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BarbaraS

Hauptfigur mit einem Geheimnis

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Ich fand Abbitte auch stimmig. Eigentlich fast genial, weil so einfach: Wir haben von Anfang an einen Roman gelesen. Wir haben es nur nicht glauben wollen. Weil wir es gewohnt sind, wenn wir ein Buch in die Hand nehmen, dann schalten wir die Tatsache, dass es "nur ein Buch" ist, vollkommen aus. Dabei hat der Autor uns immer wieder darauf hingewiesen. Zuerst der auktoriale Erzähler des 19. Jahrhunderts, dann ein Roadmovie (wie Claudia es so treffend bemerkt hat!) - sollte es uns nicht sofort klar sein: da übt jemand zu schreiben? Haben wir nicht auch so geübt? Und ist es nicht oft als Tipp zu lesen, dass man mit autobiografischen Ereignissen anfangen und sie zur Belletristik umarbeiten sollte, um leichter Zugang zum Schreiben zu erlangen?

Wie deutlich hätte der Autor das noch machen sollen?

 

Liebe Grüße,

Olga (nachhaltig von "Abbitte" beeindruckt, auch wenn sie im ersten Teil das Buch schon weglegen wollte)

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In der Realität sind Gedachtnisverluste etc. sehr selten und haben immer bestimmte Ursachen' date=' die im Nachhinein ins Gesamtbild passen. In Thrillern wird da oft munter phantasiert, wie es gerade in den Plot passt.[/quote']

Da fühle ich mich auch oft betrogen. Einfach die Lösung: "Er kann sich nicht mehr erinnern", das erinnert mich daran, dass da wohl jemand seine Hausaufgaben nur teilweise gemacht hat ;-).

 

Wohingegen Lösungen, wo der Erzähler um den heißen Brei herumredet und am Schluß kommt raus, was das für ein Brei ist und warum er ihn nicht sehen will, für mich viel eindrücklicher sind.

 

Aber Melanie, eine Frage habe ich: Es gibt ja zahlreiche Menschen, die bestimmte Dinge ableugnen, so entschieden, dass man glaubt, sie haben sie tatsächlich vergessen. Und in der Geschichtswissenschaft kennt man das Phänomen, dass Leute einfach Erinnerungen vermischen oder Erzählungen anderer in ihre Erinnerungen übernehmen. "Der größte Feind der Geschichtswissenschaft ist der Augenzeuge" heißt das. Auch Polizei und Gericht wissen davon ein Lied zu singen, dass Leute nicht nur lügen, sondern von ihrer Version fest überzeugt sind und bleiben - selbst wenn die längst widerlegt wurde.

 

Patrick, der ja Richter ist, hat mal auf einem Treffen erzählt, wieviele Leute er erlebt, die bis zum Schluss sagen "Ich war´s nicht", auch wenn sie zweifelsfrei überführt worden sind und das Leugnen ihnen eher schadet, die auch später, wenn es ihnen nichts schaden würde, weil sie schon verurteilt sind, immer noch ihrer Geschichte festhalten.

 

Gedächtnisverlust ist das sicher nicht, aber ein bißchen ähnlich schon, oder?

 

Grüße, Hans Peter

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Patrick, der ja Richter ist, hat mal auf einem Treffen erzählt, wieviele Leute er erlebt, die bis zum Schluss sagen "Ich war´s nicht", auch wenn sie zweifelsfrei überführt worden sind und das Leugnen ihnen eher schadet, die auch später, wenn es ihnen nichts schaden würde, weil sie schon verurteilt sind, immer noch ihrer Geschichte festhalten.

Gedächtnisverlust ist das sicher nicht, aber ...

 

Ein Fehlurteil vielleicht?  ;D

 

Barbara, kennst du "Tirza" von Arnon Grünberg?

 

1. Teil: der nah erzählte Herr Hofmeester mit seiner Familie, seinen gewaltigen Frustrationen (Job verloren, Frau an Liebhaber verloren, Geld an Hedge-Fonds verloren, Tochter an Freund verloren), die ganz lakonisch erzählt werden. Als würde ihn das alles so sehr nicht berühren. Die Psychologie ist unaufdringlich erfasst.

 

2. Teil: Tochter Tirza ist verschwunden. Hofmeester sucht sie in Namibia, wohin sie mit ihrem Freund fahren wollte. Dass sich ihm dort ein Straßenmädchen anschließt, setzt einen Kontrollverlust in Gang, in dessen Folge er dem Mädchen (das nichts versteht) sein Geheimnis erzählt.

 

Vielleicht ist "Tirza" so geschrieben, wie du es brauchst? Der "Gedächtnisverlust", also die Verdrängerei des Protagonisten wird umso glaubwürdiger dadurch, dass er nicht nur bis kurz vor Schluss nichts mehr weiß, sondern in Abständen erinnert und wieder vergisst. Nachdem er dem Straßenmädchen enthüllt hat, versinkt er wieder in ein Vergessen. Das Motiv für Schweigen und Vergessen heißt Entsetzen, glaube ich. Ich kann nochmal lesen, wenn du mehr wissen willst.

 

Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

www.angelika-jodl.de

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In der Realität sind Gedachtnisverluste etc. sehr selten und haben immer bestimmte Ursachen, die im Nachhinein ins Gesamtbild passen. In Thrillern wird da oft munter phantasiert, wie es gerade in den Plot passt. Das ist ja auch legitim - denn es geht ja um eine spannende Geschichte. Ist aber nicht für Recherchezwecke geeignet.

 

Wenn dir das genügt, weil es nur ein Plotpunkt ist, der keinen Anspruch auf psychodynamische Korrektheit legt, kannst du natürlich alles machen.

Nein, so etwas habe ich nicht vor, ich habe nur noch mal die Beispiele aufgezählt, die hier genannt wurden - für den Sonderfall, dass die Perspektivfigur selbst nichts von dem Geheimnis weiß.

 

Die Frage, was da psychologisch glaubwürdig ist, würde ich hier gern ausklammern, so interessant sie ist. Wenn ihr das genauer diskutieren wollt, fände ich es schön, wenn ihr dafür einen neuen Thread eröffnet.

 

Viele Grüße

 

Barbara

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Liebe Barbara,

 

ein „unzuverlässiger Erzähler“, wie er in manchen Beispielen, die gebracht wurden, angeführt wird, funktioniert natürlich am besten als Ich-Erzähler. Der Erzähler hat selbst was zu verbergen. (Ein weiteres gutes Beispiel dafür ist auch Nabokovs „Lolita“.) Was bräuchte ein unzuverlässiger personaler Erzähler? Eine Möglichkeit wäre, dass eine Nebenfigur zum Erzähler wird, die quasi als Zeuge bzw. Chronist mit Empathie die Hauptfigur beschreibt (Thomas Mann, „Dr. Faustus“), ohne selbst in die Handlung einzugreifen oder überhaupt eine Rolle zu spielen. Dieser Erzähler könnte „seine“ Figur schonen wollen und das Geheimnis erst dann offenbaren, wenn es gar nicht mehr anders geht. Der Erzählgrund könnte hier überhaupt die Rechtfertigung der Hauptfigur sein. (Nur als Beispiel.)

 

Überhaupt kommt es natürlich sehr auf die Art des Geheimnisses an. Belastet es die Figur? Wenn nicht, wäre es für einen sehr nahen personalen Erzähler geradezu natürlich, es nicht zu erwähnen, weil es für die Figur selbst etwas Alltägliches ist, worüber er sich keine Gedanken macht. (Ein gewissenloser Verbrecher denkt nicht dauernd an seine Verbrechen.) Das Alltägliche, Vertraute verschwindet aus der Wahrnehmung. Eben wie in dem Bottini-Beispiel. Dass es stimmig wirkt, liegt einfach an der Figurennähe des personalen Erzählers. Bei einer Figur, die unter dem Geheimnis leidet, könnte eventuell ein sehr distanzierter personaler Erzähler eine Lösung sein, der nur beschreibt, was die Figur tut, ohne große Einblicke in ihr Innenleben zu nehmen. (Hier wäre als Erzählzeit dann das Präsens angebracht.)

 

Das sind ein paar Möglichkeiten, die mir auf Anhieb einfallen.

 

Liebe Grüße

Andreas

"Wir sind die Wahrheit", Jugendbuch, Dressler Verlag 2020;  Romane bei FISCHER Scherz: "Die im Dunkeln sieht man nicht"; "Die Nachtigall singt nicht mehr"; "Die Zeit der Jäger"

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Liebe Barbara,

vielleicht passt es nicht hundertprozentig, aber da ich es gerade lese, empfehle ich "Das Gesicht des Drachens" von Jeffrey Deaver.

Deaver spielt sehr geschickt mit Auslassungen und den Erwartungen der Leserinnen und Leser. Er führt eine Figur aus personaler Perspektive ein und aus dem Zusammenhang, ein wenig Hintergrund und dem Namen der Figur ergibt sich eine Erwartung, wer das ist - hier: ein Killer. Zwei Kapitel weiter löst sich das Ganze auf - die Figur ist ein Polizist. Mit dem Wissen gelesen, ergibt das "Einführungskapitel" zur Figur ebenso Sinn, wie wenn man sie als Verbrecher betrachtet. Ich weiß nicht, ob sich die Technik über ein ganzes Buch durchhalten lässt, aber um ein Gespür für "gelenkte Fehl-Erwartungen" zu bekommen, finde ich es sehr gelungen.

Liebe Grüße

Christiane

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Ein Fehlurteil vielleicht?  ;D

Ging mir auch durch den Kopf. ;)

 

Barbara, kennst du "Tirza" von Arnon Grünberg?

Super Hinweis, Angelika. Ganz herzlichen Dank. Das klingt wirklich, als wäre es genau, was ich suchen. Wird sofort beschafft!

 

Zu "Abbitte" muss ich gestehen, dass ich den Roman nie gelesen habe. Das sollte ich endlich mal nachholen. (Und dann streite ich mit euch allen, Olga, Andreas, Angelika - da freue ich mich schon drauf.)

 

"Angerichtet" klingt aber auch spannend! Auch wenn es eine Ich-Erzählung ist. Vielleicht kann ich ja trotzdem etwas abgucken.

 

Vielen Dank für die tollen Tipps!

 

Barbara

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Ha! Der Anwalt von "Abbitte" ist eingeflogen!

 

Bei einer Figur' date=' die unter dem Geheimnis leidet, könnte eventuell ein sehr distanzierter personaler Erzähler eine Lösung sein, der nur beschreibt, was die Figur tut, ohne große Einblicke in ihr Innenleben zu nehmen. (Hier wäre als Erzählzeit dann das Präsens angebracht.)[/quote']

 

Kannst du sagen, warum? Das interessiert mich gewaltig (entschuldige, Barbara, für die dreiste Zwischenfragerei!)

 

Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

www.angelika-jodl.de

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Danke für den Hinweis auf Deaver, Christiane! Das klingt interessant. Ich schau mal rein.

 

Ich weiß nicht' date=' ob sich die Technik über ein ganzes Buch durchhalten lässt[/quote']

Ja, genau, das ist für mich zur Zeit die große Frage. Und wenn es technisch funktioniert, ob man sich dann trotzdem nicht betrogen fühlt.

 

Den Ausdruck "gelenkte Fehl-Erwartungen" finde ich übrigens klasse!

 

Herzliche Grüße

 

Barbara

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Liebe Barbara,

 

was für ein hochinteressantes Thema! Dazu fällt mir der Film "Herr der Gezeiten" ein, basierend auf Pat Conroys "Prince of Tides" (Ich habe das Buch nicht gelesen, aber den Film vor vielen Jahren gesehen.) Erst recht spät erfährt da der Protagonist von Ereignissen in seiner Vergangenheit, die er verdrängt hat und die die Ursache für die psychischen Probleme seiner Schwester und auch für seine eigenen darstellen.

 

Liebe Grüße

Inez

Rebel Sisters 1: Die Pilotin (Lübbe, Juli 2024)

www.inez-corbi.de

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Kannst du sagen, warum? Das interessiert mich gewaltig (entschuldige, Barbara, für die dreiste Zwischenfragerei!)

Nix wird entschuldigt - das ist doch genau mein Thema!

 

Andreas, so ähnlich lege ich mir das derzeit auch zurecht. Ein Ich-Erzähler "darf" lügen, weil er eben ein Mensch ist. Er darf auch Dinge auslassen oder verzerren.

 

Ein 3.-Person-Erzähler ist aber normalerweise kein Mensch, sondern sozusagen die Stimme des Textes. Diese Stimme kann sehr eng an die Wahrnehmung einer Perspektivfigur gebunden sein - dann "darf" sie auch lügen in dem Sinn, dass sie falsche Wahrnehmungen oder Überzeugungen der Person wiedergibt. Sie dürfte aber z.B. nicht über die Wahrnehmungen/Gedanken/Überzeugungen dieser Person lügen, oder? D.h. wenn sich die Figur z.B. von ihrer Psychologie her in einer bestimmten Situation an ein Ereignis erinnern müsste, dann dürfte der Erzähler es nicht einfach verschweigen, weil es ihm dramaturgisch in den Kram passt. Das wäre gemogelt, oder? (Ob man so gut mogeln kann, dass man damit durchkommt, ist wieder ein anderer Punkt.)

 

Wenn es ein eher distanzierter 3.-Person-Erzähler ist, finde ich es noch schwieriger, weil der traditionell einfach die Wahrheit verkörpert. Man müsste ihn also - wie du schon sagst - zu mehr machen als einer reinen Stimme. Zu einer Person, die ihre eigenen Motive hat. Die Frage wäre, ob man das ausdrücklich zeigen müsste oder ob so ein Erzähler auch funktioniert, wenn man beim Schreiben nur im Hinterkopf hat, dass er z.B. parteiisch ist. So habe ich Claudia und Olga auch verstanden. Knifflig, oder?

 

Danke fürs Mitdenken!

 

Herzliche Grüße

 

Barbara

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Ha! Der Anwalt von "Abbitte" ist eingeflogen!

 

Bei einer Figur, die unter dem Geheimnis leidet, könnte eventuell ein sehr distanzierter personaler Erzähler eine Lösung sein, der nur beschreibt, was die Figur tut, ohne große Einblicke in ihr Innenleben zu nehmen. (Hier wäre als Erzählzeit dann das Präsens angebracht.)

 

Kannst du sagen, warum? Das interessiert mich gewaltig (entschuldige, Barbara, für die dreiste Zwischenfragerei!)

 

Ein naher personaler Erzähler, der eine Innensicht der Figur mit ihren Gedanken und Gefühlen bietet, nur das Geheimnis auspart, obwohl es die Figur beschäftigt, würde es bewusst verschweigen, um mich als Leser zu täuschen, rein aus Spannungsgründen. Ich persönlich finde das inkonsquent und würde mich daran stören.

 

Bei einem distanzierten Erzähler, der die Figur überhaupt nur von Außen zeigt, also in ihren Handlungen, ist es einfach nur konsequent, dass auch das Geheimnis, das die Figur beschäftigt, unausgesprochen beleibt.

 

Mehr als das habe ich eigentlich nicht gemeint.

 

Liebe Grüße

Andreas

 

P.S. Über "Abbitte" können wir gerne reden!

"Wir sind die Wahrheit", Jugendbuch, Dressler Verlag 2020;  Romane bei FISCHER Scherz: "Die im Dunkeln sieht man nicht"; "Die Nachtigall singt nicht mehr"; "Die Zeit der Jäger"

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Sich nicht erinnern können und es nicht wollen sind zwei Paar Schuhe. Da kommt das Thema SCHULD mit hinein und das ist ein ziemlich starker Antrieb, Erinnerungen zu verdrängen.

 

Vielleicht ist das eine Alternative: anstelle sich Gedanken zu machen, wie man das Vergessen der Figur motiviert, besser einen Weg finden, damit sich die Figur nicht erinnern WILL. Oder eine andere Erinnerung diese überlagert. Oder sogar von außen eine falsche "Erinnerung" eingepflanzt wird. Kennt man ja: man soll als Kind dieses oder jenes getan haben, kann sich zwar selbst nicht daran erinnern, erzählt die Anekdote dann aber gerne weiter.

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Das Thema Verleugnung contra Verdrängung ist sehr komplex - man kann alles im Roman bringen - aber man sollte sich genau mit den Umständen befassen, um die Charaktere glaubhaft wirken zu lassen. Es muss nicht alles realistisch sein - aber glaubhaft.

 

Gruß, Melanie

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was für ein hochinteressantes Thema! Dazu fällt mir der Film "Herr der Gezeiten" ein' date=' basierend auf Pat Conroys "Prince of Tides" (Ich habe das Buch nicht gelesen, aber den Film vor vielen Jahren gesehen.)[/quote']

Danke für den Tipp, Inez! Wenn ich die Beschreibung bei Amazon richtig deute, scheint es als Roman eine Ich-Erzählung zu sein - es klingt aber auf jeden Fall lesenswert.

 

Ich seh schon, ich werde das Schreiben erst mal einstellen müssen, weil neben dem Lesen keine Zeit mehr bleibt. ;)

 

Herzliche Grüße

 

Barbara

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Noch kniffliger finde ich aber das Problem, wenn es sich bei dem Geheimnis nicht um etwas handelt, das ganz aus dem Bewusstsein der Perspektivfigur verschwunden ist. Zum Beispiel habe ich mich gerade gefragt, Lisa, wie der "Kevin" geschrieben sein müsste, wenn er in der 3. Person erzählt wäre. Ob man dann dieses emotionale Geheimnis, das  am Schluss gelüftet wird, nicht wirklich viel länger vorbereiten müsste.

 

Liebe Barbara,

das ist eine knifflige Frage. Ich könnte mir vorstellen, dass diese Erzählart beim Kevin neben dem Icherzähler nur noch mit einem extrem nahen personalen Erzähler funktionieren würde, also einem personalen Erzähler, der mit der Nähe eines Icherzählers arbeitet, also nahezu unhörbar und ganz bei der Perspektivfigur und deren Motive für das Zurückhalten des Geheimnisses ist. Trotzdem glaube ich, dass das Geheimnis dann früher gelüftet werden "müsste", als bei der Icherzählerin. Neben der Icherzählerin trägt die Briefform beim Kevin meiner Meinung nach auch entscheidend dazu bei, dass das Geheimnis so lange zurückgehalten werden kann. Die Icherzählerin hat wegen diesem Geheimnis das Bedürfnis ihrem Mann zu schreiben und in diesen Briefen noch einmal alles von "vorne" bis zum Ende hin durchzugehen und zu ergründen, warum das alles passieren konnte. Um diese Untersuchung nicht zu "verfälschen", bleibt sie streng in der Chonologie der Ereignisse und da das Geheimnis ganz am Schluss passiert, ist es nur konsequent, dass sie es erst auf der allerletzten Seite lüftet. Neben der Entscheidung für den Erzähler spielt für mich auch die Erzählsituation - warum erzählt wer wie - eine entscheidende Rolle. Und je nachdem, wie das kombiniert wird - also Erzähler und Erzählsituation - können meiner Meinung nach für deine Fragestellung sowohl ein Icherzähler als auch ein personaler Erzähler funktionieren.

 

Eine Frage ist für mich auch, welche Funktion das "emotionale" Geheimnis und das Zurückhalten durch die Hauptfigur hat. Oder anders: die Figur hält mit etwas zurück, einem "emotionalen" Geheimnis, dafür hat sie einen Grund. Für den Leser kann aber genau diese Kombination ein weiteres "Geheimnis" beinhalten: einen Blick auf die Figur, den sie selbst nicht wahrnimmt (oder wahrnehmen kann). In so einem Fall wäre für mich das "emotionale" Geheimnis und der Akt des Zurückhaltens durch die Figur vor allem ein Mechanismus, um dem Leser einen erweiterten Blick auf die Figur zu ermöglichen. Und das eigentlich Entscheidende wäre dann dieser erweiterte Blick auf die Figur. Was glaube ich einen extrem nahen personalen Erzähler ausschließt, oder? Ürgs, ich hoffe, ich drücke mich nicht zu verwirrend aus.

 

"Angerichtet" habe ich auch, falls du das leihen möchtest. Icherzähler gibt es wirklich viele...

 

Liebe Grüße

Lisa

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Bei einem distanzierten Erzähler, der die Figur überhaupt nur von Außen zeigt, also in ihren Handlungen, ist es einfach nur konsequent, dass auch das Geheimnis, das die Figur beschäftigt, unausgesprochen beleibt.

Aber je distanzierter ein Erzähler ist, desto objektiver ist er, oder? Ein auktorialer Erzähler schwebt so zu sagen über der Handlung, er ist allwissend (und Barbara meinte, dass ihr Erzähler über das Geheimnis auch bescheid weiß) - hier zu begründen, warum der objektive, allwissende Erzähler etwas verschweigt (zum Beispiel die Figur nur von außen beschreibt), müsste umso mehr durchdacht werden. Schließlich tut er das bei den anderen nicht. Warum?

Wenn ich ganz nah an der Figur bin, als Ich-Erzähler zum Beispiel, ist dort das Verschweigen ebenso schwierig, denn da müsste die Figur tatsächlich etwas verdrängen/verleugnen etc. Das quält mich im Moment sehr (sorry, Barbara, ich hoffe, du erlaubst mir, das gleiche Problem bei meinem Ich-Erzähler anzusprechen). Warum klammert die Figur das Geheimnis aus?

 

Liebe Grüße,

Olga

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Liebe Lisa,

 

ich glaube auch, dass beim "Kevin" sehr viel durch die Erzählsituation motiviert ist; was vermutlich wegfiele, wenn man einen personalen Erzähler hätte, auch wenn der ganz nah bei der Hauptfigur bliebe.

 

Die Icherzählerin hat wegen diesem Geheimnis das Bedürfnis ihrem Mann zu schreiben und in diesen Briefen noch einmal alles von "vorne" bis zum Ende hin durchzugehen und zu ergründen' date=' warum das alles passieren konnte. Um diese Untersuchung nicht zu "verfälschen", bleibt sie streng in der Chonologie der Ereignisse und da das Geheimnis ganz am Schluss passiert, ist es nur konsequent, dass sie es erst auf der allerletzten Seite lüftet.[/quote']

 

Ja genau. Und außerdem "spricht" sie ja zu ihrem Mann. Der kennt das Geheimnis aber, genau wie sie. Darum hält sie subjektiv mit nichts hinterm Berge. Ein personaler Erzähler hätte aber so ein Gegenüber nicht, der würde zu uns Lesern "sprechen".

 

Eine Frage ist für mich auch, welche Funktion das "emotionale" Geheimnis und das Zurückhalten durch die Hauptfigur hat. Oder anders: die Figur hält mit etwas zurück, einem "emotionalen" Geheimnis, dafür hat sie einen Grund. Für den Leser kann aber genau diese Kombination ein weiteres "Geheimnis" beinhalten: einen Blick auf die Figur, den sie selbst nicht wahrnimmt (oder wahrnehmen kann). In so einem Fall wäre für mich das "emotionale" Geheimnis und der Akt des Zurückhaltens durch die Figur vor allem ein Mechanismus, um dem Leser einen erweiterten Blick auf die Figur zu ermöglichen. Und das eigentlich Entscheidende wäre dann dieser erweiterte Blick auf die Figur. Was glaube ich einen extrem nahen personalen Erzähler ausschließt, oder? Ürgs, ich hoffe, ich drücke mich nicht zu verwirrend aus.

 

Doch, ich glaube, ich konnte dir folgen. Und den Gedanken finde ich sehr schlau. Der nahe personale Erzähler kann nur "sehen", was die Figur "sieht". Wenn die also hartnäckig wegschaut, bleibt das Geheimnis unsichtbar. Eigentlich soll es aber einen erweiterten oder veränderten Blick auf die Figur bewirken ... Äh ... Darüber muss ich erst mal nachdenken. Letztlich ist das eine Frage, auf welche Wirkung ich hinauswill, oder? Auf eine überraschende Wendung oder auf diesen erweiterten Blick auf die Figur ...

 

Danke, Frau Dickreiter!

"Angerichtet" gibt's inzwischen als TB, habe ich gesehen, evtl. kaufe ich es mir einfach. Bei Ich-Erzählern gibt es wirklich viel mehr Beispiele. Aber vielleicht lässt sich ja doch dies und das übertragen.

 

Liebe Grüße

 

Barbara

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Wenn ich ganz nah an der Figur bin' date=' als Ich-Erzähler zum Beispiel, ist dort das Verschweigen ebenso schwierig, denn da müsste die Figur tatsächlich etwas verdrängen/verleugnen etc. Das quält mich im Moment sehr (sorry, Barbara, ich hoffe, du erlaubst mir, das gleiche Problem bei meinem Ich-Erzähler anzusprechen). Warum klammert die Figur das Geheimnis aus?[/quote']

Ja klar, Olga! Die Probleme liegen ja nah beieinander.

Bei Ich-Erzählern spielt doch auch die Frage eine Rolle, wem sie die Geschichte erzählen. Vielleicht stößt du in der Richtung auf eine Lösung?

 

Liebe Grüße

 

Barbara

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Der nahe personale Erzähler kann nur "sehen", was die Figur "sieht". Wenn die also hartnäckig wegschaut, bleibt das Geheimnis unsichtbar. Eigentlich soll es aber einen erweiterten oder veränderten Blick auf die Figur bewirken ... Äh ... Darüber muss ich erst mal nachdenken. Letztlich ist das eine Frage, auf welche Wirkung ich hinauswill, oder? Auf eine überraschende Wendung oder auf diesen erweiterten Blick auf die Figur ...

 

Ja, ich glaube, die Frage, auf welche Wirkung du hinauswillst, ist die, die du zuerst klären "musst". Je nachdem ob du auf die überraschende Wendung oder auf diesen erweiterten Blick hinaus willst, entsteht für mich eine andere Aufgabenstellung an Erzähler und Erzählsituation. Weil bei zweiterem das "emotionale "Geheimnis "nur" ein Mechanismus, "nur" ein Mittel zum Zweck ist (nicht abwertend gemeint!) und nicht das Endergebnis wie bei ersterem. Ist wie immer aber nur meine Meinung!

 

Ich überleg auch schon die ganze Zeit nach Büchern, die mit diesem erweiterten Blick auf die Figur arbeiten...

 

Liebe Grüße

Lisa

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Andreas, ich wollte wissen, wieso du bei der Konstellation auf Präsens als Erzählzeit kommst:

 

Bei einer Figur, die unter dem Geheimnis leidet, könnte eventuell ein sehr distanzierter personaler Erzähler eine Lösung sein, der nur beschreibt, was die Figur tut, ohne große Einblicke in ihr Innenleben zu nehmen. (Hier wäre als Erzählzeit dann das Präsens angebracht.)

 

Lisa, Barbara und Olga,

 

die ganze Zeit geht mir ein Roman durch den Kopf, in dem jemand einem anderen "beichtet". Und mir fällt der Titel nicht ein, verdammt! War es von Barbara Vine? Auf jeden Fall ist die Beichtsituation eine, in der klar ist, warum jemand erzählt. Nabokovs Held beichtet auch, der Staatsanwaltschaft glaube ich, oder dem Psychiater, der ihn untersucht. Und ich glaube, so was könnte auch in der "Chronistenrolle" funktionieren, von der Andreas gesprochen hat.

 

Jetzt bin ich allerdings nicht mehr sicher, Barbara: Wolltest du einen Erzähler, der - wenn auch gestaltlos - eine eigene, hörbare Stimme hat? Oder einen, der in der Geschichte verschwindet?

 

Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

www.angelika-jodl.de

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Bei Ich-Erzählern spielt doch auch die Frage eine Rolle, wem sie die Geschichte erzählen. Vielleicht stößt du in der Richtung auf eine Lösung?

Genial. Einfach genial!

Ich war so sehr mit der Frage beschäftigt, warum der Ich-Erzähler überhaupt erzählt, dass ich völlig vergessen habe, mich zu fragen, wem er das alles erzählt.

Ich glaube, du hast mir gerade ein wenig die Augen geöffnet.

 

Liebe Grüße,

Olga

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Andreas, ich wollte wissen, wieso du bei der Konstellation auf Präsens als Erzählzeit kommst:

 

Bei einer Figur, die unter dem Geheimnis leidet, könnte eventuell ein sehr distanzierter personaler Erzähler eine Lösung sein, der nur beschreibt, was die Figur tut, ohne große Einblicke in ihr Innenleben zu nehmen. (Hier wäre als Erzählzeit dann das Präsens angebracht.)

 

Ich habe mich vielleicht ein wenig missverständlich ausgedrückt, Angelika. Ich wollte keinesfalls behaupten, dass aus dieser Konstellation zwingend das Präsens als Erzählzeit folgt. Es hängt immer davon ab, was für eine Wirkung erreicht werden soll. Mir persönlich schien das Präsens in dieser Konstellation jedoch eine naheliegende Option, den Fokus des distanzierten Erzählers wieder auf andere Weise zu verengen, um die Ausblendung des Geheimnisses so plausibel zu machen. Der Erzähler sieht die Figur zwar aus der Distanz und mit „Übersicht“, schildert sie aber auf eher unmittelbare Weise im Hier und Jetzt. Nachdem ich Lisas Postings gelesen habe, bilde ich mir ein, so ließe sich das, was sie das „emotionale Geheimnis“ genannt hat, wahren und gleichzeitig durch den „erweiterten Blick“ des Erzählers auf die Figur zeigen, dass es ein emotionales Geheimnis gibt. Das Präsens könnte meines Erachtens ein möglicher (!) Marker für so eine Ausrichtung sein.

 

@ Olga:

Der personale Erzähler bleibt, auch wenn er distanziert ist, ein personaler Erzähler und wird durch die Distanz nicht automatisch auktorial und allwissend.

 

Liebe Grüße

Andreas

"Wir sind die Wahrheit", Jugendbuch, Dressler Verlag 2020;  Romane bei FISCHER Scherz: "Die im Dunkeln sieht man nicht"; "Die Nachtigall singt nicht mehr"; "Die Zeit der Jäger"

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Jetzt bin ich allerdings nicht mehr sicher' date=' Barbara: Wolltest du einen Erzähler, der - wenn auch gestaltlos - eine eigene, hörbare Stimme hat? Oder einen, der in der Geschichte verschwindet?[/quote']

ich bin da selbst noch nicht ganz sicher, sondern suche herum, Angelika.

Im Moment habe ich einen Erzähler mit eigener Stimme, der sich zwischendurch aber weitgehend zum Verschwinden bringt, weil er sich mit einer der Figuren "solidarisiert". (Das ist jetzt kein erzähltechnischer Begriff, ich weiß, aber so stelle ich ihn mir derzeit vor.) Dann wieder reicht er ganz sachlich Informationen an den Leser weiter. Aber wie gesagt, da suche ich noch. Ich bin in solchen Dingen furchtbar unanalytisch: Wenn ich meinen Weg erst mal gefunden habe, kann ich das Analysieren benutzen, um die Sache präziser, bruchfreier etc. zu gestalten, evtl. auch noch grundlegend etwas zu ändern - aber erst mal hilft nur Ausprobieren und Abschmecken. Darum kann ich all eure klugen Fragen im Moment auch so schlecht beantworten ...

 

Liebe Grüße

 

Barbara

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