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(Peter D. Lancester)

Show, don't Tell, Teil II - Narratives vs. szenisches Erzählen

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Narrativ komt v. lat. narrare = erzählen. Heißt also erzählerisches Erzählen. Gemeint ist das Erzählen im klassischen Sinn, wie man es vorwiegend in alten Sagen und Märchen antrifft:

 

Hänsel und Gretel, die verirrten sich im Wald. Dort war es dunkel und kalt, und sie fürchteten sich gar sehr. Da fanden sie ein Haus, das gänzlich aus Lebkuchen gebaut war. Sie staunten sehr, und da sie hungrig waren, brachen sie sich ...

usw.

 

Szenisch kommt von der Szene. Eine Szene haben wir dann, wenn sich das Geschriebene als Regieanweisung für ein Theaterstück oder einen Film eignet. Im Prinzip eine Aneinanderreihung von konkreten Handlungen und Dialogen, sowie Beschreibungen gegenwärtiger Details:

 

Gretel zitterte, ihr Gesicht war blaß.

"Ich bin müde", sagte sie.

Hänsel zog den Inhalt seiner Nase hoch und schüttelte den Kopf. "Wir müssen weiter", drängte er.

usw.

 

Szenen sind immer um ein Vielfaches ausführlicher als Narrativtext. Sofern nicht gesprochen wird, können Dialoge fehlen, es ist jedoch auch möglich, daß eine Szene ausschließlich aus Dialogen besteht.

 

Dialoge sind in beiden Erzählformen möglich, wobei die narrative den indirekten Dialog bevorzugt (Sie fragte, ob das richtig sei) und die Szenische den direkten: "Findest du, daß das richtig ist?" Ist aber kein Muß.

 

Beide Erzählformen haben ihre Existenzberechtigung; in Romanen trifft man fast immer beide an. Über das Szenische muß ich wohl keine Worte verlieren, sie sind das Herz eines Romans. Wann jedoch sind narrative Passagen zweckmäßiger? Nun, das kommt drauf an. Narration ist überall sinnvoll, wo man sich kurz fassen will:

- eingestreute Rückblenden im PQP

- langweilige Dinge

- Auflösung unwichtiger Nebenhandlungen

- Nachgeschehen, wenn das Wesentliche bereits abgehandelt wurde

 

Es gibt Schreibschulen, welche unter dem Motto "Show, don't Tell" das szenische Erzählen gegenüber dem narrativen evangelisieren. Das muß jedoch jeder für sich selbst entscheiden. Zwar macht man nur selten einen Fehler damit, alles in Szenen zu verpacken, doch die sklavische Befolgung dieser Regel führt häufig zu riesenhaften Texten von mehreren hundert Seiten, auf denen nichts Interessantes passiert; oder zumindest zuwenig, um die mehreren hundert Seiten Lesen zu lohnen.

 

Besonders strikte Verfechter des szenischen "Show, don't Tell" möchten selbst in Textpassagen, die bereits Szenen sind, jedes verbliebene narrative Element ausgemerzt sehen.

 

Quidam, ich klaue dir mal dein Beispiel:

Und gerne ein beispiel, was tell und show ist:

 

tell:

Rico machte sich beim Anblick seiner Kontoauszüge zunehmend Sorgen um die Zukunft. Seitdem die Einnahmen aus dem Venusherz schlagartig auf Null gesunken waren, verlor er jeden Monat fünftausend Mark.

 

show:

Rico blätterte die Kontoauszüge durch. Verdammt. Scheiße. Was soll ich nur machen?! Das Venusherz hat mir mal fünf Tausender gebracht! Und jetzt? Keinen müden Pfennig. Er zerknüllte die Auszüge und warf sie von sich. Dieses ... Wesen bringt mich um meine Existenz. Er rieb sich mit der flachen Hand das Kinn. Ich könnte die lebensversicherungen kündigen, auch die Abos. Aber das bringt mir höchstens ein paar Monate. usw.

 

Daran ist nichts Verwerfliches, und es gibt eine zahlreiche Leserschaft, die Texte genau so und nicht anders lesen will. Es ist allerdings nicht "richtiger" oder "falscher", mehr szenisch oder mehr narrativ zu sein.

 

Abzugrenzen ist das szenische "Show, don't tell" außerdem von einem anderen "Show, don't tell", welches die konkrete Benennung von Geschehnissen anstelle von Wischiwaschi fordert. Dieses andere "Show, don't tell" findet sich in diesem Thread (Link ungültig) (Link ungültig).

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Hallo Peter,

 

ich zieh mal das Zitat aus dem anderen Thread hier rüber:

 

Hier ein Beispiel für TELL:

 

Er hatte seinen Job recht schnell durch zwar mutige und wahre aber nichtsdestotrotz unbedachte Äußerungen verloren.

 

Diese Beschreibung behauptet Mut und Klugheit, aber was wirklich vorgefallen ist, erfährt der Leser nicht. Und das ist verdammt störend! Die Geschichte bleibt neblig und abstrakt, es läuft kein Film im Kopf ab.

 

Und SO hätte man das auch schreiben können:

 

Er hatte damals als einziger gewagt, dem Chef ins Gesicht zu sagen, daß der Betriebsrat lediglich ein Marionettentheater war, das die Arbeiter ruhigstellen sollte. Die Kollegen applaudierten, Chef feuerte ihn.

 

Das ist SHOW. Der Leser erfährt, was vorgefallen ist. Ob diese Handlung ebenso mutig wie auch unbedacht war, beurteilt er selber.

 

 

Jetzt bekomme ich langsam eine Ahnung davon, was du unter 'narrativer show' verstehst. Ich erinnere mich, dass ich mir damals gedacht habe: Aber das show-Beispiel von Peter ist gar kein show.

Für mich klänge show wie folgt:

Die Leute, die mit ihm arbeiteten, blieben still. Er aber trat einen Schritt vor, auf den Chef zu und rief: Der Betriebsrat ist doch lediglich ein Marionettentheater! Die Leute hinter ihm applaudierten, doch der Chef fletschte die Augen und bellte dann: Sie sind gefeuert!

 

Hm.. Ich will dir recht geben, dass dein narratives show besser ist, als tell, so wie du es verstehst. Nur halte ich das szenische show für wesentlich fesselnder, weil lebendiger.

 

Grüße

Quidam

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Für mich klänge show wie folgt:

Die Leute, die mit ihm arbeiteten, blieben still. Er aber trat einen Schritt vor, auf den Chef zu und rief: Der Betriebsrat ist doch lediglich ein Marionettentheater! Die Leute hinter ihm applaudierten, doch der Chef fletschte die Augen und bellte dann: Sie sind gefeuert!

das ist szenisches Show

(Augen fletschen, hehe)

 

Und damit wir alle Kombinationen abgehandelt haben, hier noch szenisches Tell, das gibt es nämlich auch:

 

Die Leute, die mit ihm arbeiteten, blieben weiterhin feige Ratten. Er aber trat mutig einen Schritt vor und rief, was er dachte. Die Leute hinter ihm verhielten sich nun endlich zustimmend, doch dem Chef gefiel das Gerede gar nicht, und er verlor augenblicklich seinen Job.

 

Peter

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Hm.. Ich will dir recht geben, dass dein narratives show besser ist, als tell, so wie du es verstehst. Nur halte ich das szenische show für wesentlich fesselnder, weil lebendiger.

Die einzige gesicherte Eigenschaft, die es hat, ist: Ausführlicher. Das kann je nach Einsatzgebiet wünschenswert sein oder auch nicht. Siehe erstes Posting in diesem Thread.

Solange wir auf Beispielebene ohne Kontext sind, kann man solche Aussagen nicht treffen.

 

Schau mal her:

Die wirklich indiskutablen Anfängermanuskripte filtert mein Chef im Verlag schon aus. Dafür landen bei mir regelmäßig Bücher zur Bearbeitung auf dem Schreibtisch - teilweise in den USA schon veröffentlicht -, in denen Protagonisten seitenlang über Banalitäten schwatzen oder in denen krampfhaft um den heißen Brei herumgeredet wird, weil der Autor davor zurückscheut, einfach mal an der richtigen Stelle einen wichtigen Sachverhalt in einem Satz auktorial zusammenzufassen. Und wenn ich "show, don't tell" empfehle, habe ich immer das nagende Gefühl im Hinterkopf, dass jetzt Dutzende von Autoren drei Seiten nervigen Dialog in ihren Text schreiben, nur weil sie nicht erzählerisch schreiben wollen: "Das Paar am Nebentisch unterhielt sich nur über Belanglosigkeiten." :s22

Das passiert, wenn man aus allem Szenen strickt.

Narratives Show auf diesen Beispielsatz angewandt, vermeidet das. Das Endergebnis kann dann so aussehen:

"Das Paar am Nebentisch unterhielt sich über Kindergeburtstage und die optimale Wassertemperatur für Buntwäsche."

 

Peter

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Hallo Peter,

 

darüber, dass man nicht um den heißen Brei reden sollte, brauchen wir ja nicht zu diskutieren. Das ist klar.

 

Ich finde aber, dass es keine Unwichtigkeiten geben sollte. Scheinbare Unwichtigkeiten sollten einen Bezug zur Geschichte haben.

Wenn sich das Paar am Nebentisch über Kindergeburtstage unterhält, sollte das einen guten grund haben und in die Geschichte mit eingeflochten werden. Z.b. dass der Prot sich an einen seiner Kindergeburtstage erinnert und dem gegenüber davon erzählt, und dass dann irgendein Problem löst, ein Rätsel enträtselt, eine neue Aufgabe beschert.

 

Grundsätzlich bevorzuge ich 'szenisches Show' immer dann, wenn ich eine Figur näher bringen will, wenn es spannend wird, wenn es um grundlegende Sitiationen im Roman geht.

 

Grüße

Quidam

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Hallo,

ich hab als Anfänger gestern mal angefangen meinen Text nach dem "tell" zu durchsuchen und mir überlegt wie man daraus ein "show" machen könnte. Und ihr habt recht. Es klingt an vielen Stellen weitaus besser als vorher. Es waren Stellen, die mich immer schon gestört hatte, ich wußte nur nicht warum. Jetzt weiß ich es.

 

Danke schön.

 

Susan

Astrid Lindgren (Okt. `22 Aufbau) ~ Die Elemente des Lebens - (Januar `24 Aufbau) ~ Agatha Christie - Juni `24 (Aufbau Verlag)

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