnisse die Menschen prägen. Für mich ist das eine ideale Symbiose aus Hintergrund und Vordergrund, und daher kommt für mich die große Schärfentiefe, die dieser Text hat.

"Wir sind die Wahrheit", Jugendbuch, Dressler Verlag 2020;  Romane bei FISCHER Scherz: "Die im Dunkeln sieht man nicht"; "Die Nachtigall singt nicht mehr"; "Die Zeit der Jäger"

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Huch, ihr tummelt euch ja schon munter in den verschiedenen Abschnitten, und ich bin mit Teil 1 noch nicht durch!

 

 

 

Die Tristesse. Dass es für Jugendliche so wenig zu tun gibt. So gar keine Farbe. Kein Wegkommen. Auch, dass es vorstellbar ist, die Kneipen nach dem eigenen Vater abzusuchen und ihn tatsächlich zu finden ... Vieles hat mich da durchaus ans Ruhrgebiet in den Siebzigern erinnert zum Beispiel.

 

Die Kneipen absuchen und diese spezielle Art von Tristesse und Ruhrgebiet ... da muss ich an Ralf Rothmanns Romane denken, die mich so sehr gefesselt haben. Ich selbst kenne diese spezielleTristesse nicht, unser Leben im Westen (eben etwas später als das hier geschilderte, aber an "Conny Cramer" kann ich mich auch erinnern) war sehr amerikanisch geprägt: Ami-Siedlung gegenüber, leuchtende Fenster zu Weihnachten, überhaupt erinnere ich mich an viele Leuchtreklamen und an so viel Farbe, Stadt, ja, auch Möglichkeiten, als Jugendliche loszuziehen und sich Bands anzuschauen usw. Und das im Gegensatz zum DDR-Alltag, den ich auch sehr intensiv und oft wahrgenommen habe, übrigens auch mit all seinen guten Seiten (oder den Seiten, die ich als Kind gut fand)

Rothmanns Ruhrgebiet kommt mir auch sehr "westlich" vor, in all seinen Detailschilderungen.

 

Vermutlich hat Ulrike recht, es kommt sehr drauf an, in welchem Bundesland und in welcher Groß- oder Kleinstadt man aufgewachsen ist.

 

 

 

Wobei ich mich frage: Gab es die autarken alleinerziehenden Unterschichtfrauen im Westen wirklich nicht? Sind die nicht auch arbeiten gegangen, einfach weil sie "mussten"? Da klafft bei mir aber eine richtig große Wissenslücke.

Ja, bei mir natürlich auch.

Sagen wir, ich kannte keine oder wenige. Meine Eltern wechselten sich in meiner frühen Kindheit mit Schichtdienst ab (noch von DDR-geprägt), das war schon eine Art Ausnahme. Mütter arbeiteten "mit", daran erinnere ich mich, viele auch gar nicht. Als "Schlüsselkind" wurde man so ein bisschen schief angeschaut. Und klar, es gab einige geschiedene Eltern, aber da zahlte ja der Vater ... Ich habe meine Kindheit nicht gerade unter reichen Leuten verbracht, hätte die autarken Frauen eigentlich treffen müssen, aber sie waren eben eine Ausnahme, glaube ich.

 

 

 

Ich sehe es wie ihr und denke ebenfalls, die besondere Qualität des Romans ist es, dass er einerseits ein bestimmtes Setting wählt, eben die DDR in den 70ern, aber gleichzeitig etwas Allgemeines, Universelles daraus macht. Und trotzdem ist das Setting nicht bloß austauschbare Kulisse, es bestimmt Figuren und Handlung mit. So wie eben auch die Verhältnisse die Menschen prägen. Für mich ist das eine ideale Symbiose aus Hintergrund und Vordergrund, und daher kommt für mich die große Schärfentiefe, die dieser Text hat.

Ja, das kann ich unterschreiben! (Ich schreib jetzt nicht: da bin ich ganz bei dir, diese neue, aufdringliche Sprachunart, gleich nach der "Augenhöhe":))

 

Liebe Grüße

Claudia

Baronsky&Brendler: Liebe würde helfen  Ein Staffelroman 
Februar 21, Kampa

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Noch kurz was zu den autarken, alleinerziehenden Frauen im Westen. Die waren selten. Bis in die 60er Jahre hinein wurde unverheirateten Müttern das Sorgerecht aberkannt. Das Kind kam ins Heim oder ein männlicher Verwandter wurde Vormund des Kindes. Alleinerziehende Mütter konnte es also nur geben, wenn der Mann gestorben war, körperlich abwesend (Montage im Ausland, Knast) oder die Frau geschieden war. Oder der männliche Vormund sich um diese Vormundschaft nicht kümmerte und das Kind bei der Mutter beließ. Die Gesellschaft hat Frauen im Westen stärker unterdrückt als im Osten. Alleine die Sache mit dem Konto - nur mit Genehmigung des Ehemannes etc.

In meiner Kindheit (behütetes Mittelstandskind, Hessen, Jg. 1965) gab es nur eine einzige Frau, die ein Kind alleine groß zog. Interessanterweise eine meiner Grundschullehrerinnen. Das Kind kam 1972 zur Welt, sie setzte ein Jahr aus, kam dann wieder. Großes Getuschel unter den Erwachsenen, der Vater war nie bekannt. Aber sie durfte Lehrerin bleiben, das wäre in Bayern vielleicht anders gewesen.

Autarke Frauen, die arbeiten gehen mussten, gab es bestimmt im Westen. Aber unverheiratet mit Kind erst in den 70ern. Und mit viel Gerede. Was mir noch einfällt: eine spätere Kollegin von mir bekam 1968 unverheiratet ein Kind, ohne den Vater nennen zu wollen. Alle machten Druck, Eltern, Standesamt etc. Es gab keinen juristischen Zwang, den Vater zu nennen, aber einen gesellschaftlichen. Sie hat durchgehalten und war sehr stolz darauf. Sie hat im geh. Dienst gearbeitet, auch in Hessen, stand finanziell also gut da.

Ich denke, gerade "Unterschichtsfrauen" haben immer geheiratet, wenn sie schwanger waren, damit das Kind versorgt war. Steuerlich war es eh besser.

Und dann haben die Frauen eine schreckliche Ehe ausgehalten, um die Kinder zu behalten. Bis zum neuen Scheidungsrecht 1977 verlor man als Frau das Sorgerecht für die Kinder, wenn man schuld an der Ehescheidung war (galt umgekehrt auch). Blieben die Kinder bei der Frau, musste der geschiedene Ehemann genügend Unterhalt zahlen, damit die Frau nicht arbeiten gehen musste.

Die Notwendigkeit, alleinerziehend arbeiten zu gehen, bestand dann wahrscheinlich nur, wenn der Mann nicht viel Unterhalt zahlen konnte.

Alles Gründe, weswegen es sehr selten alleinerziehende Frauen im Westen gab.

LG Ulrike

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Danke, liebe Ulrike, das finde ich alles sehr interessant.

 

 

 

Bis in die 60er Jahre hinein wurde unverheirateten Müttern das Sorgerecht aberkannt. Das Kind kam ins Heim oder ein männlicher Verwandter wurde Vormund des Kindes. Alleinerziehende Mütter konnte es also nur geben, wenn der Mann gestorben war, körperlich abwesend (Montage im Ausland, Knast) oder die Frau geschieden war. Oder der männliche Vormund sich um diese Vormundschaft nicht kümmerte und das Kind bei der Mutter beließ.

 

Und ich glaube, dieses Gefühl, dass die allein erziehende, bzw geschiedene Mutter irgendwie "bäh" war, das hielt sich noch viel länger.

 

Deshalb denke ich, dass diese Selbstverständlichkeit, mit der diese Frau Kinder von verschiedenen Männern hat und alleine agiert, schon etwas Besonderes bzw Typisches ist.

 

 


Und dann haben die Frauen eine schreckliche Ehe ausgehalten, um die Kinder zu behalten. Bis zum neuen Scheidungsrecht 1977 verlor man als Frau das Sorgerecht für die Kinder, wenn man schuld an der Ehescheidung war (galt umgekehrt auch). Blieben die Kinder bei der Frau, musste der geschiedene Ehemann genügend Unterhalt zahlen, damit die Frau nicht arbeiten gehen musste.

 

Ja, und Scheidung war im Westen echt ein Makel, auch für die Kinder, kann ich nur bestätigen. Das war in der DDR einfacher und wurde, soweit ich weiß, auch anders gesehen. Aber das führt jetzt zu weit von der Geschichte weg.

Trotzdem: furchtbare, verspießerte Zeit damals, trotz allem, was in den Seventies ja auch passiert ist ...

Liebe Grüße

Claudia

Baronsky&Brendler: Liebe würde helfen  Ein Staffelroman 
Februar 21, Kampa

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Ja, das führt zu weit weg vom "Mädchen", aber ich möchte an dieser Stelle doch noch einwenden, dass ich diese Zeit nicht so erlebt habe, wie oben geschildert. Die Erlaubnis des Ehemannes für das Konto wurde schon in den 50iger Jahren abgeschafft. Es gab ja auch viele Frauen, die gar keinen Mann mehr hatten, die Kriegswitwen, und selbstverständlich arbeiteten. Diese damaligen Einschränkungen im bundesrepublikanischen Ehe- und Familienrecht zu Lasten der Frauen sind ja auf den großen Einfluss der Kirche zurückzuführen, der bis heute andauert. Es gab noch lange Zeit den sog. Kuppelei-Paragraphen und das "Kranzgeld", eine Entschädigung für die unbescholtene Verlobte, die beide aber in den letzten Jahren (70iger) ihres Bestehens schon keine Relevanz mehr hatten. (Noch heute wird die Kirchensteuer über das Finanzamt direkt vom Gehalt abgezogen und an die Kirchen gezahlt. Das ist ziemlich einmalig in der EU.)

 

Auch möchte ich die Jüngeren hier an die Pille erinnern, die 1961 in der BRD auf den Markt kam und alles veränderte. Wenig später ging es auch schon los mit den 68ern. Ebenso an die Stern-Aktion von 1971 "Wir haben abgetrieben". Ich bin eine Jugendliche dieser Zeit, habe an feministischer Front mitgekämpt und ein eigenständiges Leben geführt - trotz damaligem Ehemann. Die benannten Einschränkungen haben in unserem damaligen Frauenleben keine Rolle gespielt. Den Mief verorte ich eher in den 50igern und in der ersten Hälfte der 60iger Jahre.

 

Und was die DDR betrifft, auch hier musste die Frau in der Familie darauf achten, dass sie sich ihre Berufstätigkeit  mit der Familie vertrug. Das wollte ich zum Systemvergleich noch mal anmerken, obwohl es direkt mit dem Roman nichts zu tun hat und bin darum auch schon wieder weg.

 

Gruß aus Tirol

Bearbeitet von ChristineNo
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Für mich skizziert der Roman ein Milieu, wie es mir hier in Neukölln immer wieder begegnet - oder besser gesagt, wie ich es hier ein bisschen von außen wahrnehme. Das was der Roman schildert, könnte so oder ähnlich, hier auch stattfinden, denke ich.

 

LG

jueb

"Dem von zwei Künstlern geschaffenen Werk wohnt ein Prinzip der Täuschung und Simulation inne."  

AT "Aus Liebe Stahl. Eine Künstlerehe."

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Und was die DDR betrifft, auch hier musste die Frau in der Familie darauf achten, dass sie sich ihre Berufstätigkeit  mit der Familie vertrug. Das wollte ich zum Systemvergleich noch mal anmerken, obwohl es direkt mit dem Roman nichts zu tun hat und bin darum auch schon wieder weg.

 

Ja, ich will auch gar nix schönfärben. Aber die Berufstätigkeit war eben alltäglich und gewollt. Und die Frau hatte natürlich die Doppelbelastung am Hals. :)

 

Und zu den Siebzigern: Deshalb schrieb ich ja: abgesehen von dem, was in den Siebzigern sonst so los war ... ich glaube einfach, der Mief hielt sich noch relativ lange. Trotz des aufstrebenden Feminismus, der 68er Bewegung etc.
So hab ich das jedenfalls als Kind wahrgenommen - auch gerade das Mann -Frau- Verhältnis und zwar aus nächster Nähe. Deshalb war ich auch schon mit 13 "Früh-Feministin" :) und ganz radikal (hat sich später etwas gelegt :))

 

Und, Jueb, vermutlich gibt es solche Verhältnisse in Neukölln, wahrscheinlich gehäuft ... aber genau das macht das Setting des "Mädchens" ja interessant: in ihrer Umgebung gibt es solche Familien wie ihr eben NICHT. Da funktioniert nämlich alles, und es wird weggeschaut. Es gibt auch keine Streetworker und bereitstehenden Sozialarbeiter. Übrigens auch keine (kaum) Ausländer. Es gibt mehr oder weniger brave Bürger, Abschnittsbevollmächtigte, systemtreue Lehrer, tüchtige Mitschüler, die Patenschaften übernehmen und im System funktionieren ...

Und jetzt hör ich auf, auf dem Setting rumzureiten, versprochen.

Ich finde aber solche Diskussionen um das Thema herum, wie wir sie jetzt hatten oder haben, gehören auch dazu.

Liebe Grüße

Claudia

Baronsky&Brendler: Liebe würde helfen  Ein Staffelroman 
Februar 21, Kampa

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Das extreme Schicksal des Mädchens – das haben alle hier ja betont – kann vor jeder Kulisse stattfinden. Gerade als extremes ist es halt auch die Ausnahme. Zumindest dürfte die Mutter bei Klüssendorf keine typische DDR-Mutter sein, das wäre ja wohl doch etwas arg.

 

Das Setting ist dennoch wichtig, würde ich sagen. Weil im Hintergrund der Geschichte eine Moral herumschlurft, die den grimmigen Humor im Leser anregt. Dafür passt Moral ja immer gut, egal welche Werte jeweils angebetet werden. Aber die Würze schmeckt anders, wenn Kinder im Schatten der Altöttinger Gnadenkapelle verprügelt werden oder wenn in einem Heim die schwer Erziehbaren dazu aufgefordert werden, ihre "ganze Kraft und Fähigkeit für die Verteidigung der Arbeiter-und-Bauern-Macht einzusetzen" oder zu helfen, "die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beseitigen".

 

Der Widerspruch ist – für mich – nicht ganz so schreiend wie Kinderprügeln und Rosenkranz. Aber lächerlich ist das schon auf seine Weise. Weil man sich doch gleich fragen muss, ob ein Staat, der sich selber zum "Arbeiter- und Bauernstaat" erklärt, also zumindest im Selbstbild deren Macht ist – ob der wirklich die vergleichsweise schwachen Schultern von Heimzöglingen nötig hat.

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

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Bemerkenswert finde ich allerdings, dass weder Thema noch Handlung extrem oder genauer: richtig spektakulär sind. Unter richtig spektakulär empfände ich Mord/Totschlag, Vergewaltigung etc. Eben so wie etwa in "Scherbenpark" - darauf wurde ja schon verwiesen.  Wir sind ja in der Literatur - zumindest ich finde das so - aufs Spektakuläre geeicht. Je unspektakulärer, desto schwieriger... offenbar für den Leser, aber vielleicht auch für den Autor. Selbst wenn das Mädchen vielleicht kleine Entwicklungsschritte nach vorne macht, empfinde ich den Roman eher als Schilderung und Beschreibung eines Zustandes und von zwischenmenschlichen Verhältnissen und wiederkehrenden Verhaltensmustern. Von Handlungstreibenden Elementen kann nur bedingt gesprochen werden, oder? Es sind eher Stationen, die die Figur durchläuft, und mit denen sie sich auseinandersetzen muss. Und diese (Leidens)Stationen sind quasi biografisch vorgegeben, sie ergeben sich aus der Unterschichtsfamilie der Figur, den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, den beschränkten Entfaltungsmöglichkeiten. Vielleicht ist das auch ein Punkt, warum ich mich nicht so sehr für dieses Buch begeistern kann.

Form und Ablauf des Erzählten finde ich sehr absehbar.

 

LG

jueb

Bearbeitet von jueb

"Dem von zwei Künstlern geschaffenen Werk wohnt ein Prinzip der Täuschung und Simulation inne."  

AT "Aus Liebe Stahl. Eine Künstlerehe."

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Bearbeitet von jueb

"Dem von zwei Künstlern geschaffenen Werk wohnt ein Prinzip der Täuschung und Simulation inne."  

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Auch möchte ich die Jüngeren hier an die Pille erinnern, die 1961 in der BRD auf den Markt kam und alles veränderte. Wenig später ging es auch schon los mit den 68ern. Ebenso an die Stern-Aktion von 1971 "Wir haben abgetrieben". Ich bin eine Jugendliche dieser Zeit, habe an feministischer Front mitgekämpt und ein eigenständiges Leben geführt - trotz damaligem Ehemann. Die benannten Einschränkungen haben in unserem damaligen Frauenleben keine Rolle gespielt. Den Mief verorte ich eher in den 50igern und in der ersten Hälfte der 60iger Jahre.

 

Den Mief kann man aber auch einfach in der Provinz verorten. Oder in sehr katholischen Gegenden. Die Frauenbewegung, das betraf ja nicht gleich weite Teile der Bevölkerung. Und auch nicht jedes Alter. Auch in den Familien, die aus dem katholischen Südeuropa stammten. Ich erinnere mich, was für Probleme es gab, wenn ein deutscher Junge sich in ein portugiesisches Mädchen verliebte - und das war 1980. Diese Freundschaft wurde von den Eltern verboten, weil das Mädchen erst 15 war.

 

Es wird sie gegeben haben, diese starken, autarken Alleinerziehenden. Aber eben wesentlich seltener, als wir es heute kennen oder uns vorstellen können.

 

Jedenfalls, abschließend: diese dargestellten Lebensverhältnisse in "Das Mädchen" halte ich nicht für DDR-spezifisch, auch wenn das Leben in der DDR kurz und prägnant dargestellt wird, so, wie es ein heranwachsendes Mädchen erleben konnte.

 

Das Setting ist wichtig für die Entwicklung der Person und ganz hervorragend (nicht belehrend, nicht erklärend) und aus der Person heraus geschildert. Und das beeindruckt mich wirklich sehr.

 

LG Ulrike

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Das extreme Schicksal des Mädchens – das haben alle hier ja betont – kann vor jeder Kulisse stattfinden. Gerade als extremes ist es halt auch die Ausnahme. Zumindest dürfte die Mutter bei Klüssendorf keine typische DDR-Mutter sein, das wäre ja wohl doch etwas arg.

 

Das Setting ist dennoch wichtig, würde ich sagen. Weil im Hintergrund der Geschichte eine Moral herumschlurft, die den grimmigen Humor im Leser anregt. Dafür passt Moral ja immer gut, egal welche Werte jeweils angebetet werden. Aber die Würze schmeckt anders, wenn Kinder im Schatten der Altöttinger Gnadenkapelle verprügelt werden oder wenn in einem Heim die schwer Erziehbaren dazu aufgefordert werden, ihre "ganze Kraft und Fähigkeit für die Verteidigung der Arbeiter-und-Bauern-Macht einzusetzen" oder zu helfen, "die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beseitigen".

 

Der Widerspruch ist – für mich – nicht ganz so schreiend wie Kinderprügeln und Rosenkranz. Aber lächerlich ist das schon auf seine Weise. Weil man sich doch gleich fragen muss, ob ein Staat, der sich selber zum "Arbeiter- und Bauernstaat" erklärt, also zumindest im Selbstbild deren Macht ist – ob der wirklich die vergleichsweise schwachen Schultern von Heimzöglingen nötig hat.

 

 

Sehe ich genauso, nur hätte ich es nie so schön auf den Punkt bringen können  :-)

 

LG Ulrike

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Ja, ich würde auch gleich bei Angelika unterschreiben.

Wobei DDR und Freiheit/Entkommen halt immer wieder zusammentreffen. Sicher aus Altötting zu entkommen, ist vermutlich ebenso schwer. Aber nicht unmöglich ...

Ich finde das Setting, wie andere schon geschrieben haben, eben unglaublich gut eingebaut, um das dahinterliegende oder übergeordnete Thema oder den Begriff "Freiheit" zu illustrieren.

 

Beispiel (S. 86/87): Andererseits hätte sie hier eine Chance, sich neu zu erfinden; niemand kennt sie, sie hat neue Kleider, einen neuen Haarschnitt, eine neue Schultasche, warum sollte nicht auch sie selbst völlig neu sein können? Sie könnte sich als tolle Sportlerin zeigen, als vorbildliche Schülerin. Doch noch während die Lehrerin sie begrüßt und ihr den Platz zuweist, weiß sie, dass es sinnlos wäre, sich anzustrengen; sie wird neben ein Pummelchen gesetzt, das sie auf den ersten Blick als Außenseiterin erkennt, die anderen Mädchen stecken die Köpfe zusammen und kichern.

 

Sie ist also gefangen, auch hier kein Entkommen aus ihrer Außenseiterrolle.

 

Wenig später, noch im gleichen "Bericht" -ich finde nämlich nicht, dass man hier von Szenen sprechen könnte - finden sich folgende Sätze:
 ... ein Farbenmeer bis zum Horizont, dahinter das richtige Meer, und noch weiter dahinter soll der Westen sein. Der Westen steht für alles, was für sie niemals erreichbar sein wird. Manchmal versucht sie, sich vorzustellen, wie der Westen aussieht, ihre Fantasie reicht von einer Kraterlandschaft bis zum Schlaraffenland, eigentlich aber beunruhigt er sie in seiner Unwirklichkeit. Lieber bleibt sie bei dem, was ihr vertraut ist; sie denkt an ihren Bruder, auch an ihre Mutter, sie vermisst ihre Puppen, doch sie beschließt, dass sie sie nicht mehr braucht.

 

Hier finde ich Thema und das, was die Figur ausmacht, ganz großartig im Setting gespiegelt. Rippchen ist gerade an einem Ort relativer Freiheit angekommen (mit dem Vater an der Ostsee), merkt einerseits, dass sie noch gefangen ist (Schule), merkt andererseits, dass Freiheit ihr große Angst macht. Es wird deutlich, dass sie nicht damit umgehen kann, was sie ja bis zum Schluss nicht wirklich fertigbringt. Das zeigt sich auch darin, dass sie diesen Westen - den man in der DDR dieser Zeit schon "kannte", zumindest die bunten Fernsehbilder und seine Waren etc, auch sie wird durch die Schule und Fernsehen etwas mitbekommen haben - zu etwas Unwirklichem, so fern wie der Mond. (Kurz darauf bringt sie sich selbst in große Schwierigkeiten, eben weil sie diese "Freiheit" nicht aushält.)

 

Jueb, ich finde dieses Buch unglaublich spannend. Auch beim zweiten Lesen, es hat für mich einen Sog. Extreme brauch ich nicht, aber auch andere Bücher, die wir schon zusammen gelesen haben, spielen doch nicht mit Extremen.
Ich würde ja gern rauskriegen, warum dich das Ganze eher kaltlässt im Sinne von Langeweile oder Vorhersehbarkeit, und mich quasi zum "Nägelkauen" bringt, was man den Thrillern ja immer nachsagt. (Würde allerdings niemals Nägel kauen, egal wie spannend ein Buch ist! :))

Liebe Grüße

Claudia

Baronsky&Brendler: Liebe würde helfen  Ein Staffelroman 
Februar 21, Kampa

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Hallo Claudia,

 

das war natürlich ein Missverständnis. Ich fordere nicht ein, dass das Buch oder überhaupt ein Buch sein Thema spektakulär aufbereiten soll - ich befand mich bei meinen Äußerungen im Beschreibungsmodus :-) Ich weiß auch nicht, was mich an diesem Roman so verhalten macht. Vielleicht das falsche Buch zur falschen Zeit? Ich merke auch, dass ich eine Abwehr dagegen habe, wenn Literatur bzw. literarische Figuren so stark psychologisch interpretiert werden. Aber wie gesagt, ich bin da selber gerade nicht mit mir im Reinen...

 

LG

jueb

"Dem von zwei Künstlern geschaffenen Werk wohnt ein Prinzip der Täuschung und Simulation inne."  

AT "Aus Liebe Stahl. Eine Künstlerehe."

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Ich finde, dass das Buch sehr wohl spektakuläre Dinge erzählt. Es geht um Verwahrlosung und die Misshandlung von Kindern, also nicht der normale, langweilige Alltag in einer deutschen Familie, egal, ob im Osten oder im Westen. Aus diesem Stoff ließe sich ein sozialkritisches Melodram stricken oder eine Doku-Soap auf RTL2 ;) .  Das Besondere ist, dass dieses Spektakuläre auf höchst unspektakuläre Weise erzählt wird. Aber gerade dadurch wird es umso eindringlicher.

 

Andreas

"Wir sind die Wahrheit", Jugendbuch, Dressler Verlag 2020;  Romane bei FISCHER Scherz: "Die im Dunkeln sieht man nicht"; "Die Nachtigall singt nicht mehr"; "Die Zeit der Jäger"

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