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Angelika Jo

Adjektiv, Syntax und Bilder - Stilfragen zu Krachts Imperium

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Angelika macht sich hier viel Muehe, zu Stilfragen ein paar Antworten und Ansaetze zu liefern, die sich nicht nur interessant lesen, sondern die uns womoeglich auch in Zukunft als eine Art Anregungssammlung fuer Stilanalysen von Texten sehr nuetzlich sein koennten.

 

Ich finde es dabei ein bisschen schade, dass Angelika eigens darum gebeten hat, sich in diesem Thread auf die Diskussion ueber diese Stilfragen zu beschraenken, wir uns aber daran nicht halten. Sich auch spaeter noch in diesem Thread zu informieren, wird stark erschwert, wenn man Angelikas Ausfuehrungen sowie die Diskussionsbeitraege, die sich inhaltlich darauf beziehen, erst aus dem Wust, in dem wir uns ueber unser Leseverhalten austauschen, herausklauben muessen.

Deshalb schlage ich vor, dass die Diskussion ueber das Leseverhalten in den Nachbarthread (Qualitaetskriterien etc., eroeffnet von Andreas) umzieht, damit dieser hier fuer diejenigen uebrigbleibt, die gern ueber Krachts stilistische Mittel diskutieren moechten.

Ansonsten faende ich es ein bisschen schade um Angelikas Arbeit, denn das auf den Anfang von "Imperium" bezogene Gespraech wird immer wieder erstickt.

 

Ich wuerde ueber die von Angelika aufgezeigte Spracheffizienz gerne noch weiter reden, denn die hat mich auch beschaeftigt. Ich fand sie an vielen Stellen leicht ueberspitzt und daher ironisierend, was mir gut gefiel. Gerade die Entscheidung fuer ein Adjektiv wie "sanftfuessig" ist fuer mich auch Element eines Spiels mit klischeehaften Vorstellungen (nicht nur, aber auch der Epoche, in der der Roman spielt). Ich glaube (!), ich habe mich an keiner Stelle von Bilderfluten erschlagen gefuehlt, weil ich immer auch fand, der Autor sehe auf die eigene kompakte Fuelle mit ironisierendem Abstand.

Ich wuesste gern, ob es noch anderen Lesern aehnlich ging.

 

Herzliche Gruesse von Charlie

 

P.S.: Sorry, last time off topic: Viel Spass, jueb. Mir ging es wie Dir, ich fand das Thema auch nicht hochinteressant und brauchte mit dem Gestus Zeit, aber ich habe das Buch sehr gern gelesen.

"Der soll was anderes kaufen. Kann der nicht Paris kaufen? Ach nein, in Paris regnet's ja jetzt auch."

Lektorat, Übersetzung, Ghostwriting, Coaching www.charlotte-lyne.com

 

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Der nächste Punkt auf der Liste zur Kritik von "Imperium" war die Sache mit den Bildern. "Zu viele Bilder" hieß es (bezogen auf die beiden schon sattsam bekannten Sätze zu Beginn). Reizüberflutung. Wirft aus dem Lesefluss.

Angelika, mich hat genau das gestern beschäftigt, was viele empfunden haben: Zuviele Bilder.

 

Eigentlich hat Kracht ja nicht viele BIlder, es ist ein Dampfer auf dem stillen Ozean mit viel Luxus. Das ist ein Bild und für mich fügt sich das, was Kracht schreibt, auch zu einem Bild zusammen. Nicht zu vielen.

 

Aber da gibt es schon ein Problem. Heutige Leser möchten (behaupte ich jetzt mal) ihre Bilder selbst entwickeln. Eine Skizze, das Bild entwickelt sich daraus im Kopf des Lesers. Grosz, nicht Rubens. Skizze nicht barocke Detailfreude.

 

Und ich glaube, genau das führt zu den unterschiedlichen Wahrnehmungen. Wer bereits nach dem ersten Halbsatz sein Bild im Kopf hat, der fühlt sich gestört, wenn der Dichter da weiter drin rummalt, der hat schnell einen Haufen Bilder im Kopf und sagt: Hält der mich für blöd, ich hab das Bild Luxusdampfer im Pazifik bereits im Kopf, ich brauch das alles nicht.

 

Heute malt ja auch kaum jemand barock mit allen Details, möglichst naturgetreu. Damit will ich kein Werturteil fällen, Rubens war genial, Grosz auch.

 

Ich denke, diese Art, dem Leser jedes Detail zu malen, spaltet dann auch die Leser. Die einen mögen es, die anderen nicht. So schön ich diese ersten Sätze finde, auf Dauer würde ich es nicht aushalten, sondern der Stil würde meinen Widerspruchsgeist wecken und ich vermutlich das Buch weglegen. Karl May kann ich heute auch nicht mehr lange lesen, aber war mal ein Fan von ihm.

 

Das ist jetzt kein Qualitätsurteil, ganz bewußt nicht, sondern bezieht sich auf den Stil des Erzählens. Und natürlich nur auf die Zitatsätze, die ich kenne.

 

Wie gesagt, ich glaube nicht, dass Kracht viele Bilder malt, sondern immer aufs neue den Pinsel ansetzt und Details an einem Bild hinzufügt. Und genau das ist das Problem.

 

herzliche Grüße

 

Hans Peter

 

Edit: Entschuldigung, wenn ich hier doch wieder über das Leseverhalten was geschrieben habe. Aber ich glaube nicht, dass man Stilfragen ohne das diskutieren kann. Schließlich will auch Kracht mit seinem Stil etwas beim Leser erreichen, zumindest nehme ich das an.

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Alsdann, auf zum Adjektiv. Und ein bisschen Theorie vorweg.

 

Was ist das überhaupt für ein Ding? Sprachgeschichtlich uralt, neben dem Pronomen der nächste Verwandte des Nomens, will es dekliniert werden wie der große Bruder und seine eigentliche Aufgabe ist es, sich vor das Nomen zu stellen, um es zu spezifizieren: eine Blume - eine blaue Blume; ein Leser - ein konzentrierter Leser. Das Adjektiv ist so was wie das farbige Kleid des Nomens. Mit dem Adjektiv wissen wir mehr über das Nomen als ohne.

 

An dieser Stelle erklären Sprachratgeber gern und im Chor: Zuviel Wissen schadet der Phantasie! Seid sparsam mit Adjektiven!

Haben Sie Recht?

 

Wenn man davon ausgeht, dass die Phantasie nicht - sowenig wie die allgemeine Wahrnehmung von Kunst (darauf haben AndreasG und Charlie schon hingewiesen) - zu allen Zeiten quasi genetisch am Menschen dranhängt, sondern Gewohnheiten ausgebildet werden, die wiederum auf dem Kontakt zu bislang unbekannten Größen wie anderen Kulturen oder technischem Fortschritt beruhen - wenn man davon ausgeht, dann wird man diesem Rat seine Berechtigung zugestehen, allerdings nicht als absolutes Gesetz, sondern als Reflex auf Wahrnehmungsgewohnheiten, die ein Verfallsdatum haben.

 

In der Bildenden Kunst ist ein ähnlicher Fortschritt zu beobachten: Wer sich die alten Meister ansieht, von den farbenprächtigen Heiligendarstellungen ganz früh über die Niederländer im 17. Jahrhundert, wo die Farben weniger prächtig sein wollten als naturgenau und wo jeder Schatten gemalt wurde, den ein Brotkrümel auf der Damasttischdecke wirft - der hat - erlaubt mir mal die Analogie zur Welt der Wörter - im sprachlichen Sinn so was wie eine Blumenwiese voller Adjektive vor sich. Mit Aufkommen der Fotografie - es ist ja kein Zufall, dass das zeitlich zusammenfällt - stellt sich der Impressionismus andere Aufgaben als das realistische Abbilden. Und damit lösen sich die Konturen auf, es wird nicht mehr bis in jede letzte Ecke eine eindeutige Farbe gepinselt, die Ränder werden unscharf, die Phantasie des betrachtenden Subjekts soll sich auf das Bild konzentrieren und die Blumen quasi selber auf die Wiese pflanzen.

 

In vergleichbarer Weise sind wir heute beim Lesen durchaus auf eine mindestens halbgemähte Wiese gefasst. Moderne Schriftsteller pflegen oft (nicht immer, es gibt auch Gegenbeispiele wie Updike oder im Nachbarthread diskutierte Rothmann) eine asketische Haltung zum Adjektiv. Nur mal zur Illustration ein Moderner, nämlich Patrick Süskind. Der Textausschnitt ist der Anfang des Romans "Die Taube":

 

Als ihm die Sache mit der Taube widerfuhr, die seine Existenz von einem Tag zum andern aus den Angeln hob, war Jonathan Noel schon über fünfzig Jahre alt, er blickte auf eine wohl zwanzigjährige Zeitspanne von vollkommener Ereignislosigkeit zurück und hätte niemals mehr damit gerechnet, dass ihm überhaupt noch irgend etwas anderes Wesentliches würde widerfahren können als dereinst der Tod. Und das war ihm durchaus recht.

 

Zwei Sätze wie bei Kracht. Wie viele Adjektive? Zwei!

 

Dass ein Süskind so sparsam ist und ein Thomas Mann so opulent, hat Gründe, die in ihrer literarischen Umgebung und in ihrer Schreibabsicht liegen.

Vielleicht trage ich mit solchen Auskünften ja Eulen nach Athen, ich wollte sie aber gemacht haben, damit der Hintergrund mal hier im Raum steht, vor dem sich die Adjektive in unserem Textanfang so deutlich abheben.

 

Und auch, um eins sehr deutlich zu sagen: Wenn ein Künstler den Pinsel mal hingelegt hat, dann ist sein Bild fertig. Man mag es gering schätzen, man kann es parodieren - aber nachträglich Änderungen vorzuschlagen, das wäre so, als wollte man einem japanischen Holzschnitt die Farben heraus operieren oder Dürers Hasen das Fell auszupfen, um dann zu sagen: So. Jetzt ist es für mich viel einfacher anzuschauen. Das ginge an dem, was der Künstler gemacht hat, komplett vorbei und wäre nebenbei gesagt ein Verbrechen.

 

Dies zum Background, dann sehen wir uns jetzt nochmal die Adjektve bei Kracht an.

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

www.angelika-jodl.de

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Und auch, um eins sehr deutlich zu sagen: Wenn ein Künstler den Pinsel mal hingelegt hat, dann ist sein Bild fertig. Man mag es gering schätzen, man kann es parodieren - aber nachträglich Änderungen vorzuschlagen, das wäre so, als wollte man einem japanischen Holzschnitt die Farben heraus operieren oder Dürers Hasen das Fell auszupfen, um dann zu sagen: So. Jetzt ist es für mich viel einfacher anzuschauen. Das ginge an dem, was der Künstler gemacht hat, komplett vorbei und wäre nebenbei gesagt ein Verbrechen.

Aber ein sehr lehrreiches, weil es deutlich zeigt, was der Künstler getan hat. Jurenkas Änderungen machen für mich deutlicher, wie Kracht arbeitet. Und dass man den Text nicht einfach ändern kann - da müsste man ihn komplett anders schreiben und es wäre eben ein anderer Roman.

 

Noch was zu den Adjektiven, Mark Twain hat ja diesen Satz gesagt: Wenn Sie ein Adjektiv treffen, bringen Sie es um!

 

Allerdings hat er das dann auch erläutert: Dass sich viele Adjektive oft gegenseitig schwächen. Und dass das vor allem dort passiert, wo die Adjektive gar nichts sagen.

 

Ein schöner, weißer Dampfer zieht seine stolzen, vorantreibenden herrlichen Bahnen durch das blaue, nasse, wässrige Meer: Da lohnt sich das Umbringen wirklich.

 

herzliche Grüße

 

Hans Peter

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Ich finde auch nichts dabei, probeweise die Adjektive wegzunehmen und die Sätze umzubauen, um zu sehen, wie die Wirkung ist. Daran lernt man doch. Vermutlich wird man sehen, dass diese Sätze, so, wie er sie geschrieben hat, besser sind als die anderen Varianten, aber das übt doch.

 

Viele Grüße

Annette

http://annette-amrhein.de/

Ein Beitrag in "Zeit zum Genießen",  Insel Verlag 2021 

ebook für Kinder: 24 Geschichten für Weihnachten und Advent, amazon

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Annette hatte gestern schon auf die Melodie der Sätze in "Imperium" hingewiesen und ich sagte, dass die Adjektive dabei ihre Rolle spielen. Nicht nur das, sie sorgen - durch Klang wie Bedeutung - auch für eine Dynamik im Verhältnis der beiden Sätze und läuten so schon ein klein wenig das Thema ein.

 

Deshalb würde ich jetzt die beiden Sätze getrennt ansehen:

 

Erster Satz

Unter den langen weißen Wolken, unter der prächtigen Sonne, unter dem hellen Firmament, da war erst ein langgedehntes Tuten zu hören, dann rief die Schiffsglocke eindringlich zum Mittag, und ein malayischer Boy schritt sanftfüßig und leise das Oberdeck ab, um jene Passagiere mit behutsamem Schulterdruck aufzuwecken, die gleich nach dem Frühstück wieder eingeschlafen waren.

 

Lange weiße Wolken, prächtige Sonne, helles Firmament.

Jedes der drei Nomen hat ein Adjektiv vornweg, eins sogar zwei. Das ist ein Bild, an dem (wie beim Cover übrigens, das viele an "Tim und Struppi" erinnert) die Farben bis zum Rand gepinselt wurden, für die Phantasie bleibt nicht viel hinzuzutun. Wie wirkt das Bild auf uns? Auf mich - heile Welt. Bilderbuchlandschaft. Alles wunderbar an diesem Ort. Himmel - blau, Sonne - strahlt, Wolken - weiß. Und lang. Wieso auch noch lang? Weil dieses Bild zum Eindruck passt, den die nächsten Attribute vermitteln: ein langgedehntes Tuten. Alles streckt sich. Oben die Wolken, unten der Laut, jetzt kommt der malayische Boy ins Blickfeld, geht da oben in eine Richtung, dem Schiffskörper folgend, und seine Bewegungen: sanftfüßig, leise, behutsam.

 

Ich habe bei diesem ersten Satz zunehmend den Eindruck von: Alles ist hier horizontal. Gestreckt, lang. Und schön und still. So sieht es aus in diesen Gefielden.

 

Und dann kommt der zweite Satz:

Der Norddeutsche Lloyd, Gott verfluche ihn, sorgte jeden Morgen, reiste man denn in der ersten Klasse, durch das Können langbezopfter chinesischer Köche für herrliche Alphonso-Mangos aus Ceylon, der Länge nach aufgeschnitten und kunstvoll arrangiert, für Spiegeleier mit Speck, dazu scharf eingelegte Hühnerbrust, Garnelen, aromatischen Reis und ein kräftiges englisches Porter Bier.

 

Auch wenns ein Namensbestandteil ist - für sich ist ein Adjektiv und das erste gleich dazu: norddeutsch. Hoppla. da kommt was, das gehört da eigentlich nicht hin. Eine erste Klasse gibt es. Auch nichts, was eine paradiesische Natur so vorgibt. Geladen hat es Leute aus wiederum einer anderen Weltgegend, nämlich China, und die sind dafür da, dass die reisenden Herrschaften das üppigste und beste Mahl bekommen. Die Mangos sind nicht irgendwelche, sondern richtige Königsfrüchte; die weißen Passagiere müssen sich keine Mühe mehr machen, man hat sie ihnen aufgeschnitten und arrangiert und auch beim restlichen Essen wurde überall Hand angelegt und nur das Beste - und wenn man es aus dem fernen Europa herbeiholen muss - serviert.

 

Kommt da nicht ein wenig die Frage auf, ob das gut gehen kann?

Paradies und Eindringling. Schöne, zärtliche Natur und Leute, die sie gar nicht genießen, sondern ihre Extrawürste brauchen?

 

Schauen wir uns nochmal die Adjektive nach ihrem Klang an?

 

lang, weiß, prächtig, langgedehnt, sanftfüßig, leise, behutsam

 

Zwei Diphtonge, alle Vokale (im Wortstamm natürlich, nicht in Vor- oder Nachsilben) sind lang zu sprechen. Die hier nicht:

 

norddeutsch, erst, langbezopft, herrlich, aufgeschnitten, arrangiert, scharf, aromatisch, kräftig

 

Da haben wir eine stattliche Anzahl von Doppelkonsonanten, die einen Vokal als kurz markieren. Marsch, marsch - die deutschen Herren reiten ein!

 

Ich weiß, dass man so etwas überreizen kann, es ist auch nicht notwendig, jedes Wort so sehr auf die Goldwaage zu legen wie umgekehrt es so stimmig zu komponieren. Aber eine Tendenz in diese Richtung nehme ich wahr. Geht es euch auch so?

 

Die Unruhe, die für den zweiten Satz ausgerufen wurde - sie stimmt ja. Bloß nicht als Urteil in Sachen "Unlesbarkeit", sondern hier will Unruhe beschrieben sein.

 

Gut. Bis hierher. Ich denke, inzwischen ist längst klar, dass hier nicht einem unbeholfenen Schreibanfänger der Topf mit den Adjektiven umgefallen ist, die sich jetzt haltlos über seinen Text verbreiten, sondern dass dieser Stil gewollt ist und aus einem besonderen Grund gewählt wurde. Welcher Stil genau? Und was ist der Grund oder könnte es sein?

 

Erstmal bisschen Pause,

Angelika

 

P.S. jetzt erst sehe ich eure Postings. Vielen Dank! Ich lese sie gleich, kommentieren kann ich sie aber erst wieder heute Abend,

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

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Eigentlich hat Kracht ja nicht viele BIlder, es ist ein Dampfer auf dem stillen Ozean mit viel Luxus. Das ist ein Bild und für mich fügt sich das, was Kracht schreibt, auch zu einem Bild zusammen. Nicht zu vielen.

 

Aber da gibt es schon ein Problem. Heutige Leser möchten (behaupte ich jetzt mal) ihre Bilder selbst entwickeln. Eine Skizze, das Bild entwickelt sich daraus im Kopf des Lesers. Grosz, nicht Rubens. Skizze nicht barocke Detailfreude.

 

Und ich glaube, genau das führt zu den unterschiedlichen Wahrnehmungen. Wer bereits nach dem ersten Halbsatz sein Bild im Kopf hat, der fühlt sich gestört, wenn der Dichter da weiter drin rummalt, der hat schnell einen Haufen Bilder im Kopf und sagt: Hält der mich für blöd, ich hab das Bild Luxusdampfer im Pazifik bereits im Kopf, ich brauch das alles nicht.

Wenn es wirklich nur darum ginge, diese Information rüberzubringen: Luxusdampfer im Pazifik - dann würde es derart viele Worte wirklich nicht brauchen. Aber da ist doch so viel mehr. Angefangen mit der Zeit, in der das spielt (man soll doch gerade nicht ein modernes Traumschiff vor sich sehen!) Vor allem aber markiert gleich der Anfang doch einen ganz bestimmten Tonfall. Anders gesagt: Hier wird mir nicht nur ein hübsches Bild vor Augen geführt, sondern dieses Bild wird mit wenigen Wörtern in ein verfremdendes, ironisierendes, zugleich die Farben und Kontraste verstärkendes Licht gesetzt. Das möchte ich echt sehen, wie man das mit noch weniger Worten schaffen soll.

 

Herzliche Grüße

 

Barbara

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, sondern dieses Bild wird mit wenigen Wörtern in ein verfremdendes, ironisierendes, zugleich die Farben und Kontraste verstärkendes Licht gesetzt. Das möchte ich echt sehen, wie man das mit noch weniger Worten schaffen soll.

 

 

Diesen Satz finde ich sehr treffend. Spracheffizienz kommt hier in meinen Augen vor allem dadurch zustande, weil jedes Wort in einem Schwung zu verschiedenen Effekten beitraegt. Dadurch entsteht mir zwar ein Eindruck von Fuelle, aber keineswegs von Ueberladenheit.

 

Herzlich,

Charlie

"Der soll was anderes kaufen. Kann der nicht Paris kaufen? Ach nein, in Paris regnet's ja jetzt auch."

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Wenn es wirklich nur darum ginge, diese Information rüberzubringen: Luxusdampfer im Pazifik - dann würde es derart viele Worte wirklich nicht brauchen. Aber da ist doch so viel mehr. Angefangen mit der Zeit, in der das spielt (man soll doch gerade nicht ein modernes Traumschiff vor sich sehen!) Vor allem aber markiert gleich der Anfang doch einen ganz bestimmten Tonfall. Anders gesagt: Hier wird mir nicht nur ein hübsches Bild vor Augen geführt, sondern dieses Bild wird mit wenigen Wörtern in ein verfremdendes, ironisierendes, zugleich die Farben und Kontraste verstärkendes Licht gesetzt. Das möchte ich echt sehen, wie man das mit noch weniger Worten schaffen soll.

 

Dem möchte ich mich anschließen. Ich hätte vielleicht ein Bild von einem Ozeandampfer dieser Zeit, würde aber dieses Licht und diese Bewegungen nicht sehen. Finde ich einmalig. Und die Analyse zeigt mir genau das auf, was mir beim Lesen des Absatzes passiert ist.

 

Herzliche Grüße

Christa

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Auch wenns ein Namensbestandteil ist - für sich ist ein Adjektiv und das erste gleich dazu: norddeutsch. Hoppla. da kommt was, das gehört da eigentlich nicht hin. Eine erste Klasse gibt es. Auch nichts, was eine paradiesische Natur so vorgibt. Geladen hat es Leute aus wiederum einer anderen Weltgegend, nämlich China, und die sind dafür da, dass die reisenden Herrschaften das üppigste und beste Mahl bekommen. Die Mangos sind nicht irgendwelche, sondern richtige Königsfrüchte; die weißen Passagiere müssen sich keine Mühe mehr machen, man hat sie ihnen aufgeschnitten und arrangiert und auch beim restlichen Essen wurde überall Hand angelegt und nur das Beste - und wenn man es aus dem fernen Europa herbeiholen muss - serviert.

 

Kommt da nicht ein wenig die Frage auf, ob das gut gehen kann?

Paradies und Eindringling. Schöne, zärtliche Natur und Leute, die sie gar nicht genießen, sondern ihre Extrawürste brauchen?

Aber manch Zeitgenosse des Kaiserreiches würde hier gar keinen Bruch sehen, sondern immer noch heile Welt. Weil sich das so gehört, weil es so schön ist. Und manch heutiger Leser wird das auch tun, wett ich. Kreuzfahrromantik, da hat man eben dienstbare Geister (auch heute), nur sind die heute nicht mehr langbezopft.

 

Worauf ich hinauswill: Diese Ironie liegt im Leser, nicht notwendigerweise im Text (obwohl ich glaube, dass Kracht Ironie beabsichtigte). Aber das, was wir hier als Ironie wahrnehmen, würden andere ganz anders wahrnehmen.

 

BarbaraS schrieb:

Wenn es wirklich nur darum ginge, diese Information rüberzubringen: Luxusdampfer im Pazifik - dann würde es derart viele Worte wirklich nicht brauchen. Aber da ist doch so viel mehr. Angefangen mit der Zeit, in der das spielt (man soll doch gerade nicht ein modernes Traumschiff vor sich sehen!) Vor allem aber markiert gleich der Anfang doch einen ganz bestimmten Tonfall. Anders gesagt: Hier wird mir nicht nur ein hübsches Bild vor Augen geführt, sondern dieses Bild wird mit wenigen Wörtern in ein verfremdendes, ironisierendes, zugleich die Farben und Kontraste verstärkendes Licht gesetzt. Das möchte ich echt sehen, wie man das mit noch weniger Worten schaffen soll.

Georg Grosz könnte es. Leider bin ich nicht Georg Grosz. :s22. Du hast recht, bei den Details geht es nicht nur darum, "Infos" rüberzubringen. Kracht schreibt ja keinen Infodump, Rubens malte seine Bilder ja nicht aus, weil er ein Infomaniac war.

 

Aber ich glaube nicht, dass Krachts Methode die einzig mögliche ist, ganz egal, wie genial sie ist. Du kannst die gleiche Geschichte immer auf verschiedene Weisen erzählen. Romeo und Julia ist auf hundert verschiedene Arten erzählt worden, Die neuen Leiden des jungen W haben Goethes Werther anders und doch gleich auferstehen lassen.

 

Natürlich wären das andere Romane, gar kein Zweifel. Aber man die gleiche Geschichte auf sehr unterschiedliche Arten erzählen. In diesem Fall gibt es ja sogar ein anderes Buch, dass die gleiche Geschichte erzählt.

 

herzliche Grüße

 

Hans Peter

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Aber manch Zeitgenosse des Kaiserreiches würde hier gar keinen Bruch sehen, sondern immer noch heile Welt. Weil sich das so gehört, weil es so schön ist.

 

Heilgs Blechle  - jetzt sag ich doch noch schnell was: Für den wurde es aber nicht geschrieben, Hans-Peter! Sondern für uns Heutige (die natürlich schon wissen, dass das mit den Kolonien so seine Härten hatte).

 

Kann man vielleicht mal alles "würde" und "wäre" aus den Diskussionen nehmen? Was wäre, wenn Grosz das gemalt hätte. Wie würde es sich ausnehmen, wenn ich ein bisschen daran herumfeile? Anders würde es aussehen, aber das ist ja jetzt keine große Erkenntnis. Wir sprechen doch hier über DIESEN Text. Ich hab auch nichts dagegen, wenn einer damit herumspielen möchte - soll ers halt tun! Aber das bringt für die Erkenntnis -  warum schreibt der Mann so, wie er es tut und wie wirkt es? - gar nix.

 

 

Barbara - du sagst es! Charlie und Christa haben dir ja schon zugestimmt. Ich tus auch.

 

Angelika schon in den Stiefeln

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

www.angelika-jodl.de

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Aber man die gleiche Geschichte auf sehr unterschiedliche Arten erzählen.

Wenn du nur den Inhalt meinst, also die Ereignisse, Setting etc., stimmt das natürlich. Aber ich spreche doch gerade von denjenigen Dinge, die über die reine Vermittlung von Fakten hinausgehen.

 

Schöne Grüße

 

Barbara

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Kann man vielleicht mal alles "würde" und "wäre" aus den Diskussionen nehmen? Was wäre' date=' wenn Grosz das gemalt hätte. Wie würde es sich ausnehmen, wenn ich ein bisschen daran herumfeile?[/quote']

Okay, ich habe verstanden und bin weg.

 

Aber dann nennt bitte den Thread um, den euch geht es gar nicht um Stilfragen.

 

Hans Peter

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Aber ich glaube nicht, dass Krachts Methode die einzig mögliche ist, ganz egal, wie genial sie ist. Du kannst die gleiche Geschichte immer auf verschiedene Weisen erzählen.

 

Aber das hat doch auch niemand zu irgendeiner Zeit gesagt! Ich habe jetzt eben noch mal - mit großer Begeisterung! - den ganzen Thread gelesen. Und alles, was Angelika macht, ist uns aufzuzeigen, wie Kracht das in SEINEM Text gemacht hat. Es geht doch jetzt grade nur um diesen einen Text und nicht darum, wie man es noch hätte anders machen können. Das man das kann, steht doch außer Frage! Und: Das ist doch gerade Stilkunde, dass man untersucht, wie hat dieser Text diese Geschichte erzählt. Mit welchem Stil?

 

Und: Haben wir nicht ein unverschämtes Glück, dass so eine Fachfrau für Sprache wie Angelika bereit ist, uns mit großem Zeitaufwand und viel Arbeit, das alles auf so aufschlussreiche und lehrreiche Art aufzudröseln? Man muss natürlich nicht ihrer Meinung sein - aber wenn schon mal jemand mit so viel Ahnung von Sprache vor mir das Büffet ausbreitet, dann schau ich mir doch erstmal an, was ich da vielleicht für mich rausziehen und lernen kann. Oder nicht? Angelikas Analyse der beiden Sätze - z.B. die verschiedenen Klänge der Adjektive und was dadurch erzeugt wird - das finde ich einfach nur klasse. Natürlich sind das alles subtile Mittel - aber sie wirken, die Hektik und Unruhe im 2. Satz wurde ja wahrgenommen.

 

Und was ich an diesem Thread auch klasse finde: er zeigt meiner Meinung nach eindrucksvoll auf, wie machtvoll unser Medium ist, wie wunderbar vielseitig und vielschichtig.

 

Danke, Angelika!

 

Liebe Grüße

Lisa, grade wieder schwer verliebt in die Sprache

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Hallo zusammen,

 

ich möchte es bei diesem Text mal mit einer Analogie zur Kunst versuchen.

 

In den meisten Beschreibungen wird im Prinzip ein Bild oder Foto abgebildet. Die Besonderheit bei diesen literarischen Texten ist, dass seit der Biedermeierzeit/ Stifter niemand mehr ein Bild oder ein Foto in jedem Detail beschreibt. Die Autoren erwarten vom Leser, dass er einige wenige Details mit seinem eigenen Wissen und Kenntnissen ausmalt, u.a. weil die Leser natürlich über umfangreiches Wissen verfügen, wie so etwas üblicherweise aussieht und weil der Leser so das Buch und dessen Bilder an seine Vorstellung und Geschmack anpasst, ergänzt und erweitert.

Die genannten Einzelheiten variieren beträchtlich: Die meisten Autoren nennen übliche Elemente oder Details, die den Leser anregen sollen, seine eigenen Vorstellungen und Geschmack einzubringen. Andere Autoren nennen außergewöhnliche Details, die eine Reihe Assoziationen wecken: bspw. Thomas Mann bei seiner Namenswahl Antonio Kröger (ein ungewöhnlicher Name und ein gewöhnlicher) oder indem er Figuren über ein charakteristisches Detail beschreibt.

 

Es gibt aber auch drei alternative Verwendungsweisen.

 

In der einen Verwendungsweise wird in Beschreibungen "moderne Kunst" verwendet: Die Beschreibungen orientieren sich nicht an Fotos, sondern an Emotionen, umgesetzt in "moderner Kunst". Es gibt bestimmte Beschreibungen der Großstadt von R.M. Rilke, in denen Beschreibungen verwendet werden, um eine bestimmte verlorene oder beängstigende Stimmung wie in surrealen Gemälden zu erzielen. Hierbei müssen deutlich mehr Details und (damit auch Adjektive) verwendet werden, um einen Effekt zu erzielen- und die Adjektive müssen oft die Nebenbedeutung tragen, die sich über das Bild "aufladen", bspw. ergänzen zu dem surrealen Bild.

In gewisser Weise ist das bei Kraft auch so: Sein Bild ist im ersten Augenblick ein Foto: aber das eigentliche Ziel ist nicht die fotografische Qualität der Bilder, sondern die damit einhergehenden Emotionen- und die Widersprüche, die unsere Sichtweise auf diese Zeit prägen. Deshalb ergänzt er das Bild mit dem "malayischen Boy" und den "langbezopften, chinesischen Köchen", die zwar auch eine bildliche Qualität haben, aber weit mehr Nebenbedeutung.

 

Die dritte Vorgehensweise bei Beschreibungen ist die "alte Kunst", oft im Umweg über den Topos ("Allgemeinplatz") oder Archetyp. Hier genügen sehr wenig Details oder Adjektive, weil dieser Allgemeinplatz oder der Rembrandt/ Tizian/ Goethe/ ... eben als bekannt vorausgesetzt werden. Ein Beispiel erspare ich mir, weil die "Hure mit dem goldenen Herzen", der "weise Ratgeber", der "Narr" ebenso wie das Augenklischee oder die Wetter- Emotionsübertragung allgemein bekannt sind.

 

Der vierte Weg ist die Analogie: Wenn ein Autor voraussetzt, dass der Leser eine Sache nicht kennt und er sie eigentlich umfänglich nach Variante 1 beschreiben müsste, dies aber den Rahmen sprengen würde, greift er auf die Analogie zurück. Da wird die phantastische Welt einer "fremden Erde" mit Wesen besetzt, die ganz anders aussehen als Hasen, aber sich so verhalten. Die gesellschaftlichen Verhältnisse des Mittelalters werden mit einer Tischordnung dargestellt, um es wesentlich zu vereinfachen,... Die "große Variante" ist es einen ganzen Roman als Analogie zu schreiben, siehe Hemingways "Der alte Mann und das Meer".

 

Die fünfte Variante ist der Verzicht: etwas, was eigentlich zu beschreiben ist, wird nicht beschrieben, sondern nur angerissen, angedeutet und vorweggenommen wird. Dies wird z.B. gerne bei Beschreibungen gemacht, wo keine Beschreibung so "gut" sein kann, wie die Vorstellungskraft des Lesers, bspw. wo die Beschreibung eigentlich keinen Mehrwert bedeutet. Klassisch sind hier Gewaltszenen oder Sexszenen. Eine alternative Verwendung ist die Variante eine zentrale Stelle auszulassen, und diese in Dialogen,... zu schildern.

 

Diese grundsätzlichen Beschreibungsarten tauchen eigentlich in den meisten Romanen auf, der Unterschied ist nur, wie stark welche Beschreibungarten verwendet werden. Gerade beim "Weltenbau" in Fantasy, HR und SF ist es sehr wichtig, viele Topoi und Analogien zu verwenden, weil man den Leser eben nicht mit seitenlangen Beschreibungen langweilen möchte. Die Beschreibungen im Stil des "modernen Romans" oder der emotional aufgeladenen Beschreibungen wird meisten wenig verwendet- weil sie anspruchsvoll ist und einen besonderen Mehrwert "nur" bei zentralen Stellen bietet- wenn man den Inhalt/Plot/ Handlung in das Zentrum stellt. Bei den "Auslassungen" ist es ähnlich, weil dies als Mittel für weitere Szenen, abseits von Gewalt und Sex, nur selten verwendet wird- und dann als literarisches Stilmittel.

 

Bei Romanen wie Krachts "Imperium" besteht der Roman aus der eigentlichen Handlung mit einer zeitgenössischen, kritischen Schilderung und aus einer weiteren Ebene, die in Kontrast zu beiden gesetzt ist. Dazu ist es notwendig diese zweite Ebene permanent in alle Szenen einzusetzen, um diesen Effekt zu erzielen. Das mindert die "Lesbarkeit", weil der Leser eben diese zweite Ebene mitverfolgen muss, um das Gesamtkonstrukt "mitzunehmen", er erhält dafür diese zweite Ebene als "Belohnung".

Wenn Kraft diese permanente, zweite Ebene nicht so ausführlich verwenden würde, wäre sein Roman "nur" ein historischer Roman, der kritisch die Handlung aus zeitgenössischer beleuchtet und die zweite Ebene andeutet. Aber die zweite Ebene ist für Kraft zentral, weil er eben keinen historischen Roman geschrieben hat, sondern einen Roman über ein Zeitphänomen, dass einen Ausblick auf unsere Zeit erlaubt.

 

Gruss

 

Thomas

"Als meine Augen alles // gesehen hatten // kehrten sie zurück // zur weißen Chrysantheme". Matsuo Basho

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Und: Haben wir nicht ein unverschämtes Glück' date=' dass so eine Fachfrau für Sprache wie Angelika bereit ist, uns mit großem Zeitaufwand und viel Arbeit, das alles auf so aufschlussreiche und lehrreiche Art aufzudröseln?[/quote']

 

Exakt so empfinde ich das auch.

Danke und Grüße,

 

Holger

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Dass ein Süskind so sparsam ist und ein Thomas Mann so opulent, hat Gründe, die in ihrer literarischen Umgebung und in ihrer Schreibabsicht liegen.

 

Ich habe in meinem Regal noch ein Beispiel für einen modernen Schriftsteller gefunden, der relativ viele Adjektive schon in den ersten beiden Sätzen verwendet: Hanns-Josef Ortheil, "Das Licht der Lagune".

 

An einem klaren, windstillen Abend des Jahres 1786 erkannte der Conte Paolo di Barbaro, der mit einer kleinen Schar von Jägern in einem entlegenen Teil der Lagune auf Entenjagd war, in den fernen Schiflmatten die Umrisse eines Bootes. Im ersten Augenblick glaubte er noch, sich zu täuschen, doch als er auch bei genauerem Hinschauen die dunklen, im Abendsonnenlicht zitternden Formen wahrnahm, machte er seine Begleiter auf die seltsame Erscheinung aufmerksam.

 

Dem Dank an Angelika und Thomas schließe ich mich an.

Schon jetzt habe ich viel über Adjektive gelernt, dass es eben welche gibt, die absolut überflüssig sind und solche, die dem Nomen und selbst der gesamten Geschichte eine tiefere, auch vorausweisende Bedeutung verleihen können.

 

Herzliche Grüße

Christa

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Guten Abend allerseits,

 

ich versuche mich mal an die Reihenfolge der Postings zu halten und entschuldige mich, wenn ich einen wichtigen Gedanken vergessen habe:

 

@jueb - du wirst lachen: Thematik und Gestus liegen mir auch nicht! Ich will ja auch mit dieser ganzen Aufdröselei gar nicht erreichen, dass jemand, der das Buch vorher nicht mochte, jetzt irgendwie missioniert würde. Ich wollte nur wissen, was jemand im Sinn hat, der so gegen die Mode schreibt, welche Mittel er einsetzt und wie die wirken können. Und darüber hinaus mal überhaupt etwas zu dem armen Adjektiv sagen.

 

@Ulf - Den gleichen Gedanken wollte ich auch an dich adressieren, Ulf: Es ist völlig in Ordnung, wenn dir das Buch nicht gefällt, dafür braucht es doch keine Rechtfertigung. Na, das besprechen wir ja alles wie gesagt beim Ouzo.

 

@Hans-Peter - huch, was ist denn jetzt passiert? Habe ich irgendwie angedeutet, du solltest den Raum verlassen? Soweit ich weiß, habe ich darum gebeten, Spekulationen über Möglichkeiten sein zu lassen, wenn es doch schon mal um ein Wirklichkeit geht. Indikativ please statt Konjunktiv!

 

@Christa - ja, das schwebte mir schon auch vor , noch ein paar Textbeispiele mehr, ein bisschen sammeln rund ums Adjektiv: Wie hält es dieser damit, wie jener? Danke schon mal!

 

@Thomas - dito. Das ist natürlich noch ein ganz anderer, sicher überaus fruchtbarer Diskussionszweig: Den Genres entlang zum Adjektiv. Wer da was weiß, immer gerne, da habe ich jetzt weniger Ahnung.

 

@Lisa und Holger - schönen Dank für eure netten Worte, freut mich, wenn man so mitgeht natürlich!

 

@Barbara und Charlie - ihr habt jetzt beide schon die Ironie ins Spiel gebracht. Ich zitiere:

 

Vor allem aber markiert gleich der Anfang doch einen ganz bestimmten Tonfall. Anders gesagt: Hier wird mir nicht nur ein hübsches Bild vor Augen geführt' date=' sondern dieses Bild wird mit wenigen Wörtern in ein verfremdendes, ironisierendes, zugleich die Farben und Kontraste verstärkendes Licht gesetzt. [/quote']

 

Auch Annette hat von comicartigem Schreibstil gesprochen und das in Bezug zur Ironie gesetzt. Annettes und Charlies postings sind so weit unten, dass ich nicht an die Zitierfunktion komme, aber ihr erinnert euch?

 

Könnt ihr noch was zu der von euch festgestellten Ironie sagen? Ich hätte mir als nächstes die allgemeine Geschichte in Sachen Stil bei Kracht vorgeknöpft, also über Syntax und Adjektiv hinaus. Und dann hätten wir vielleicht den Erzähler mit seinem Ton am Schlawattl. Mit seinem ironischen Ton.

 

Ich suche jetzt nach einer geeigneten Textstelle im Roman und melde mich später nochmal.

 

Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

www.angelika-jodl.de

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Für mich klingt bereits in den ersten zwei Sätzen ein ironischer Unterton an, und das wäre für mich - im Fall eines solchen Buches - auch ein Antrieb weiter zu lesen, um nämlich herauszufinden, ob dieser Eindruck im Weiteren widerlegt oder bestätigt wird.

 

Herzlichst

jueb

"Dem von zwei Künstlern geschaffenen Werk wohnt ein Prinzip der Täuschung und Simulation inne."  

AT "Aus Liebe Stahl. Eine Künstlerehe."

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Ich kann auch nur zu den ersten Sätzen etwas sagen, stimme aber (das wird euch überraschen ;)) jueb zu: Schon hier klingt die Ironie deutlich an. Zum Beispiel empfinde ich dieses "Gott verfluche ihn" als klaren Hinweis auf einen Erzähler, der nicht nur in farbenfrohen Bildern zu schwelgen plant.

 

Schöne Grüße

 

Barbara

die auch längst neugierig auf dieses Buch ist

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Zum Beispiel empfinde ich dieses "Gott verfluche ihn" als klaren Hinweis auf einen Erzähler' date=' der nicht nur in farbenfrohen Bildern zu schwelgen plant.[/quote']

 

Über den habe ich heute Mittag schon nachgedacht. Ich tippe darauf, dass er immer wieder in Erscheinung treten und kommentieren wird, denn ich habe ihn beim realen Blick ins Buch in der Buchhandlung schon ein paarmal hervorblitzen sehen.

 

Herzlichst

Christa

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Angelika,

 

ich möchte mich auch bei dir für deine Analyse bedanken, die ich mit grossem Gewinn verfolge.

 

Sehr schön fand ich die Gegenüerstellung der unterschiedlichen Adjektive im ersten und zweiten Satz.

 

Kurz noch mein Eindruck von der Bewegung, die diese beiden Sätze erzeugen, quasi eine Kamerafahrt :

Im ersten Satz befinde ich mich noch in gewisser Entfernung vom Geschehen. Der sanftfüssige Boy bringt mich schon in die Szene hinein, und wenn der Erzähler zum Essen kommt und sein "Insiderwissen" schildert (Art der Mangos, wer sie zubereitet), bin ich mitten drin im Leben an Bord. Und dieses geschmeidige Geiten gelingt Kracht mit nur zwei Sätzen, grossartig!

 

Mascha

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Ja, Mascha, wie der Beginn in vielen Filmen. So gehen etliche Szenen los. Dies und - ich denke tatsächlich auch die Verwendung der vielen plastischen (!) Adjektive - hat dem Buch wohl auch das vielstimmige Lob eingebracht, es sei "süffig" zu lesen.

 

Habt ihr Lust, noch ein wenig über das Sprachliche hinaus zu besprechen? Drei Punkte würden mich noch sehr interessieren:

 

- die Figur des Erzählers - ja, Christa, der ist ziemlich lautstark vorhanden!

- die schon angesprochene Ironie

- das Kompositionsprinzip in diesem Buch. Die Übergänge zwischen den Szenen und Kapiteln, das Wiederaufnehmen von Bildern; etwa am Schluss. Da wird der Leser einem - zumindest uns hier inzwischen sehr - vertrauten Bild wieder begegnen.

 

Ich hätte zum Abschluss der sprachanalytischen Abteilung noch ein Zitat da, an dem sich mehr sehen lässt als nur die Geschichte mit den Adjektiven.

 

Übrigens muss das hier keine Vorlesung meinerseits werden. Ich habe bis jetzt relativ viel gelabert, weil ich halt im linguistischen Bereich meine Spezialinstrumente habe, aber auch, weil bisher außer mir, scheint es, noch nicht viele das Buch ganz oder überhaupt gelesen haben. Vielleicht hat sich das ja inzwischen schon geändert. Dann bitte her mit den Zitaten und Kommentaren eurerseits! Mehr Augen sehen mehr.

 

Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

www.angelika-jodl.de

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Hier ein längeres Zitat, aus dem sich eine Reihe weiterer Aspekte zu dem sehen lassen, was als eigentümlicher Stil von der Kritik (so oder so) ausgemacht wurde.

 

Die Szene spielt sich ganz zu Anfang ab. Wir sind immer noch auf dem Schiff des Norddeutschen Lloyd, auf der "Prinz Waldemar". Der Protagonist, der "junge August Engelhardt aus Nürnberg, Bartträger, Vegetarier, Nudist" sitzt in einem Deckstuhl und liest in einem Buch, nämlich "Schlickeysens Standardwerk Obst und Brot", beobachtet von den mitreisenden deutschen Pflanzern, die den Typ nach seinem Aussehen, der Gewandung und dem Zeug, das er zu sich nimmt (Heilerde) für unmöglich halten. Und nun kommt es auf p. 21f zu einer ersten Begegnung:

 

Ein Herr im weißen Tropenanzug und Zwicker näherte sich ihm, einer, der obgleich leibesvoll, nicht ganz so stumpf schien wie seine Kollegen, und Engelhardt war augenblicklich von jener fast krankhaften Schüchternheit ergriffen, die stets von ihm Besitz nahm, wenn er auf Menschen traf, die von sich und der Richtigkeit ihres Tuns vollkommen überzeugt waren, Ob er denn wisse, wie der Lehnstuhl genannt werde, auf dem Engelhardt und die anderen Passagiere die Nachmittage an Deck wegdämmerten? Engelhardt verneinte stumm und senkte den Kopf, um auszudrücken, er wolle sich wieder in den Schlickeysen vertiefen, aber der Pflanzer, der sich jetzt mit einer minuskülen Verbeugung als Herr Hartmut Otto vorstellte, trat nun noch einen Schritt näher, als habe er ein äußerst wichtiges Geheimnis mitzuteilen. Der Deckstuhl werde, Engelhardt solle sich bitte festhalten, aufgrund seiner nach vorne ausschwenkbaren, hölzernen Beinlehnen als bombay fornicator bezeichnet.

 

Engelhardt verstand nicht ganz, auch waren ihm Kalauer geschlechtlicher Natur suspekt, hielt er doch den Sexualakt für etwas völlig Natürliches, ganz und gar Gottgegebenes und nicht für einen Teil einer verklemmten, falsch verstandenen Manneszucht. Er unterließ es aber, dies zu sagen, sondern sah den Pflanzer etwas ratlos und prüfend an.

 

Welche sprachlichen Absonderlichkeiten haben wir da vor uns?

 

Da ist der Einsatz von Vokabeln, die zum Teil der gehobenen Sprache angehören, zum Teil altmodisch geworden sind:

- obgleich

- leibesvoll

- Besitz ergreifen

- Manneszucht

 

syntaktische Strukturen, die dito dem gehobenen Register angehören oder veraltet klingen:

- hielt er doch

- war ergriffen (normalerweise nimmt man hier das Vorgangspassiv: er wurde ergriffen)

 

Fremdwörter, die zum Teil sachlich klingen (Sexualakt, Kalauer, suspekt), zum Teil so fremd, als hätte man sie nie gehört, obwohl man versteht: minuskül

 

Die ausgiebige Verwendung des Konjunktiv I in der indirekten Rede, mit der der Autor - dies schon ein Vorgriff zur Ironie - unter anderem auch eine komische Wirkung erzielt. Ich jedenfalls musste schmunzeln bei der Empfehlung des Herrn Otto: Der grammatikalisch Form nach klingt sie steif, aber die gebrauchten Worte sind völlig umgangssprachlich: Engelhardt solle sich bitte festhalten. Üblicherweise entfernt man, wenn man direkte Rede in indirekte transformiert, alle Bestandteile des wirklich Gesprochenen - auch so etwas wie das bitte.

 

An dieser Stelle leider nicht zu finden (man kann nicht alles haben  ;) ):

Fachwortschatz (drei Seiten weiter finden wir schon ein Knochenstückchen, das in der "Trachea" des Herrn Otto sitzt, der sich beim Essen buchstäblich fast zu Tode lacht) und

 

die Verwendung des ß wie vor der Rechtschreibreform. Der Held des Stücks verehrt die Kokosnuß. (Das ist umso verblüffender, als der Autor Schweizer ist. In der Schweiz gibt es diesen Buchstaben ja von Haus aus nicht).

 

Auffällig, oder? So schreibt man heute nicht mehr. Schreibt der Autor so, weil er hinter dem Mond ist, es nicht besser versteht? Oder weil er sich über die Leser lustig machen will? Oder hat er etwas ganz anderes vor?

 

Bis hierher, erstmal

Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

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Wunderbar, darf ich ergänzen?

 

Vieles von dem, was du hier aufführst, gehört für mich in das Register der Ironisierung, wobei ich finde, dass dies hier sehr subtil vonstatten geht, die Dosierung ist fein gewählt.

 

Ich kenne das Buch bislang nur in Ausschnitten. Bei einem häufiger auftauchenden Stilkniff, den ich allerdings nur ungenau benennen kann, findet so etwas wie eine syntaktische Verschiebung statt. Geläufiges Vokabular erfährt eine minimale Veränderung der Buchstaben, die man fast überliest, und die Befremdung auslöst - zumindest bei mir - und weitere Assoziationen, die ich, ob ich will oder nicht, mitdenken muss...

 

- "sanftfüßig"

Ich kannte bisher nur samtfüßig und hätte das auch gelesen, wenn ich schnell über die Zeile gehuscht wäre, oder

 

- "leibesvoll"

Das Wort war mir völlig unbekannt, ich las zunächst "liebevoll".

 

Herzlichst

jueb

"Dem von zwei Künstlern geschaffenen Werk wohnt ein Prinzip der Täuschung und Simulation inne."  

AT "Aus Liebe Stahl. Eine Künstlerehe."

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