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Angelika Jo

Adjektiv, Syntax und Bilder - Stilfragen zu Krachts Imperium

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Ich verstehe es auch nicht ganz. Oder besser ausgedrueckt: Es ist ein Blickwinkel auf Literatur, der mir fremd ist (was ihn ja nicht falsch macht!). Aus meiner Sicht ist literarisches Schreiben nahezu per se der Versuch, mit einem Gegenueber in eine Art von "Dialog" zu treten, was zwar nicht zur Folge hat, dass der Leser dem Autor mit vergleichen Transportmitteln Antwort gibt, wohl aber dass das Mittel selbst, der Text, die alles andere als passive Zugabe des Lesers benoetigt, um in Bewegung zu bleibne und seine Moeglichkeiten zu entfalten (grosse Texte wachsen genau aus diesem Grund mit uns mit, und manche bleiben genau aus diesem Grund erstaunlich jung - Angelikas sehr kluge Antwort zu der ewigen Frage "was waere wenn Thomas Mann Buddenbrooks heute usw." im Nachbarthread geht in diese Richtung).

 

In jedem Fall wuerde ich an einen Text nie die Forderung stellen, dass er mich bei der Stange haelt, indem er es mir so einfach wie moeglich macht, sondern dass er so praezise und umfassend wie moeglich kommuniziert, was er kommunizieren soll (und auch so berauschend, erregend und unwiderstehlich wie moeglich, selbstredend. Aber eigentuemlicherweise geht das eine fuer mich mit dem anderen geradezu zwingend Hand in Hand.) Dazu ist es sehr wohl moeglich, dass er es mir alles andere als leicht macht und dass der Beitrag, den ich selbst leisten muss, mich einiges kostet (das ueber Zeit und Muehe auch weit hinausgehen kann). Welcher Text welchen Einsatz lohnt, entscheidet selbstverstaendlich jeder Leser fuer sich.

Gesagt haben wollte ich aber schon lange einmal: Ein Text muss mich nicht "in sich hineinziehen", er muss mir auch keinen "Lesefluss" bieten - er kann sich genauso gut gegen mich straeuben, mich provozieren, mich herausfordern, mir eine schoene kalte Schultern zeigen, andere Goetter neben mir haben, mir den Appetit verderben ...

kalt lassen sollte er mich nicht, das nicht.

Aber sonst flirte ich gern mit Texten - mit denen, die mich becircen, wie mit denen, die von mir becirct werden wollen. Mit denen, die "hard to get" mit mir spielen und mit denen, die sich breitbeinig vor mir niederlegen.

 

Herzliche Gruesse von Charlie

"Der soll was anderes kaufen. Kann der nicht Paris kaufen? Ach nein, in Paris regnet's ja jetzt auch."

Lektorat, Übersetzung, Ghostwriting, Coaching www.charlotte-lyne.com

 

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Gesagt haben wollte ich aber schon lange einmal: Ein Text muss mich nicht "in sich hineinziehen", er muss mir auch keinen "Lesefluss" bieten - er kann sich genauso gut gegen mich straeuben, mich provozieren, mich herausfordern, mir eine schoene kalte Schultern zeigen, andere Goetter neben mir haben, mir den Appetit verderben ...

 

Das ist ein schönes Bild - und zeigt, wie unterschiedlich die Erwartungen an Texte sind. Mir persönlich geht es vor allem um den Inhalt, den ein Text mir vermittelt. Die Form ist für mich persönlich die Verpackung.

 

Um es mal bildlich darzustellen: Es gibt Menschen, die ergötzen sich an einem wunderschön verpackten Weihnachtspaket. Vorsichtig wird Schicht um Schicht abgetragen, bis es geöffnet ist. Und dann sieht man: "Oh, ein Paar Skier!" und freut sich, sie endlich, nachdem man das Paket geöffnet hat, zu benutzen. Nur inzwischen ist es dunkel geworden - man muss bis zum nächsten Tag warten.

 

Ich gehöre zu denen, die das Paket öffnen - auch einigermaßen vorsichtig, damit das Papier nicht zerreißt, aber doch so schnell, dass ich die Skier noch am ersten Nachmittag ausprobieren kann.

 

Gruß, Melanie

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[ Dennoch verstärkt sich der Eindruck, dass meine offene, neutrale Meinungsäußerung - warum ich persönlich den Stil nicht mag - dazu genutzt wird, krampfhaft aufzeigen zu wollen, dass ich falsch liege.

 

Wenn damit sowieso schon alles gesagt ist, kann man sich die Diskussion auch schenken - denn Diskussion lebt doch von unterschiedlichen Wahrnehmungen, die man gleichberechtigt nebeneinander stehen lassen sollte.

 

 

Zu Punkt Eins: Nein, Melanie, das kann ich in diesem Thread nicht sehen. Bitte zeige mal auf, wo das passiert, denn das faende ich schade. (Ueber den Ausdruck "Grundguetiger" im anderen Thread hatte ich mich auch geaeergert. Es kostet sehr viel Muehe, Erstsemester-Studenten beizubringen, dass sie vor den grossen Namen nicht vor EhrFURCHT erstarren muessen, sondern ruhig vom Leder ziehen duerfen, dass sie sie anpacken und mit ihnen spielen und arbeiten sollen, nicht sie im Glaskasten vergoettern. Aber in diesem Thread kann ich so etwas nicht sehen, um ehrlich zu sein.)

 

Zu Punkt Zwei: Das sehe ich auch so (und ich bin ganz gewiss kein hundertprozentiger Kracht-Fan). Was ich nicht so gern mag, sind diese Diskussionen, die hier ab und an mal ueber Buecher aufkommen, die neunzig Prozent der Diskutanten nicht gelesen haben. Selbstverstaendlich finde ich es voellig in Ordnung, Buecher anzulesen und zu sagen: Reizt mich nicht. Ich mache das genauso. Nur moecht' ich dann auch ueber die etlichen Buecher, die bei mir mit dem Stempel "Reizt mich nicht" unter den Tisch gefallen sind, keine Diskussion anfangen. Ueber die habe ich doch gar nichts zu sagen. Ich habe mich auf die nicht eingelassen, also falle ich als einer, der mit Erfahrungen ein Gespraech darueber bereichern koennte, weg.

Ich war mal (mit sechzehn) eine Woche auf Konzertreise in Schweden, da habe ich beschlossen, dass mich das nicht reizt und ich da nie wieder hinwill.

Ich moecht' nicht, dass mir einer erzaehlt: Du, Schweden, das ist aber der totale Renner, und da versaeumst du ja das eigentliche Leben, wenn du da nie hinfaehrst, und ausserdem bist du ein Urlaubs-Plebejer erster Guete.

Ich moecht' mich aber auch nicht mit dem Beitrag: "Schweden ist doof, weil's da immer kalt ist und ich es lieber warm habe, und ausserdem gefaellt mir die Sprache nicht" zum Wortfuehrer einer Diskussion unter Schweden-Urlaubern aufschwingen.

Was hab ich dazu zu sagen? Ich mache doch gar nicht in Schweden Urlaub. Und will's auch nicht versuchen. Ich habe dazu doch gar nichts zu sagen.

 

Nur meine Meinung!

 

Herzlich,

Charlie

"Der soll was anderes kaufen. Kann der nicht Paris kaufen? Ach nein, in Paris regnet's ja jetzt auch."

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[ Mir persönlich geht es vor allem um den Inhalt, den ein Text mir vermittelt. Die Form ist für mich persönlich die Verpackung.

 

 

Mir geht es auch um den Inhalt.

Aber die Form ist fuer mich nicht die Verpackung, sondern eines der kraft- und wuerdevollsten Transportmittel, die wir besitzen.

 

Um in deinem Bild zu bleiben: Nein, die Form ist mir nicht die Verpackung um das Weihnachtsgeschenk.

 

Die ist der Weihnachtsmann.

 

Herzlich,

Charlie

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Um in deinem Bild zu bleiben: Nein, die Form ist mir nicht die Verpackung um das Weihnachtsgeschenk.

 

Die ist der Weihnachtsmann.

 

Der Weihnachtsmann ist dann also die Transportform?

Also wenn wir dann im Bild bleiben, gibt es diejenigen, die das Ritual mit Gedicht aufsagen, Blockflöte spielen und singen genießen, ehe es die Geschenke gibt - und dann gibt es die, die einfach nur "Danke schön!" sagen  ;)

 

Gruß, Melanie

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Nein, ich glaube, jetzt haben wir den Vergleich endgueltig ueberreizt (das war eher als Witzlein gedacht).

Ich habe nur sagen wollen: Ich kann nicht Form und Inhalt trennen, wie Du es vorgeschlagen hast, da der Inhalt nicht bei mir ankommt, wenn die Form, die ihn transportiert, diese Aufgabe nicht in angemessener Form leistet. Wie ich das "auspacke" und ob ich dabei Blockfloete spiele, ist eine ganz andere Frage und geht womoeglich in Richtung "Leserbeitrag".

 

Mir geht es darum, dass ich nicht Inhalt von Form trennen moechte, weil der Inhalt die Form bestimmt, und nur dann, wenn das gelungen ist, die Moeglichkeit, durch dieses Medium zu kommunizieren, optimal genutzt wird.

 

Viele Gruesse von Charlie

"Der soll was anderes kaufen. Kann der nicht Paris kaufen? Ach nein, in Paris regnet's ja jetzt auch."

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Das stimmt - man kann Inhalt und Form nicht trennen. Und ich glaube, das hat mich persönlich ja auf der einen Seite neugierig gemacht, aber dann enttäuscht, weil ich durch die Form nicht in den Inhalt gefunden habe. Der Inhalt selbst - die Geschichte von Engelhardt und seinem Sonnenorden - hat mich schon sehr lange fasziniert. Deshalb war ich ja auch so begeistert, als ich im Hamburger Abendblatt einen langen Artikel über dieses Buch gelesen habe - und gedacht: "Das muss ich haben!"

Tja, und dann kam mir die Form dazwischen ... die leider so gar nicht mein Ding ist. Aber in der Hoffnung, dass es sich ändert, bzw. den Inhalt lohnt, habe ich ja diese Fragestellung aufgebracht - was fasziniert daran?

 

Gruß, Melanie

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Wenn Dich das Thema so fasziniert, Melanie, dann versuch es doch mit Marc Buhl, der wurde ja neulich schon einmal erwähnt mit Leseprobe.

Vielleicht wäre der etwas für Dich?

 

Viele grüße

Annette

http://annette-amrhein.de/

Ein Beitrag in "Zeit zum Genießen",  Insel Verlag 2021 

ebook für Kinder: 24 Geschichten für Weihnachten und Advent, amazon

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So, ihr Lieben von mir aus geht es weiter

 

Zunächst ein paar Antworten auf eingegangene Diskussionsbeiträge:

 

Ganz großes Dankeschön an ThomasR, der in seiner detailgenauen und umsichtigen Analyse schon vieles von dem vorweggenommen hat, was speziell zum Adjektivgebrauch noch zu sagen ist. Die zeitliche (und auch geographische) Verortung der ganzen Geschichte durch den "malayischen Boy" und die "langbezopften Chinesen" war schon klar, neu für mich, aber sehr einleuchtend dein Hinweis auf die syntaktisch hergestellte Verzögerung, "Sperre" hast du gesagt, durch das dreimalige "unter ... unter... unter". Stimmt vollkommen, ich sag gleich noch mehr dazu.

 

Herzlichen Dank auch an Annette, die die "Melodie des Satzes" ins Spiel gebracht und den Hinweis auf die Nähe zum Klischee, mit der der Autor bewusst operiert. Auch dazu später mehr.

 

Lieber AndreasG, liebe Mascha,

ich bin ganz eurer Meinung, was den - gewollten! - Bezug zur Sprache eines vergangenen Zeitalters betrifft. Ich möchte nur eins hinzufügen:

 

Mascha, du hast natürlich Recht mit deiner Bemerkung, dass diesen sprachlichen Bezug nur der wahrnehmen kann, der die Literatur aus dieser Zeit kennt. Das ist insofern vielleicht ein Handicap für die, die das nicht tun. Nur - ihnen entgeht zwar ein kleiner Witz, den sich der Autor mit einigen seiner Vorgänger erlaubt, aber die Teilnahme am Lesevergnügen ist damit überhaupt nicht in Frage gestellt. Das ganze Buch kann man - behaupte ich - mit großem Genuss lesen, ohne an Thomas Mann überhaupt zu denken. Es ist auf der obersten Ebene halt erst mal eine Abenteuergeschichte. Wer so was liebt, wird gut bedient (es kommen vor: Raub, Diebstahl, Mord, Auftragsmord, Verstümmelung, Vergewaltigung, Polizeigewahrsam, Liebe, Hochzeit, Unfalltod und jede Menge Landschaft - so nannte man das doch mal auf Deutsch, oder?  ;))

Ich nehme an, du wirst das auch selbst so gemeint haben und wollte es nur der Vollständigkeit halber erwähnt haben. O.K.?

 

Liebe Jurenka,

 

ein kleiner orthographischer Hinweis

 

Und bestimmt ist der norddeutsche Lloyd ein Hindernis, wenn man nicht gleich begreift, dass das Schiff damit gemeint ist. Es mag also von der Leseerfahrung bzw. ganz einfach vom Wissen des Lesers abhängen, ob er den Inhalt aufnehmen kann.

 

Im Buch - auch im entsprechenden Zitat - stand nichts geschrieben von einem "norddeutschen Lloyd", sondern vom "Norddeutschen Lloyd". Das Gefummel mit Groß- und Kleinschreibung mag dir vielleicht spitzfindig erscheinen, tatsächlich bedeutet es aber etwas. In diesem Fall, dass es sich um einen Eigennamen besonderer Art handelt, ähnlich wie beim "Deutschen Museum" oder "Englischen Garten". Solange es um eine nur regional zu kennzeichnende Person geht wie der "holländischen Frau Antje" schreibt man das Attribut klein.

 

Den sicher gut gemeinten Rat an Christian Kracht, sich durch Enthaltsamkeit in Fragen der Allgemeinbildung eine größere Leserschaft zu sichern:

 

Und je mehr Spezialwissen gefordert wird (damit meine ich jetzt nicht einmal speziell "Imperium"), desto mehr Leser verliert man wohl.

 

möchte ich hier gerne ebenso ignorieren wie das stattgehabte Ausrupfen seiner Adjektivfedern. Es geht - der Titel oben zeigt es an - um den Stil dieses Buches. Nicht um Tipps für Anfänger.

 

Deshalb auch zu dieser Aufforderung von deiner Seite:

 

Bleibt die interessante Frage aus dem anderen Thread: Gibt es überhaupt allgemeingültige Qualitätskriterien oder ist doch alles einfach nur geschmackssache?

Viele Grüße,

Jurenka

 

Nein, diese interessante Frage bleibt bitte-bitte nicht, die unterbleibt, wenns Recht ist. Jedenfalls hier.

 

Wer sich darüber unterhalten möchte, möge bitte einen neuen thread eröffnen.

 

Angelika, den nächsten Punkt zu diesem thread hier ansteuernd

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

www.angelika-jodl.de

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Liebe Angelika,

zum nNordeutschen Lloyd - das ist mir durchaus klar gewesen beim Verfassen meines Kommentars und sollte eben genau auf mein Missverständnis hinweisen. Eben dies hatte ich ja überlesen. Mir unterläuft beim schnellen Tippen durchaus mancher Fehler, aber grundsätzlich halte ich die Orthografie für wichtig und achte darauf.

Auch habe ich dem Herrn Kracht wohl kaum einen Ratschlag gegeben. Merkwürdig, dass das bei dir ankam. Zu guter Letzt war auch nirgends die Rede von Tipps für Anfänger und das "rupfen der Adjektivfedern" wiederum nur ein unterhaltsamer Versuch, die Wirkung des Stils zu ergründen. Ging es hier nicht um Stilfragen?

Und entschuldige die inadequate Qualiätskriterienfrage, die ja gar nicht weiter erörtert wurde - zu der es ja auch einen anderen Thread gibt, wie ich wohl erwähte.

Aber gut dem Dinge ...

Viel Freude bei eurer weiteren "Diskussion".

Jurenka

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Der nächste Punkt auf der Liste zur Kritik von "Imperium" war die Sache mit den Bildern. "Zu viele Bilder" hieß es (bezogen auf die beiden schon sattsam bekannten Sätze zu Beginn). Reizüberflutung. Wirft aus dem Lesefluss.

 

Erstmal - was ist gemeint mit "Bild"?

 

Aus Schreibratgebern bekannt ist mir die Mahnung nicht zu viele Bilder an einem Stück zu bemühen. Gemeint sind sprachliche Mittel wie Metaphern oder bildhafte Vergleiche. Ja freilich, wer eine Schönheit vorstellt, indem er ihre Haarfarbe mit der von Aprikosen vergleicht, als nächstes ihre Haut alabasterfarben nennt und dann noch ihren Blick mit dem eines scheuen Rehs gleichsetzt, der treibt des Lesers Geist schon sehr vor sich her durch die Gefielde von Botanik, Geologie und Zoologie.

 

Bilder in diesem Sinn kommen in den beiden Sätzen aus "Imperium" nicht vor. Der erste Satz präsentiert eine Szenerie. Ähnlich wie ein Film anfangen würde: Da sind Himmel und Sonne, da ist ein Schiff; als nächstes eine akustische Äußerung: ein Tuten, dann läutet die Schiffsglocke. Und jetzt bewegt sich etwas auf dem Schiff: Ein malaysischer Boy nähert sich den Herrschaften in den Liegestühlen und berührt sie an der Schulter.

 

Diese Szenerie mag man für sich als Bild betrachten. Vielleicht war das gemeint mit der Reizüberflutung? Dass zuviel passiert auf diesem Bild? Aber auch hier hätte ich wie bei den Adjektiven die Frage: Wo liegt der Maßstab für das "zuviel"? Es gibt natürlich Bilder und Bilder. Beim berühmten "weißen Quadrat auf weißen Grund" ist man wahrscheinlich schnell fertig, wollte man es beschreiben. Bei der "Erschießung Kaiser Maximilians" wird man ein paar Worte mehr brauchen, da sind halt etliche Personen beteiligt, es gibt einen Hintergrund, einen Vordergrund, Farben und ein dramatisches Geschehen.

 

Auf Bildern übrigens passiert immer alles gleichzeitig! Und welch Wunder - die meisten von uns können ganz ruhig vor ihnen stehen und ihre Aussage wahrnehmen, ohne von Reizüberflutung gepeinigt aus der Galerie zu flüchten.

 

Das Bild in der Sprache funktioniert naturgemäß nicht gleichzeitig. Da brauchen wir ein Nacheinander (wer letztes Mal in Oberursel dabei war, hat diesen Gedanken aus dem Mund von BarbaraS hören können - ihr verdanke auch ich diese Einsicht, um das nicht unerwähnt zu lassen).

 

Sein Nacheinander hat Kracht im ersten Satz so hingekriegt wie oben beschrieben. Im zweiten Satz verlässt er die Bildebene - Thomas hat auf die kommentierende Funktion schon hingewiesen - wir werden informiert über den Luxus an Bord dieses Schiffs und schwubb - jetzt hat er uns doch noch ein weiteres Bild vor die geistige Netzhaut gerückt: die Mangos, Spiegeleier, Hühnerbrüste, Garnelen, den Reis und das Bier. Hmm - Hunger (hat Holger schon im Kaffeehaus bekommen). Ist doch wie ein Stillleben! Ich habe natürlich keine Ahnung, wie empfindlich einzelne Betrachter von Stillleben hinsichtlich der da auf sie abgefluteten Reize sind. Aber normalerweise übersteht der gemeine Galeriebesucher die Betrachtung schadlos und sogar mit Genuss. Mir ging es nicht anders, als ich diesen Satz gelesen habe.

 

Gut. Bis dahin mal. Wenn ich es schaffe, nehme ich mir morgen dann endlich die Adjektive vor.

 

Good night, Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

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Liebe Angelika,

die erwähnte Reizüberflutung bezog sich ja nicht nur auf die Bilder. Sie kann ja eben genau auch durch die viele Information entstehen oder irre ich mich da wieder?

Besonders der zweite Satz enthält ja nun einige Informationen.

Gute Nacht auch an dich,

Jurenka

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Es ist sehr amüsant, wie hier versucht wird, mit hinkenden Vergleichen (Stilleben in der Kunsthalle) und einem satirischen Unterton Wahrnehmungen von anderen ad absurdum zu führen.

Wer es nötig hat, auf diese Weise mit der Meinung anderer umzugehen, darf es gern tun - ich bin da tolerant (und denke mir meinen Teil).

 

Gruß, Melanie

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Ja gut, Jurenka (und wie schön, dass du nicht beleidigt bist, ich meins nämlich gar nicht böse): Zuviel an Information sagst du.

 

Aber erstens bedeutet "Reiz" in meinem Augen schon eher etwas, das an die Physis rührt als an die grauen Zellen. Und Infos richten sich doch an letztere, oder nicht?

 

Zweitens und vor allem aber: Wo ist hier ein Zuviel? Wo wird es dir zuviel, wenn ein Film mit dem ersten Bild beginnt, auf dem sich auch jede Menge rührt, meist mehr als hier? Gerade die neueren Filme - da wird mir durchaus öfter schwindelig: Krach - Bumm - Fick - Verhaft - alles möglichst in den ersten Minuten, bevor es überhaupt losgeht. Dagegen dieser Anfang hier - der ist ja fast in Zeitlupe hin gebreitet! Woran übrigens die gebrauchten Adjektive ihren Anteil haben.

 

Aber dazu, wie gesagt, erst morgen mehr.

Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

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Ja gut' date=' Jurenka (und wie schön, dass du nicht beleidigt bist, ich meins nämlich gar nicht böse): Zuviel an Information sagst du.[/quote']

;)

Ich hatte mir auch erst überlegt, ob sich "Reiz" nicht nur auf die bekannten Sinneswahrnehmungen beschränkt. Dann meine ich einfachhaltshalber die Informationsflut. Und wo die steckt? Sicher nicht in der Schnelligkeit der Handlung á la "Krach - Bumm - Fick ...". Aber ansonsten ist jeder Wortteil schon Information.

 

Moment, ich hol mir den Satz eben nochmals ...

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@Angelika: Danke für deine Ausführungen! Ich finde sie ungemein spannend und werde diese Diskussion aufmerksam weiter verfolgen.

 

@Melanie: Es ist äußerst ärgerlich, wenn immer wieder interessante Diskussionen aus welchen Gründen und von wem auch immer von der Sachebene auf die persönliche Ebene gezogen und damit zerstört werden. Ich denke mir dabei auch meinen Teil, ehrlich gesagt.

 

Viele Grüße

Susann

Eat the frog in the morning (Mark Twain)

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Der zweite Satz:

"Der Norddeutsche Lloyd, Gott verfluche ihn, sorgte jeden Morgen, reiste man denn in der ersten Klasse, durch das Können langbezopfter chinesischer Köche für herrliche Alphonso-Mangos aus Ceylon, der Länge nach aufgeschnitten und kunstvoll arrangiert, für Spiegeleier mit Speck, dazu scharf eingelegte Hühnerbrust, Garnelen, aromatischen Reis und ein kräftiges englisches Porter Bier."

 

Abgesehen vom "Eigennamen" Nordeutscher Lloyd und dass er von Gott verflucht sein soll erfahren wir weitere Details - also Informationen: Es geht um die Passagiere der ersten Klasse. Für diese arbeiten nicht einfach nur Köche, sondern lanbezopfte, chinesische. Diese arrangieren nicht nur Mangos, sondern Alphonso-Mangos und das auf spezielle Weise. Dann gibt es noch andere Lebensmittel - gut. Dahinter steckt jedenfalls noch die ganze weitere Information des Wann, wie sie ThomasR ja schön dargestelt hat.

 

Viele Grüße,

Jurenka

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Ich hatte mir auch erst überlegt, ob sich "Reiz" nicht nur auf die bekannten Sinneswahrnehmungen beschränkt. Dann meine ich einfachhaltshalber die Informationsflut. Und wo die steckt? Sicher nicht in der Schnelligkeit der Handlung á la "Krach - Bumm - Fick ...". Aber ansonsten ist jeder Wortteil schon Information.

 

Yes! Jenau. Und das ist mit Sicherheit eins der Dinge, die den Kritikern an diesem Buch so gut gefällt: Die Effizienz. Kein Wort ist einfach so da. Das eine, weils schön klingt, das andere, weil es ein gutes Bild gibt, das dritte für die Information des Lesers hinsichtlich Zeit und Raum und sonstwas. Sondern alles ist hier wohlüberlegt gesetzt, verdichtet, kondensiert. Und plastisch dazu.

 

Nimm nochmal den Boy (und dazu die Erläuterung von ThomasR):

 

...und ein malaysischer Boy schritt sanftfüßig und leise das Oberdeck ab ...

 

ich seh was: einen exotischen jungen Mann

ich hör was : leise geht er!

ich begreife seinen Charakter über seinen Gang: sanftfüßig geht er? Dann wird er kaum aufstampfen oder sonstwo auftrumpfen

ich begreife seinen gesellschaftlichen Status: ein Boy, ein Diener weißer Herrschaften, die ihn sicher nicht als ihresgleichen sehen

ich begreife Ort und Zeit: Das spielt auf einem Schiff in einem Gewässer weit weg irgendwo im asiatischen Raum und zu einer Zeit, als es noch weiße Herrschaften gab, die sich "Boys" hielten (die mag es heute noch geben, aber der Hinweis auf die "langbezopften Chinesen" im nächsten Satz stellt die epochale Uhr dann doch sehr deutlich)

und ich sehe einen Vorgang: wie er über das Oberdeck geht. Bewegung im ersten Satz in einer Szenerie, wo sonst alles ruhig bleibt: Himmel, Wolken, Sonne, schlafende Pflanzer.

 

Denkst du wirklich, dass der Roman besser würde, wenn man für jedes dieser Momente einen eigenen Satz schriebe?

 

Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

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Besser? Nein und wenn ich mich recht erinnere, habe ich das auch nirgends behauptet. Ich habe nur "Versuche" gestartet, um zu untersuchen, was welche Wirkung auf mich hat.

Meine einzige Aussage war, und der Meinung bin ich noch immer, dass es mit weniger verschachtelten Sätzen FÜR MICH leichter zu lesen ist.

Jetzt aber gute Nacht.

Viele Grüße,

Jurenka

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Die Effizienz. Kein Wort ist einfach so da. Das eine' date=' weils schön klingt, das andere, weil es ein gutes Bild gibt, das dritte für die Information des Lesers hinsichtlich Zeit und Raum und sonstwas. Sondern alles ist hier wohlüberlegt gesetzt, verdichtet, kondensiert. Und plastisch dazu.[/quote']

 

Ich finde das einfach spannend und wunderschön, das hier zu verfolgen. Ich habe es auch so empfunden.

 

Zitat von Annette:

Verstehen kann man die sprachlichen Bezüge auf das ausgehende 19./beginnende 20. Jahrhunderts nur, wenn man mit Literatur aus dieser Zeit vertraut ist.

 

Durch deine Aussage, Annette, wird mir erst klar, wie sehr mir das vertraut ist. Ich habe übrigens kein Bedüfnis, das hier kontrovers zu diskutieren, ich genieße es wie einen Fachvortrag. ;)

 

Guts Nächtle allerseits!

Christa

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Ich verfolge Angelikas Textanalyse und auch die die von Thomas - Danke für die Mühen dafür! - mit sehr viel Gewinn, zeigt mir beides doch, wie überlegt und stilistisch raffiniert der Roman(anfang) angelegt ist. Auch wenn mir Thematik und Gestus nicht ganz so liegen, bin ich jetzt so neugierig geworden, dass ich das Buch wohl lesen werde.

 

Herzlichst

jueb

"Dem von zwei Künstlern geschaffenen Werk wohnt ein Prinzip der Täuschung und Simulation inne."  

AT "Aus Liebe Stahl. Eine Künstlerehe."

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Interessanter Thread. Ich kenne das Buch nicht, kann mich also nur auf die hier präsentierten Abschnitte beziehen.

 

Angelikas Ausführungen haben mir sehr gut gefallen. Sie pflückt Textteile auseinander und jedes Einzelteil ist sprachlich wirklich gelungen (da stimme ich ihr zu) und erzeugt für sich ein eingängiges Bild oder vermittelt eine wichtige Information. Und wenn man diese Einzelteile nach entsprechend sorgfältiger Analyse wieder zu einem Bild zusammengesetzt hat, dann funktioniert es sicher auch, wie der Autor es beabsichtigt hat.

 

Nur leider lese ich nicht so. Für mich hieße das, ich müsste jeden Absatz mindestens dreimal lesen, analysieren, verköstigen und dann insgesamt verstehen. Manche mögen das sicher. Charlie meint sogar, sie mag mit solchen Texten ringen, sie sollen es ihr ruhig schwer machen. Für mich dagegen ist das wie im Lateinunterricht, wo man an den Endungen erkennen soll (ich hatte da so meine Probleme), dass das Adjektiv am Anfang des Satzes zum Subjekt am Ende passt. Vielleicht ein schlechter Vergleich, aber so ähnlich.

 

Ich bin da eher auf Melanies Seite. Ich habe keine Lust, mit einem Text zu kämpfen oder eine Passage dreimal zu lesen, um die Einzelteile zu einem Bild zusammenzufügen. Dazu lese ich zu schnell, und beim schnellen Lesen passiert das eben nicht und man bekommt eher, was jemand hier Reizüberflutung genannt hat, zu viel Info auf einmal, die einen etwas wirren Brei im Kopf hinterlassen. Nach drei Seiten gesellt sich dann ein leichter Kopfschmerz dazu und die Lust weiterzulesen, ist dahin. Ich rede hier allgemein und nicht spezifisch Kracht, von dem ich nur die zitierten Passagen kenne.

 

Hat das also mit der Art des Lesens zu tun? Ist es die Lesegeschwindigkeit oder ist es einfach, dass ich von einem Autor erwarte, dass er auf meiner geistigen Leinwand malt? Dass ich mich ihm ausliefern möchte ohne Analyse, ohne Kampf und Ringen. Das muss es wohl sein ... ich möchte mir nicht die Mühe machen, Texte aufzuschlüsseln. Ich möchte mich von Texten einfach bei der Hand nehmen und verführen lassen.

 

Hätte ich im Laden Krachts erste Sätze gelesen, ich hätte das Buch auch weggelegt.  :

Die Montalban-Reihe, Die Normannen-Saga, Die Wikinger-Trilogie, Bucht der Schmuggler, Land im Sturm, Der Attentäter, Die Kinder von Nebra, Die Mission des Kreuzritters, Der Eiserne Herzog, www.ulfschiewe.de

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Ich hatte mir auch erst überlegt, ob sich "Reiz" nicht nur auf die bekannten Sinneswahrnehmungen beschränkt. Dann meine ich einfachhaltshalber die Informationsflut. Und wo die steckt? Sicher nicht in der Schnelligkeit der Handlung á la "Krach - Bumm - Fick ...". Aber ansonsten ist jeder Wortteil schon Information.

 

Yes! Jenau. Und das ist mit Sicherheit eins der Dinge, die den Kritikern an diesem Buch so gut gefällt: Die Effizienz. Kein Wort ist einfach so da. Das eine, weils schön klingt, das andere, weil es ein gutes Bild gibt, das dritte für die Information des Lesers hinsichtlich Zeit und Raum und sonstwas. Sondern alles ist hier wohlüberlegt gesetzt, verdichtet, kondensiert. Und plastisch dazu.

 

Ihr beide bringt es hier wunderbar auf den Punkt, finde ich.

In dem Text ist nichts überflüssig, jedes Wort trägt etwas zu dem Bild bei, das da gemalt wird. Gerade darum empfinde ich den Anfang eigentlich als still - und konnte darum so gar nichts mit dem Vorwurf anfangen, hier käme so viel auf einmal auf den Leser zu und drohe ihn zu überfordern.

 

Inzwischen kann ich mir eher vorstellen, was gemeint sein könnte. (Wobei ich mich natürlich irren kann!) Man muss diesen Text langsamer lesen als andere, weniger verdichtete. Man muss jedes Wort ernst nehmen. Im anderen Thread hat jemand (ich glaube, Melanie) geschrieben, man müsse drei Gänge zurückschalten. Das finde ich ganz treffend - wenn man einen solchen Anfang vergleicht mit weniger verdichteten.

 

Für mich ist der Grad der Verdichtung tatsächlich auch ein Qualitätskriterium bei Literatur. Ich genieße es, wenn ich gezwungen werde, genau zu lesen.

 

Anders als Ulf finde ich übrigens nicht, dass man erst analysieren muss, um dem Text folgen zu können! Überhaupt nicht. Ich finde, man muss wirklich nur lesen. Erst wenn man dem Autor in die Karten schauen will und herausfinden, wie er es denn macht, das Bildermalen - erst dann kommt die Analyse ins Spiel. Und da möchte ich mich dem Dank an Angelika und Thomas unbedingt anschließen. Es ist unterhaltsam und lehrreich, euren Überlegungen zu folgen.

 

Viele Grüße

 

Barbara

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