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Angelika Jo

Adjektiv, Syntax und Bilder - Stilfragen zu Krachts Imperium

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Auffällig, oder? So schreibt man heute nicht mehr. Schreibt der Autor so, weil er hinter dem Mond ist, es nicht besser versteht? Oder weil er sich über die Leser lustig machen will? Oder hat er etwas ganz anderes vor?

 

Ich finde, das ist so ein schmunzelnder, alles und alle ein wenig auf die Schippe nehmender Stil. Und er geht damit weg von der Innensicht. Wenn Kracht geschrieben hätte, dass sich ein dicker Mann näherte, und sofort fühlte sich Engelhard so schüchtern wie immer, wenn er einem Menschen begegnete, der ganz von sich eingenommen war, ist das viel drastischer ausgedrückt und verliert dieses "Schwebende".

"Leibesvoll", "minuskül" u.a. sind Wortneuschöpfungen, die den bisherigen Ton halten. Nur beim Fornicator musste ich nachschlagen, das war mir nicht geläufig.

 

Herzlichst

Christa

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Ich steh auf dem Schlauch, was minuskül betrifft. Wat soll dat sein? Winzig, klein, nur angedeutet oder wie?

 

Viele grüße

Annette

http://annette-amrhein.de/

Ein Beitrag in "Zeit zum Genießen",  Insel Verlag 2021 

ebook für Kinder: 24 Geschichten für Weihnachten und Advent, amazon

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Ich wusste es auch nicht, Christa, hatte aber angesichts der Figur des Herrn Otto so meine Vermutung über dessen Vorstellungen von Humor, und der Griff zum Wörterbuch hat es bestätigt: "Fornicator" heißt so was wie "Hurenbock" (für den Fall dass noch mehr Neugierige hier sitzen, deren Englisch auf meinem Niveau ist :-[)

 

Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

www.angelika-jodl.de

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Ich steh auf dem Schlauch' date=' was minuskül betrifft. Wat soll dat sein? Winzig, klein, nur angedeutet oder wie?[/quote']

 

So was wohl. Ich vermute, es ist eine Eigenbildung des Autors, abgeleitet aus dem Wort "Minuskel" was die kleingeschriebenen Buchstaben bezeichnet.

 

Wirkt auch komisch auf mich: Ein fetter Pflanzer - vornehm mit "leibesvoll" beschrieben (eine Seite vorher wurden seine Kollegen als "Erdferkel" bezeichnet), der seine guten Manieren vorführt, indem er sich als "Herr ..." vorstellt und verbeugt - aber nur ein klein wenig (Leibesfülle!), und diese Bewegung kriegt dann so ein gespreizt klingendes Wort aus der Welt der Buchstaben verpasst ...

 

Ja, fein dosierter Humor, wie jueb sagt (und selbstverständlich darfst du dazu fügen, jueb, du sollst!).

 

Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

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Auffällig' date=' oder? So schreibt man heute nicht mehr. Schreibt der Autor so, weil er hinter dem Mond ist, es nicht besser versteht? Oder weil er sich über die Leser lustig machen will? Oder hat er etwas ganz anderes vor?[/quote']

 

Ich finde, das ist so ein schmunzelnder, alles und alle ein wenig auf die Schippe nehmender Stil. Und er geht damit weg von der Innensicht. Wenn Kracht geschrieben hätte, dass sich ein dicker Mann näherte, und sofort fühlte sich Engelhard so schüchtern wie immer, wenn er einem Menschen begegnete, der ganz von sich eingenommen war, ist das viel drastischer ausgedrückt und verliert dieses "Schwebende".

 

Wollen wir das mit der "Innensicht" noch ein wenig aufheben für die Besprechung der Erzählerfigur, Christa? Ich weiß, das ist immer alles schwer zu trennen. Aber beim Erzähler werden die Frage der Perspektive und diese Beobachtung von dir wirklich wichtig.

 

Angelika, im Abmarsch und erst am Abend wieder da

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

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Auffällig, oder? So schreibt man heute nicht mehr. Schreibt der Autor so, weil er hinter dem Mond ist, es nicht besser versteht? Oder weil er sich über die Leser lustig machen will? Oder hat er etwas ganz anderes vor?

 

Zunächst einmal ist dieser anachronistische Stil natürlich mit seiner Gespreiztheit für sich genommen komisch. Heute so zu schreiben ist automatisch ironisch - oder wird zumindest so wahrgenommen. Ich glaube aber, dass es mehr ist. Über die Leser will der Autor sich mit diesem Erzähler bestimmt nicht lustig machen. Eher parodiert er seine literarischen Vorbilder, insbesondere den schon vielfach erwähnten Mann. Der Erzähler setzt sich eine Maske auf, es ist die Maske des allwissenden Erzählers jener Zeit. Schon Thomas Mann hat ja mit seinem ironischen Erzähler den allwissenden Erzähler des 19. Jahrhunderts parodiert. Indem Kracht sich auf Mann bezieht, verdoppelt er die Ironisierung. Nun ist aber genau das das Moderne (bzw. Postmoderne) an dem Text: das Spiel mit den Formen. Da ich den Text auch nur in Teilen kennen, kann ich nicht sagen, wohin dieses Spiel bei Kracht führt. (Aus der Debatte, die sich daran entfacht hat, könnte man schließen, dass es irgendwann auch ernst wird.) Deshalb interessiert mich an diesem Text, neben vielem anderen, auch, ob er diese Erzählerhaltung irgendwann auch einmal aufbricht.

 

Ich möchte nicht schließen, ohne Angelikas ausgezeichneten und äußerst lehrreichen Vortrag zu loben und mich für die Mühe zu bedanken, die sie sich macht!

 

Liebe Grüße

Andreas

"Wir sind die Wahrheit", Jugendbuch, Dressler Verlag 2020;  Romane bei FISCHER Scherz: "Die im Dunkeln sieht man nicht"; "Die Nachtigall singt nicht mehr"; "Die Zeit der Jäger"

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Deshalb interessiert mich an diesem Text, neben vielem anderen, auch, ob er diese Erzählerhaltung irgendwann auch einmal aufbricht.

 

Ich glaub schon, Andreas, und zwar, indem er sie auf die Spitze treibt ...

 

Musst du immer noch was Interessantes posten, wenn es mir pressiert??!

 

Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

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"Fornicator" ist pures Latein, das direkt ins Englische übernommen wurde und heißt wörtlich Ficker oder Hurenbock. Fornicatrix = Hure.

 

Minuskül ist wohl eine Verdeutschung des Französischen "minuscule" = winzig. Ich kann mir gut vorstellen, dass man zu der Zeit solche französischen Begriffe verwandt hat. Wie wir ja auch heute noch "Friseur" sagen, obwohl sich dort niemand mehr Löckchen ins Haar brennen lässt. :)

Die Montalban-Reihe, Die Normannen-Saga, Die Wikinger-Trilogie, Bucht der Schmuggler, Land im Sturm, Der Attentäter, Die Kinder von Nebra, Die Mission des Kreuzritters, Der Eiserne Herzog, www.ulfschiewe.de

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Ich steh auf dem Schlauch' date=' was minuskül betrifft. Wat soll dat sein? Winzig, klein, nur angedeutet oder wie?[/quote']

So was wohl. Ich vermute, es ist eine Eigenbildung des Autors, abgeleitet aus dem Wort "Minuskel" was die kleingeschriebenen Buchstaben bezeichnet.

 

Als ich das Wort eben gelesen habe, hat es mich an das Wort erinnert, dass unser elsässischer Nachbar immer verwendet hat, wenn was ganz winzig gewesen ist. Und unser Französischlehrer hat uns immer Vokabeln diktiert und da tauchte das Wort dann für Kleinbuchstabe auf. Das französische: minuscule. Das kann als Adjektiv kleinschreiben, winzig, klitzeklein, usw. heißen und als Nomen eben Kleinbuchstabe, die Minuskel. Anhören tut es sich für mich, wie Kracht es geschrieben hat: minuskül. Oder manchmal auch minüskül. Vielleicht meint er das? Französisch war doch auch die Sprache der gehobenen Gesellschaftsschicht, oder? Vielleicht passt das?

 

Ist das ein spannender Thread! Vielen Dank an alle!

Liebe Grüße

Lisa

Edit: Ulf war schneller... :-)

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Deshalb interessiert mich an diesem Text, neben vielem anderen, auch, ob er diese Erzählerhaltung irgendwann auch einmal aufbricht.

 

Ich glaub schon, Andreas, und zwar, indem er sie auf die Spitze treibt ...

 

Wieso überrascht mich das jetzt nicht?

 

Musst du immer noch was Interessantes posten' date=' wenn es mir pressiert??![/quote']

 

Tschuldigung.

 

Liebe Grüße

Andreas

"Wir sind die Wahrheit", Jugendbuch, Dressler Verlag 2020;  Romane bei FISCHER Scherz: "Die im Dunkeln sieht man nicht"; "Die Nachtigall singt nicht mehr"; "Die Zeit der Jäger"

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Haha, und ich hatte minuskuel fuer einen reizenden Anglizismus gehalten ...

 

Uebers Aufbrechen der ironisierenden Erzaehlhaltung wuerde ich gern noch ein bisschen mehr reden/hoeren, weil das, um ehrlich zu sein, letzten Endes fuer mich ein Minuspunkt fuers Buch war. Mir schien eine gewisse Ironiehoehe so sehr durchgehalten, dass sie mich irgendwann losliess und mich, waere das Buch laenger gewesen, wohl auch genervt haette. Vielleicht ist mir gerade deshalb - weil mir das irgendwann im Ton zu eingaengig, zu einhoehig wurde - etwas entgangen. Fuer Seitenangaben waere ich sehr dankbar, auch wenn ich das Buch verliehen habe. Ich werd's mir aber heut' Abend einfach wiederholen, damit ich hier an Bord bleiben kann.

 

Die Konjunktiva der indirekten Rede haben mir hier aber noch einmal besser gefallen als bei Kehlmann, und Angelika hat mir gerade gezeigt warum. Das konsequente Stuelpen von Schriftsprachen-Grammatik ueber Sprechsprache ist koestlich. Das Distanzierende zwischen Erzaehler und Restpersonal ist staendig praesent und ermoeglicht dem Leser (mir) eine dauerhafte Draufschau. Hat mir viel Vergnuegen bereitet.

 

Herzlich,

Charlie

"Der soll was anderes kaufen. Kann der nicht Paris kaufen? Ach nein, in Paris regnet's ja jetzt auch."

Lektorat, Übersetzung, Ghostwriting, Coaching www.charlotte-lyne.com

 

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Ach, danke für die Erklärung, Lisa, ich hatte doch kein Französisch. Ich musste mich mit Russisch herumschlagen.Wä.

 

Viele Grüße

Annette

http://annette-amrhein.de/

Ein Beitrag in "Zeit zum Genießen",  Insel Verlag 2021 

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Der Erzähler setzt sich eine Maske auf, es ist die Maske des allwissenden Erzählers jener Zeit. Schon Thomas Mann hat ja mit seinem ironischen Erzähler den allwissenden Erzähler des 19. Jahrhunderts parodiert. Indem Kracht sich auf Mann bezieht, verdoppelt er die Ironisierung.

Liebe Grüße

Andreas

 

Das finde ich toll analysiert..

"Dem von zwei Künstlern geschaffenen Werk wohnt ein Prinzip der Täuschung und Simulation inne."  

AT "Aus Liebe Stahl. Eine Künstlerehe."

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Vielen Dank an AngelikaJo und alle diejenigen, die hier aufs Wunderbarste diesen Text auseinandernehmen. Ich lese begeistert mit! Morgen bekomme ich endlich das Buch. Die bisher aufgeführten Textstellen treffen meinen Geschmack und Humor, mal sehen, wie das Gesamtwerk auf mich wirkt.

 

Haltet mich nur weiter so effektiv von der Arbeit ab!

Liebe Grüße von Steffi

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V

Haltet mich nur weiter so effektiv von der Arbeit ab!

 

(Genau das habe ich auch gerade gedacht. Haben wir beiden Bummelanten uns also wieder am selben Kaffeeautomaten eingefunden ...)

"Der soll was anderes kaufen. Kann der nicht Paris kaufen? Ach nein, in Paris regnet's ja jetzt auch."

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Ich verfolge diesen Thread aus dem Off und habe noch einen offenen Büchergutschein (was an ein Wunder grenzt, mein Geburtstag war am 1.1.) - jedenfalls bin ich entzückt von den Zitaten und Angelikas Erklärungen. Mehr davon! :)

Liebe Grüße, Susanne

 

"Books! The best weapons in the world!" (The Doctor)

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Kann mich Susannes Entzücken nur anschließen! Danke an euch, für eure so erhellenden Beiträge, besonders natürlich an St Angelika. Will ihn spätestens jetzt auch lesen, obwohl auch mich das Thema nicht reizte (allerdings kenne ich seine anderen Texte) und bin sehr froh, dass mit dem Adjektivfleddern aufgehört wurde.

Aus Zeitgründen kann ich nicht mehr beitragen, im Moment auch nicht im benachbarten Rothmannthread, aber bitte, bitte: go on!

Liebe Grüße

Claudia

Baronsky&Brendler: Liebe würde helfen  Ein Staffelroman 
Februar 21, Kampa

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Welche sprachlichen Absonderlichkeiten haben wir da vor uns?

 

Da ist der Einsatz von Vokabeln, die zum Teil der gehobenen Sprache angehören, zum Teil altmodisch geworden sind:

- obgleich

- leibesvoll

- Besitz ergreifen

- Manneszucht

 

Bei Letzterem ist mir -rein assoziativ-ein Satz aus dem Felix Krull von Thomas Mann eingefallen, den wir in der Schule gelesen haben. Der Lehrer las ihn uns laut, Wort für Wort vor, um uns dann zu fragen: Ist das nicht genial? Der Satz lautete ungefähr so:

Die Gräfin nahm meine Hand, legte sie in ihren Ausschnitt und führte sie dort in einer Weise herum, dass meine Männlichkeit in einen beträchtlichen Aufstand geriet.
Das hat mich so beeindruckt, dass ich es bis heute nicht vergessen habe! Andreas, Schön deine Hinweise auf die Parodien Krachts und Thomas Manns!

 

Christa

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Der Satz lautete ungefähr so:

Die Gräfin nahm meine Hand, legte sie in ihren Ausschnitt und führte sie dort in einer Weise herum, dass meine Männlichkeit in einen beträchtlichen Aufstand geriet.
Das hat mich so beeindruckt, dass ich es bis heute nicht vergessen habe! Andreas, Schön deine Hinweise auf die Parodien Krachts und Thomas Manns!

Ich glaube, den "beträchtlichen Aufstand" kann ich gut nachvollziehen. :s22

Die Montalban-Reihe, Die Normannen-Saga, Die Wikinger-Trilogie, Bucht der Schmuggler, Land im Sturm, Der Attentäter, Die Kinder von Nebra, Die Mission des Kreuzritters, Der Eiserne Herzog, www.ulfschiewe.de

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Auch ich gehöre hier zu den begeisterten Mitlesern. Kenne das Buch leider nicht und kann nicht mitreden - aber ich lerne ... Dank vor allem an Angelika Jo ... das ist super!

Jedenfalls bleibt die Tatsache, dass es im Leben nicht darum geht, Menschen richtig zu verstehen. Leben heißt, die anderen misszuverstehen ... Daran merken wir, dass wir am Leben sind: wir irren uns. (Philip Roth)

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Das wird ja das reinste Lesefest hier! Freu.

 

Charlie, ich habe gerade die Seitenzahl für das Zitat mit dem Herrn Otto eingefügt.

 

Gehen wir zur Erzählerfigur? Ohne das zu vergessen, was AndreasG gesagt hat zu dieser Ironisierung der Ironisierung, das ist, glaube ich, wichtig, um den Erzähler ganz zu begreifen.

 

Barbara und jueb haben es schon gesagt: Im zweiten Satz mischt er sich schon ein, verflucht die Schifffahrtslinie. Er will also nicht nur erzählen (obwohl er an einer Stelle von einer "Chronik" spricht), sondern kommentiert durchaus von oben herab. Das mit den Fremdwörtern ist auch er, der Klugscheißer.

 

Aber natürlich plappert er nicht permanent daher, sondern verschwindet oft genug in der Personalität der Figur, näher dran am Protagonisten, immer noch sehr nahe an Figuren, die mit Namen und Vita vorkommen, weiter weg bei namenlosen Statisten wie den Pflanzern oder Eingeborenen. Und hie und da taucht er selbstbewusst auf und sagt "Ich".

 

Drei Beispiele dafür auch mit den Übergängen von der einen in die andere Erzählhaltung (Lisa? Ist das jetzt der richtige Begriff? :-?)

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

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1. Engelhardt geht auf seiner Insel spazieren und bemerkt entsetzt, dass die lieben Eingeborenen gerade ein Ferkel schlachten. S. 71

 

Engelhardt, der sich einerseits als Herr über das Eiland und somit auch über das Tun und Lassen seiner Einwohner wähnte, andererseits aber auch die Sitten der Eingeborenen dulden wollte, trat beherzt dazwischen, entwand der Frau, die das Schnittwerkzeug führte, die spitze Scherbe und warf diese in hohem Bogen in den Busch. Dabei rutschte er auf einem Stück Darm aus und fiel bäuchlings in die sandige Blutlache. Dies war, nebenbei bemerkt, seine Rettung, denn anstatt den schmächtigen waitman das gleiche Schicksal wie das Schwein ereilen zu lassen /der Bursche mit der Keule war bereits einen Schritt vorgetreten), begannen alle auf der Lichtung aus vollstem Halse über Engelhardt zu lachen. Dieser stand auf, über und über mit Blut besudelt, sich den dunkelroten Sand aus den Augen reibend, und der Eingeborene mit der Keule ließ diese sinken, nahm lachend Engelhardts Hand in die seine, klopfte dem Deutschen kameradschaftlich auf die Schulter, und fortan war klar, daß die Tierschlachtungen auf der anderen Seite der Insel vorgenommen würden. Engelhardt sei, so erzählten sich die Eingeborenen untereinander, ein größerer waitman als man gedacht habe ...

 

Der Erzähler sitzt ziemlich weit außen, weg von den Figuren, weiß Bescheid über die Gedankengänge des Helden, schiebt sich selbst mal kurz als kluger Kommentator ein: Dies war, nebenbei bemerkt, seine Rettung, er weiß auch, wie es weiter geht, was die Eingeborenen sich erzählen und in beidem weiß er mehr als der Held.

 

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Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

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2. Queen Emma, eine so attraktive wie einflussreiche Frau vor Ort (die es tatsächlich gegeben hat) überlegt, ob sie Engelhardt ein Inselchen überlassen und ihn kreditieren soll. S. 61

 

Schlußendlich war sie eine Geschäftsfrau, und wenn dieser junge Sonderling - denn sie hatte sehr wohl gehört, daß Engelhardt einen Kokosnußesser-Orden gründen wollte, und naatürlich hatte auch Gouverneur Hahl schon von ihm berichtet - sein Geld bei ihr lassen wolle, dann bitte sehr. Außerdem, ja, sie mochte ihn. Wie er dort saß, bärtig, asketisch, mit dieser unmöglichen Frisur und den wasserblauen Augen, mager wie ein Spatz.

 

Unwillkürlich mußte sie an einen lange zurückliegenden Italienbesuch denken, es war ihr, als habe sie Engelhardt dort schon einmal gesehen, nur wo? Doch! Natürlich! Das war es! Beim florentinischen Meister Fra Angelico, auf seinen Darstellungen des Heilands Jesu Christi als Märtyrer. Engelhardt war dem Erlöser wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie lächelte vergnügt und versank ein paar Sekunden in diesem goldenen, lange vergangenen Nachmittag nach dem Besuch der Kirche San Marco, in jenem verschwiegenen Schäferstündchen in der kleinen Pension unweit des Arno.

 

Schau an, was dieser Erzähler alles weiß! Jetzt sitzt er aber schon tief drin im Kopf der Queen Emma. Ihre Geheimnisse kennt er. Und ihren Gedanken kann er folgen, die, wie Gedanken so sind, nicht unbedingt einer Satzstruktur folgen: Doch! Natürlich!

 

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3. Engelhardt wurde bei einem Ausflug an die Ostsee, wo er sich in den Dünen nackig ausgezogen hat, angezeigt, verhaftet, brutal geschlagen, ins Gefängnis verbracht und dann wieder freigelassen. Ziemlich begeisterte Bürgerrechtler feiern ihn. S. 89 f.

 

Engelhardt ist in ein Erster-Klasse-Abteil der Preußischen Staatsbahn manövriert worden, dort hat man ihn auf kühlende Laken gebettet, zwei Daunenkissen unter den Kopf geschoben und, nachdem er mit angewiderter Geste die frische Kuhmilch verweigert, die ihm der mitreisende Arzt fürsorglich gereicht, ihm einen Schoppen naturtrüben Apfelsaft zu trinken gegeben, während eine einnehmende und auf ihre Art durchaus auch anmutige, friesische Bürgerrechtlerin (im sich über ihren gewaltigen Busen wölbenden, gestärkten Kittel) ihm den erschlafften Handrücken tätschelt. Sie riecht, so dünkt es Engelhardt, leicht säuerlich, vielleicht ist es aber auch nur das verschmähte, ruckelnde Glas Milch. drüben in der Ecke des Abteils, in dessen konvexer Opazität sich gar nichts spiegelt. Ich glaube nicht, daß er jemals einen Menschen wirklich geliebt hat.

 

Wer sieht, dass diese Frau auf ihre Art durchaus auch anmutig ist? Engelhardt? Oder der Erzähler? Wer riecht sie? Wer fragt sich, ob es die Milch ist? Huch - auf einmal steht dieses Ich im Raum und bricht den Stab über dem Helden.

 

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