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BarbaraS

Hauptfigur mit einem Geheimnis

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Hallo liebe Mitmontsegurler,

 

für ein neues Romanprojekt würde ich gern von eurer Schreib- und vor allem Leseerfahrung profitieren. Ich suche Romane, die personal erzählt sind und deren Perspektivfigur ein Geheimnis bzw. eine verborgene Seite hat, von der der Leser erst nach einer ganzen Weile erfährt.

 

In der Ich-Form gibt es berühmte Beispiele, u.a. Krimis von Agatha Christie. Da ist ganz klar motiviert, warum der Ich-Erzähler bestimmte Dinge verschweigt, und wenn er zu dem Zweck erzählerisch "trickst", nimmt man ihm das nicht übel. Bei einem 3.-Person-Erzähler ist das aber anders, denke ich, der ist ja eigentlich zur Zuverlässigkeit verpflichtet, bei ihm darf der Leser nicht den Eindruck gewinnen, dass er bewusst hereingelegt wurde. Und das scheint mir im Moment die größte Gefahr bei so einer Konstruktion zu sein: dass das Verschweigen wie reine Willkür der Erzählers bzw. der Autorin wirkt.

 

Ein Beispiel, wo es meiner Ansicht nach gut gelöst wurde, ist der Anfang von Oliver Bottinis "Mord im Zeichen des Zen", wo man erst nach einer Weile herausfindet, dass die Kommissarin Alkoholikerin ist. Das wirkt stimmig, weil die Perspektivfigur es sich selbst nicht eingesteht.

 

Bei diesem "Geheimnis" bzw. der "dunklen Seite der Figur", die zunächst verborgen bleiben, muss es sich für meine Zwecke also nicht unbedingt um das eine entscheidende Faktum handeln, an dem die Auflösung des Romans hängt. Es kann auch etwas sein, das die Perspektivfigur in einem ganz neuen Licht erscheinen lässt. Das wäre mir sogar lieber. Und schön wäre, wenn sich das Verschweigen etwas weiter durch den Roman zieht als bei dem Bottini-Beispiel.

 

Es wäre toll, wenn ihr weitere Beispiele für mich wüsstet. Sei es aus eurer eigenen Werkstatt oder von anderen Autoren. Das Genre ist dabei gleichgültig.

 

Jetzt schon vielen Dank fürs Mitdenken!

 

Herzliche Grüße

 

Barbara

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Ich erinnere mich an einen Roman von Joseph Wambaugh (Krimi), bei dem erst nach zwei oder drei Kapiteln klar wurde, dass es sich beim Erzähler um eine "rin" handelt.

War richtig pfiffig gemacht und sehr überraschend, besonders weil vorher schon leichte Irritationspunkte gesetzt waren (okay, der Erzähler hatte jetzt nicht seine Tage oder blieb vor jedem Schuhgeschäft stehen...).

In dem Szenario war das Umgang mit "ihr" auch überzeugend, weil für Cops, mit denen sie als Privatdetektivin und Ex-Bulle zu tun hatte, Cops eben im Umgang geschlechtsneutral sind.

Ich schau heute Abend mal in meine Bibliothek und suche den Titel raus. Es war keine L.A. sondern eine San Diego Geschichte, das weiß ich noch...

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Liebe Barbara,

interessante Frage. Erstaunlicherweise habe ich im "anfänglichen" Verschweigen von Dingen bisher nie ein Problem gesehen - auch im personalen Erzählstil. Ich glaube, das zig romantische Komödien "Verliebt bis in die Haarspitzen" entsprechend aufgebaut sind. In meiner hat der Held (neben der Heldin ebenfalls Perspektivfigur) ein Geheimnis selbst gesät: alle Welt glaubt, er sei schwul. Allerdings hat er einen guten Grund, warum er vorgibt schwul zu sein. Das löst sich allerdings erst nach und nach in der Geschichte für den Leser auf.

Gelöst habe ich das, indem ich seine Gedanken gezeigt habe, ohne das ganze Drumherum zu erklären - so wie ein realer Mensch ja auch nicht für sich nochmals im Kopf alles erklärt. Freies Bsp.: "Warum tat er das bloß? Es stand doch so viel für ihn auf dem Spiel." Der Leser weiß noch nicht worum es geht, bekommt nur eine Ahnung, dass es noch um mehr geht. Erst in einem Gespräch mit einer anderen Person zeigt sich dann, was dahinter steht.

Herzliche Grüße,

Jurenka

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Hallo Barbara,

 

ich persönlich finde das überhaupt kein Problem. Auch der Ich-Erzähler muss nicht sein ganzes Leben im ersten Kapitel ausbreiten. Im Gegenteil, das ist sogar eher langweilig. Es ist doch interessanter, wenn man peu à peu neue Seiten an der Figur entdeckt.

 

Das kann man ja auf plausible Weise lösen. Indem er einen alten Bekannten trifft, der ihn darauf anspricht. Oder eine Plotwende macht es notwendig, dass ein erstes Zipfelchen gelüftet wird. Später vielleicht mehr.

 

Ich würde mir da keine großen Gedanken machen. Dem Leser wird es gefallen. :)

Die Montalban-Reihe, Die Normannen-Saga, Die Wikinger-Trilogie, Bucht der Schmuggler, Land im Sturm, Der Attentäter, Die Kinder von Nebra, Die Mission des Kreuzritters, Der Eiserne Herzog, www.ulfschiewe.de

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Also ich sehe da auch kein Problem, das ist fast schon üblich. Die Hauptperson entblättert sich nach und nach, wie die Schalen einer Zwiebel kommt immer neues zum Vorschein. Siegfried Langers "Vater Mutter Tod" fällt mir ein, das genau aus dieser Konstellation die Spannung zieht.

 

Du musst nur einen Grund haben, warum das Geheimnis erst am Ende gelüftet wird - die Hauptfigur hat es verdrängt, oder will sich nicht mehr daran erinnern, schämt sich deswegen, etc.

 

Und wenn das klar wird, fühlt sich der Leser auch nicht hereingelegt. Na ja, jedenfalls nicht betrogen - Leser wollen ja ganz gerne, dass der Autor sie an der Nase herumführt und an Schluß ist alles ganz anders, als sie am Anfang gedacht hatte.

 

Grüße, Hans Peter

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Super, das klingt doch schon vielversprechend!

 

Nur kurz zur Klarstellung: Natürlich lernt man Romanfiguren immer erst nach und nach kennen. Mit "verschweigen" meine ich aber etwas mehr, nämlich dass der Erzähler bewusst mit etwas hinter dem Berge hält, das für die Geschichte bzw. das Bild der Hauptfigur wichtig ist. So dass man an der Stelle, wo man es als Leser erfährt, innerlich "Ach, so ist das!" sagt.

 

Eure Beispiele bringen mich übrigens gleich zu der Frage, ob es doch vom Genre abhängt, wie viel Getrickse der Leser akzeptiert. Ist man evtl. in Komödien ohnehin mehr auf Überraschungen gefasst? Toleriert man im Thriller eher "betrügerische" Maßnahmen beim Verschleiern der Lösung, so lange es nur spannend bleibt? Was meint ihr?

 

Herzliche Grüße

 

Barbara

 

PS: Ja, bitte such mir den Titel raus, Matthias. Das wäre klasse. Und wie heißt deine Komödie, Jurenka?

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Ich bin davon überzeugt, dass Leser in allen Genres diesen Kniff tolerieren, solange er überzeugend dargestellt ist.

Die literarische Welt ist ja voller Helden mit Geheimnissen. Mir stellt sich dabei sogar die Frage, ob es nicht eher die Ausnahme ist, wenn eine Hauptfigur kein Geheimnis hat.

 

Gruß, Melanie

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Ich glaube auch, dass es genreunabhängig ist und sehr häufig vorkommt.

Mein Roman heißt "Verliebt bis in die Haarspitzen" - hatte ich vergessen  :s18.

Herzliche Grüße,

Jurenka

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Hach wie spannend!

 

Ich stehe vor einer ähnlichen Herausforderung, im vorliegenden Fall hängt tatsächlich die Aufklärung mit einem Geheimnis der Erzählerin zusammen ... dieses ist ihr allerdings so peinlich, dass sie es zu verschweigen versucht. Sie deutet aber immer wieder an, dass es da was gibt, was hoff. keiner weitersagen wird.

 

Was letztlich nicht klappen wird - und somit die Auflösung um diese Facette erweitert wird.

 

Mehr kann ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wirklich sagen.

 

Barbara - geht es in deinem Fall auch um einen Kriminalfall?

 

Krimi-Grüße

Anni

Autorin | Ein  Buch schreiben

Das Leben ist zu kurz für schlechte Bücher

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Liebe Barbara,

 

darf ich dich zuerst fragen, wer dein Personalerzähler, also die Erzählinstnanz, überhaupt ist? Wie steht er zur Figur? Und wie steht er zum Leser?

Weiß er denn über das Geheimnis überhaupt bescheid?

 

Schnelle Grüße vom Kochherd,

Olga

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Jetzt habe ich sie zwar alle schon in Kisten gepackt, die Patricia Highsmith-Romane, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie fast alle aus der personalen Perspektive erzählt sind.

"Der talentierte Mr. Ripley" als prominentestes Beispiel, der nicht nur ein Geheimnis hat. 8-)

 

Espresso-Gruß,

Juliane, die schon gekocht hat

"Man kann auf seinem Standpunkt stehen, aber man sollte nicht darauf sitzen."

Erich Kästner Vorträge und Lesungen einstudieren  und  Autorenseite Juliane Breinl

Mein YouTube Kanal

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Vielen vielen Dank schon mal! Ich finde hochspannend, was ihr hier zusammentragt.

 

Melanie, irgendwo hast du natürlich recht: fast jede Figur hat ein Geheimnis. Mir geht es aber - wie gesagt - nur um solche, bei deren Aufdeckung sich beim Leser der "Ach, so ist das!"-Effekt einstellt. (Und den Ausruf bitte mit sehr erstauntem Unterton vorstellen!)

 

Anni, jetzt würde ich dich am liebsten bitten, mal eben schnell deinen Krimi zu Ende zu schreiben, damit ich nachschauen kann, wie du es machst. ;) Bei mir geht es allerdings nicht um einen Krimi, sondern wieder eher um einen literarischen Roman mit Thriller-Elementen.

 

Juliane - weiß man bei Mr. Ripley als Leser nicht ziemlich genau Bescheid, was er vorhat und warum? Es ist allerdings lange her, dass ich die Romane gelesen habe.

 

Olga - der Erzähler weiß über das Geheimnis Bescheid. Ansonsten sind das genau die Fragen, auf die ich im Moment eine Antwort suche: Was für eine Erzählstimme brauche ich, damit das Verschweigen stimmig oder bestenfalls sogar zwingend wirkt und nicht einfach wie ein erzählerischer Trick zur Erhöhung der Spannung.

 

Ich muss gleich aus dem Haus, bin heute Abend aber wieder da.

 

Herzliche Grüße

 

Barbara

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Mit "verschweigen" meine ich aber etwas mehr, nämlich dass der Erzähler bewusst mit etwas hinter dem Berge hält, das für die Geschichte bzw. das Bild der Hauptfigur wichtig ist. So dass man an der Stelle, wo man es als Leser erfährt, innerlich "Ach, so ist das!" sagt.

 

Eure Beispiele bringen mich übrigens gleich zu der Frage, ob es doch vom Genre abhängt, wie viel Getrickse der Leser akzeptiert. Ist man evtl. in Komödien ohnehin mehr auf Überraschungen gefasst? Toleriert man im Thriller eher "betrügerische" Maßnahmen beim Verschleiern der Lösung, so lange es nur spannend bleibt? Was meint ihr?

Ich glaube, das kommt nicht aufs Genre an, sondern darauf, dass dem Leser das Verschweigen glaubhaft wird. Einfach verschweigen, dass die Hauptfigur keine Beine hat, nur um Spannung zu erzeugen, dürfte schlecht ankommen ;-).

 

Aber wenn du in der dritten Person personal erzählst, also alles durch die AUgen der Hauptfigur siehst, ihre Gedanken denkst, aber sonst nichts weißt als Erzählerstimme, dann weißt du natürlich auch nicht, was nur Lebenslügen der Figur sind, was sie sich vormacht, was sie sich und anderen verschweigt.

 

Beispiel: Die Hauptfigur ist ein erfolgreicher Wirtschaftsmagnat in den Sechzigern. Fest davon überzeugt, dass er immer schon gegen Hitler und die Nazis war. Folglich wird das auch am Beginn der Geschichte so erzählt werden. Erst langsam bröckelt die Fassade und es stellt sich heraus ...

 

Das nimmt dir jeder Leser ab, weil klar ist, dass die Person sich selbst und anderen etwas vormacht und wenn die Erzählung dieser Person folgt, erlebt sie zunächst die Geschichte "Ich war immer schon dagegen ..."

 

Grüße, Hans Peter

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Liebe Barbara,

für mich hängt es auch mit der Frage zusammen, warum der Erzähler diese Geschichte überhaupt erzählt. Und warum er (oder du, die du ihn ins Feld schickst) dafür eine personale Sichtweise wählt.

Ich mach mir ganz gern Regeln (jetzt eher für die E's): Was darf mein Erzähler? Was darf er nicht? Was will er? Will er was rausfinden? Mit irgendetwas fertig werden? Was vertuschen? So etwas wie die Spielregeln der Geschichte. Und ich Idiot spiel die dann auch so mit, obwohls manchmal schwerfällt ...

Aber wenn es zu diesen "Regeln" gehören würde, das Geheimnis nicht zu verraten?

:-X

Claudia

Baronsky&Brendler: Liebe würde helfen  Ein Staffelroman 
Februar 21, Kampa

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Aber wenn du in der dritten Person personal erzählst, also alles durch die AUgen der Hauptfigur siehst, ihre Gedanken denkst, aber sonst nichts weißt als Erzählerstimme, dann weißt du natürlich auch nicht, was nur Lebenslügen der Figur sind, was sie sich vormacht, was sie sich und anderen verschweigt.

 

Beispiel: Die Hauptfigur ist ein erfolgreicher Wirtschaftsmagnat in den Sechzigern. Fest davon überzeugt, dass er immer schon gegen Hitler und die Nazis war. Folglich wird das auch am Beginn der Geschichte so erzählt werden. Erst langsam bröckelt die Fassade und es stellt sich heraus ...

 

Jetzt hatte ich aber fast gedacht, er macht sich selbst was vor, hat ein düsteres, verdrängtes Geheimnis o.ä. - dass er also nicht nur nach außen darüber schweigt, sondern selbst nicht so genau davon weiß. (Trauma der Kindheit oder so.)

 

Ich schätze, glaubhaft wird eine solche Erzählung, in der ein Geheimnis verschwiegen wird, wenn man ziemlich nahe an der Erzählfigur dran ist. Wenn die sich also Dinge denkt wie: Hoffentlich fragt mich keiner, was damals geschehen ist.

 

Barbara, im Nov. muss ich erst abgeben. :) Das wird Dir vermutlich zu spät sein.

 

Lieben Gruß

Anni

Autorin | Ein  Buch schreiben

Das Leben ist zu kurz für schlechte Bücher

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Claudia hat schon die Sache angesprochen, die mir gerade auch durch den Kopf ging: Warum erzählt der Erzähler überhaupt?

Und: Warum soll er denn von dem Geheimnis erzählen? Ist es eine Situation, die ihn dazu zwingt, und es unlogisch wäre, dies zu verschweigen?

 

Liebe Grüße,

 

Olga

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(Peter_Dobrovka)

Mir fällt auf Anhieb leider kein Beispieltitel ein, obwohl ich sicher bin, schon Dutzende von Geschichten gelesen zu haben, bei denen das Gewünschte der Fall ist.

Grundsätzlich ist das auch kein Problem, so zu erzählen. Ein paar Punkte gibt es allerdings, die man dabei beachten muß, eben um die konstruierte Wirkung zu vermeiden. Die lassen sich, genau genommen, auf eine einzige Regel reduzieren: Es darf in der Geschichte keinen Konflikt mit der Handlung geben. Das heißt, was auch immer das Geheimnis ist, die Szenen müssen so geschrieben sein, dass die Figur sich entsprechend ihrem Geheimnis verhält. Dabei kann es ruhig zu "Merkwürdigkeiten" kommen, die für den Leser dann später ihre befriedigende Auflösung finden. Es ist sogar besser, wenn es diese Merkwürdigkeiten gibt als wenn es sie nicht gibt. Ansonsten wirkt das Geheimnis aufgesetzt. Kurz gesagt: Es ist besser, der Leser erlebt einen Aha-Effekt als eine Überraschung.

 

Wenn es um Vergangenes geht, das verdrängt wird, ist die Aufgabe, damit hiterm Berg zu halten, relativ einfach, denn die Figur versucht das Geheimnis ja aus ihrem Bewußtsein zu verdrängen.

Aktuelle Geheimnisse wie Alkoholismus lassen sich nicht ganz so gut verbergen. Da würde ich die Figur schon ganz beiläufig hier und da etwas Bestimmtes trinken und hin und wieder mit Kopfschmerzen erwachen lassen. Auch hier gibt es Verdrängungsmechanismen, die Figur kann sich einreden, dass es unklar ist, woher die Kopfschmerzen kommen und auf "Stress" schieben. Sich vornehmen, zum Arzt zu gehen, aber es dann nie tun.

Auch nichteingestandene Homosexualität kann sich z.B. in Interesse und Bewunderung für schöne Körper desselben Geschlechts äußern, was zunächst damit wegerklärt wird, dass die Figur neidisch ist und selbst gerne so aussehen würde.

Es gibt immer mehrere Möglichkeiten für alles.

 

Peter

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Liebe Barbara,

mir ist grade "Wir müssen über Kevin" von Lionel Shriver eingefallen. Hier löst die Icherzählerin ein wirklich krasses Geheimnis auf der allerletzten Seite und alles bis dahin Gelesene bekommt noch einmal eine zusätzliche Bedeutung. Ich saß damals mit offenem Mund da. Bei Shriver ist es sehr motiviert gebaut, die Icherzählerin schreibt Briefe an ihren Mann, in denen sie chronologisch von den Anfängen bis zum bitteren Ende hin durcherzählt, weil sie alles noch einmal durchdenken will. Es gibt für sie keinen Grund dieses Geheimnis vorher anzusprechen, da es in der Chronologie erst ganz "hinten" kurz vor dem Amoklauf passiert ist - und am Ende wird klar, dass genau dieses Geheimnis auch der Grund ist, warum sie mit ihrem Mann schriftlich kommuniziert, also, warum sie diese Form gewählt hat.

Ich hab das Buch in Berlin, Winnie kann es dir jederzeit schicken.

 

Bei deiner Fragestellung ist, glaube ich, auch wichtig, um welche Art von Geheimnis es geht. Ich glaube, dass es einen Unterschied macht, ob man verschweigt, dass der Ich-Erzähler oder die personale Perspektivfigur der Mörder ist oder ob es eher um ein "emotionales" Geheimnis (einen besseren Ausdruck hab ich grad nicht) geht. Ich glaube, dass bei einem "emotionalen" Geheimnis die Enthüllung viel früher vorbereitet wird. Also dass es nicht so einen "Oh, krass, das hätte ich jetzt aber nie gedacht"- Knallmoment gibt, sondern dass man schon vorher merkt, hier stimmt was nicht, die Figur scheint sich zu verändern bzw. mein Leserblick auf sie, usw. Und das beeinflusst dann auch wieder den Erzähler, oder?

 

Spannendes Thema!

 

Liebe Grüße

Lisa

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Wunderbar, was ihr hier an Gedanken zusammentragt. Da sind viel gute Anregungen dabei. Danke!

(Darf ich trotzdem zwischendurch daran erinnern, dass ich mich besonders über konkrete Romanbeispiele freuen würde? (Anni, November ist wirklich etwas spät - kannst du nicht schneller schreiben? ;)))

 

Aber jetzt zu euren Überlegungen. Ich glaube, viel hängt wirklich davon ab, wie die Perspektivfigur selbst zu diesem "Geheimnis" steht. (Und mir geht wirklich vor allem um das, was du emotionale Geheimnisse nennst, Lisa - nicht nur um ein Faktum, das die Handlung noch mal dreht. Aber evtl. gilt das, was wir hier bereden, für beide Sorten von Geheimnissen.) Wenn es etwas ist, was die Figur ganz aus ihrem Bewusstsein drängt - und wenn der Erzähler immer ganz nah beim Erleben der Figur bleibt - dann ist es vermutlich relativ einfach, das Geheimnis zu wahren. Dann ist es aber auch so, dass der Erzähler eigentlich gar nichts von diesem Geheimnis weiß (um mal den Bogen von hpr's, Annis und Peters Beispielen zu Olgas und Claudias Fragen zu schlagen). Folglich trickst er auch nicht, folglich gibt es auch kein Problem. Mal vereinfacht gesagt. Habe ich euch da richtig verstanden? Mir leuchtet der Gedanke jedenfalls sehr ein.

 

Auch in so einem Fall denke ich allerdings, dass der Autor dem Leser eine Chance geben müsste, hinter das Geheimnis der Figur zu kommen - dass er über den Aufbau der Handlung Andeutungen streuen müsste, dass er mindestens für Irritationen sorgen müsste, damit die "Enthüllung" nicht völlig aus dem Nichts kommt. In einem Fall von Selbsttäuschung z.B., wie hpr ihn anführt, würde man doch vermutlich erzähltechnisch dafür sorgen wollen, dass der Leser anfängt, dem Selbstbild der Perspektivfigur zu misstrauen. Auch da würde sich also wieder die Frage stellen, wie weit man etwas strategisch Wichtiges vor dem Leser geheimhalten kann, ohne dass es wie Trickserei wirkt. (Im letzten Roman von Julian Barnes steht so eine verfälschte Erinnerung im Mittelpunkt - das ist aber mal wieder eine Ich-Erzählung.)

 

Noch kniffliger finde ich aber das Problem, wenn es sich bei dem Geheimnis nicht um etwas handelt, das ganz aus dem Bewusstsein der Perspektivfigur verschwunden ist. Zum Beispiel habe ich mich gerade gefragt, Lisa, wie der "Kevin" geschrieben sein müsste, wenn er in der 3. Person erzählt wäre. Ob man dann dieses emotionale Geheimnis, das  am Schluss gelüftet wird, nicht wirklich viel länger vorbereiten müsste.

 

Ich glaube, da kommen Olgas und Claudias kluge Fragen ins Spiel. Dazu fange ich aber lieber ein neues Posting an.

 

Spätabendliche Grüße

 

Barbara

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Ich frage mich gerade, was - rein psychodynamisch betrachtet - das Geheimnis sein soll, das dem Protagonisten nicht bewusst ist.

Es kann ja allenfalls eine falsche Selbstwahrnehmung sein - z.B. Alkoholiker oder ähnliches. Aber das ist den Betroffenen meist schon bewusst - sie belügen sich nur selbst und suchen nach Ausreden. Diese Ausreden aber, die würden spürbar werden - vor allem, wenn der Betroffene sich vor seiner Umwelt tarnt bzw. Rechtfertigungen sucht.

 

Gruß, Melanie

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Warum erzählt der Erzähler überhaupt?

 

für mich hängt es auch mit der Frage zusammen, warum der Erzähler diese Geschichte überhaupt erzählt. Und warum er (oder du, die du ihn ins Feld schickst) dafür eine personale Sichtweise wählt.

Ich mach mir ganz gern Regeln (jetzt eher für die E's): Was darf mein Erzähler? Was darf er nicht? Was will er? Will er was rausfinden? Mit irgendetwas fertig werden? Was vertuschen?

 

Ich glaube, das sind genau die Punkte, bei denen ich derzeit nach Antworten suchen. Nicht allgemein gesprochen, sondern auf mein Projekt bezogen. Ich habe da zwar einen Ansatz gefunden, der mich im Moment überzeugt - aber ich bin eben unsicher, was den Umgang mit dem "Geheimnis" angeht. Ob das so funktionieren wird, wie ich mir das wünsche. Oder mit deinen Worten, Claudia: welche Spielregeln die richtigen wären.

 

Darum suche ich nach gelungenen Beispielen - um mir deren Spielregeln anzuschauen.

 

Aber wenn es zu diesen "Regeln" gehören würde, das Geheimnis nicht zu verraten?

So eine Regel müsste aber gut motiviert sein, oder?

 

Warum soll er denn von dem Geheimnis erzählen? Ist es eine Situation, die ihn dazu zwingt, und es unlogisch wäre, dies zu verschweigen?

Ich glaube, wenn das geheime Wasauchimmer für die Handlung wichtig ist, dann kommt für den Erzähler ziemlich bald ein Punkt, an dem man er Wasauchimmer erwähnen würde, wenn es nicht geheim wäre. (Ich hoffe, das klingt jetzt nicht völlig wirr.) Also braucht er irgendeine Motivation, es nicht ins Spiel zu bringen. Klar, wenn er etwas vertuschen will ... Aber ist er dann noch ein personaler Erzähler? Spielt er dann nicht in der Geschichte mit?

 

Fragen über Fragen ...

 

Wirklich ganz herzlichen Dank fürs Mitdenken!

 

Noch später abendliche Grüße

 

Barbara

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Ich frage mich gerade' date=' was - rein psychodynamisch betrachtet - das Geheimnis sein soll, das dem Protagonisten nicht bewusst ist.[/quote']

In dem erwähnten Roman von Julian Barnes erweist sich eine Erinnerung des Erzählers an ein bestimmtes Vorkommnis in seiner Jugend als falsch, weil geschönt. hpr's Beispiel habe ich auch als Fall von falschem, geschöntem Selbstbild verstanden. In Thrillern kommen - glaube ich - auch Leute vor, die sich an eigene Taten nicht erinnern können. Was davon psychologisch realistisch ist, kann ich nicht beurteilen.

 

Schöne Grüße

 

Barbara

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Liebe Barbara,

 

auf Anhieb kommen mir Romane vor, in denen es vor allem um ein Geheimnis um ein Ereignis herum gemacht wird. Einmal gab es da einen Krimi (Ich-Erzähler), in dem der Ich-Erzähler den Mord, um den es ging, begangen hat. Als Leser war ich ziemlich verärgert, denn für mich passte das Hüten des Geheimnisses aus der Ich-Perspektive vorne und hinten nicht.

 

Sehr schön wurde die Sache bei "Abbitte" gelöst. Am Ende war ich recht überrascht und habe sogar meinen Frieden mit dem ersten Teil des Romans geschlossen. Die Lösung des Autors war mMn sehr originell: "Künstlerische Freiheit". Ich war beeindruckt.

 

Im Moment habe ich ein ähnliches Problem. Mein Held (inzwischen ein Ich-Erzähler) verheimlicht auch etwas. Kein emotionales Geheimnis und kein Ereignis, aber einen Dauerzustand so zu sagen. Aus der personalen Perspektive war die Sache relativ einfach. Der Erzähler war ein eingeweihter Komplize, er hat zwar erzählt, aber ein wenig distanziert. So, als würde er sich herumdrücken, um das Geheimnis nicht zu verraten, schweifte ab, wurde an einigen Stellen schwammig, ungenau, an den anderen umso genauer, um die Aufmerksamkeit abzulenken. Hat funktioniert. Was nicht funktioniert hat, war der Ton der Geschichte. Claudia hat mir empfohlen, die Ich-Variante zu versuchen. Und sieh an: Es funktioniert - im Ton. Aber was ich mit dem Geheimnis mache, weiß ich im Moment nicht so genau (und bin frustriert)

 

Liebe Grüße,

Olga

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In Thrillern kommen - glaube ich - auch Leute vor' date=' die sich an eigene Taten nicht erinnern können. Was davon psychologisch realistisch ist, kann ich nicht beurteilen.[/quote']

 

Bei Thrillern muss man sich klar machen, dass 80% davon im Grunde fast schon Fantasy sind, wenn man es mit der Realität vergleicht.

 

In der Realität sind Gedachtnisverluste etc. sehr selten und haben immer bestimmte Ursachen, die im Nachhinein ins Gesamtbild passen. In Thrillern wird da oft munter phantasiert, wie es gerade in den Plot passt. Das ist ja auch legitim - denn es geht ja um eine spannende Geschichte. Ist aber nicht für Recherchezwecke geeignet.

 

Wenn dir das genügt, weil es nur ein Plotpunkt ist, der keinen Anspruch auf psychodynamische Korrektheit legt, kannst du natürlich alles machen.

 

Gruß, Melanie

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Liebe Barbara,

 

was für eine interessante Frage!

 

Als erstes ist mir dazu auch "Abbitte" eingefallen. Schade, dass Andreas gerade etwas vom Schuss ist: Wir streiten nämlich seit zwei Jahren über dieses Buch. Er fand es stimmig (und kann sagen, warum), ich habe mich betrogen gefühlt und zwar auch noch plump: Na, das kann doch jeder, der schreibt: dem Leser am Schluss zu erklären, dass alles nur ausgedacht war. Die Illusion, dass alles "echt" war, will ich eigentlich behalten bis zum Schluss.

 

Agatha Christie hast du ja schon erwähnt. Ich erinnere mich an einen Krimi, der in Ich-Form geschrieben ist. Über alle Figuren ist am Ende klar, dass sie es nicht gewesen sein können. Bleibt noch einer? Au ja, der Ich-Erzähler. Der alles als Abschiedsbrief aufgeschrieben hat, um sich dann selbst zu richten, wenn ich mich recht erinnere.

 

Kürzlich gelesen: Herman Koch, Angerichtet. Es beginnt - sehr schön - wie eine Gesellschaftssatire: Der Ich-Erzähler schildert einen gemeinsamen Restaurantbesuch mit seiner Frau, seinem Bruder und dessen Frau. Der Bruder ist ein großes Tier in der Politik, ein Großkotz des Erfolgs. Wie er durch die Augen des Ich-Erzählers gezeichnet wird, hasst man ihn und nimmt Partei für den Ich-Erzähler. Dann kommt raus, dass eine grauslige Tat vertuscht wird, die die verwöhnten Söhnchen beider Paare angestellt haben. Mehr und mehr erfährt man, dass der Ich-Erzähler so unschuldig dabei auch nicht ist. Am Ende erklärt ihm der Sohn, inwiefern er der geistige Anstifter der ganzen Verrohung ist.

 

Das Buch ist geschickt geschrieben. es tauchen nach und nach immer brutalere Szenen auf, in denen der Charakter der einzelnen Familienmitglieder seine hässliche Seite offenbart. Namentlich der Ich-Erzähler - Opfer und Täter zugleich - hat einen derartigen Webfehler, dass er in mehr als einer Hinsicht schuldig ist an der Entwicklung seines Söhnchens. Dass sich da einer einen Roman lang was vormachen kann, ohne dass der Leser den Braten riecht, wird zu einem gut Teil möglich durch die Erzählsituation: Es spielt alles während eines Abendessens im Nobellokal mit kurzen Ausflügen zum Telefonieren in den Garten des Lokals und Rückblenden. Der letzte Teil - 8 Seiten lang und überschrieben mit "Trinkgeld" - erzählt von einer Zeit nach dem Restaurantbesuch und bringt die Auflösung.

 

Das Buch hat mich gefesselt. Aber so ein bisschen ausgetrickst fühlte ich mich auch da.

 

Angelika

 

P.S. Nachdem ich deine letzte Frage nochmal gelesen habe: Auch die für viele Leser nachvollziehbar üble Atmosphäre in diesem Lokal spielt eine Rolle: Man ist so sehr damit beschäftigt, dem Widerwillen des Protagonisten gegenüber diesem Lokal und seinen snobistischen Gesetzen zu folgen, dass man die immer stärker angedeuteten Hinweise auf seinen Charakter in diesem Rahmen versteht und falsch einordnet.

Ich suche nachher noch weiter in Bücherregal und Gedächtnis. Du wolltest eigentlich keinen Ich-Erzähler, ja?

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

www.angelika-jodl.de

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