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Angelika Jo

Die Currywurst wird aufgeschnitten

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Schlag zwölfe - ich fang an.

 

Vielleicht beginnen wir mit dem Wort „Novelle“. Es steht auf dem Cover unmittelbar unter dem Titel und es ist das letzte Wort der Geschichte. Das Ausmaß (220 Seiten) würde auch die Bezeichnung „Roman“ rechtfertigen. Aber Timm wollte es Novelle nennen, zufällig hat er das als Germanist sicher nicht getan. Neben vielen möglichen Faktoren kann ich mir vorstellen, dass er damit auf die (möglicherweise altmodisch gewordene – oder wer schreibt heute noch „Novellen“?) Kunstfertigkeit hinweisen wollte, mit der die Currywurst verfertigt wurde. Dass es ein fein gearbeitetes Kunstwerk ist mit seiner diffizilen Rahmenhandlung, den Dingsymbolen, den sich kreuzenden Perspektiven, werden wir im Lauf der Debatte ja sicher noch oft zur Sprache bringen.

 

Und das ist schon der erste Punkt für mich, an dem ich das Buch interessant finde: Ein glänzend gearbeitetes kleines Kunstwerk, eine „Novelle“, also so richtig edel – Boccaccio und Goethe lassen grüßen – und dann geht es um eine Wurst! Um eine ordinäre Currywurst, verkauft an einer Bude, die einer Frau Brücker gehört, auch sie ein kleines Würstchen. Mit allen Finessen schreibt da einer über Wurst und Würstchen.

Ja. Vielleicht geht es also dann auch um mehr als um die Entdeckung – eigentlich müsste es ja Erfindung heißen, aber auch diese Seltsamkeit wird einen Grund haben – um mehr als um die Entdeckung der Currywurst. Zur Auswahl stünde eine Menge Themen, die alle Platz haben in diesen 220 Seiten:

- eine Liebesgeschichte

- eine Geschichte um Solidarität und Verrat im Nationalsozialismus, also auch

- deutsche Geschichte

- und so was wie eine programmatische Erklärung in Sachen realistischer Schreibe.

 

Gut. Soviel erst mal von meiner Seite. Jetzt bin ich gespannt, was euch zur "Novelle" einfällt. Danach könnten wir gern in die Betrachtung von Erzählstimme, - haltung und Perspektivwechsel übergehen.

 

Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

www.angelika-jodl.de

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Vielleicht beginnen wir mit dem Wort „Novelle“. Es steht auf dem Cover unmittelbar unter dem Titel und es ist das letzte Wort der Geschichte.

 

Und kommt zwischendurch im Kreuzworträtsel vor, aber Bremer fällt es nicht ein. Ja, das ist ein meisterlich gewebter Text. Ich habe ihn für unsere Diskussion jetzt mittlerweile zum dritten Mal gelesen, und jedes Mal entdecke ich andere Aspekte oder neue Fäden im Gewebe.

Novelle: Fäden statt Stränge und der Erzähler selbst lässt uns teilhaben, welche Fäden er weiterverfolgen will oder nicht. Er legt seine Prämisse offen: Ihn interessiert nur, was mit der Currywurst zu tun hat, alles andere, was Frau Brücker ihm an "Romanhandlung" aufdrängen will, versucht er, wegzudrängen, ganz offen, vor unseren Augen. Nicht immer gelingt es ihm, ab und zu schmuggelt Frau Brücker auch Begebenheiten hinein, die nicht in die schlanke Novelle gehören und einmal ist er selbst in Versuchung, als er sich von der ehemaligen Denunziantin-Nachbarin zu einem Täßchen Kaffee einladen lässt und in den Archiven forscht. Aber er diszipliniert sich: nein, das ist eine andere Geschichte. Immer wieder bewusste Reduktion auf das "Einfache", die so deutsche, aber plötzlich durch den Krieg, Schwarzmarkt, Besatzung unfreiwillig globalisierte oder exotisch gewordene Wurst.

 

Bei diesem dritten Lesen haben mich besonders gewisse Aspekte an Frau Brücker fasziniert, alles andere als ein armes Würstchen-aber das hast du, glaube ich, auch nicht in diesem Sinne gemeint.

Sie ist dreist, manipulativ. Eine Genießerin, eine Lebenssüchtige. Sie würde vermutlich mehr über ihr damaliges Sexleben erzählen, während sie ihr Gebiss im Mund herumschiebt, aber der Erzähler ist gehemmt. Er traut sich nur ein einziges Mal, nachzufragen, sie erteilt großzügig Auskunft. Und erzählt ihm auch, obwohl er es nicht unbedingt hören will, von ihrem Mann, dem Sex mit ihm, seinen Unterhosen, die sie wäscht, allerhand Intimitäten. Wie brisant die Situation dieser beiden ist - im Altenheim, sie reden über Sex, eine Siebenundachtzigjährige und ein mehr als vierzig Jahre jüngerer Mann, ein Tabubruch - dies ist mir erst jetzt richtig nahegegangen, beim vorigen Lesen war ich immer zu sehr mit der Kriegs-Liebes-Geschichte beschäftigt. Jetzt fällt mir eben dieses Manipulative an Frau Brücker (warum hat er wohl diesen Namen gewählt) viel mehr auf, wie sie den Erzähler mit ihrer Currywurst-Geschichte genau so ködert wie sie damals Bremer geködert hat.

 

Ein disziplinierter, ordnender Erzähler, der die ausufernde Geschichte der Frau Brücker (und der chaotischen Zeit) zu kanalisieren oder zu zähmen versucht, daran stellenweise scheitert, Frau Brücker verfällt und gerade diese Schilderung seiner Versuche und seines Scheiterns machen diesen Text so schillernd.

 

Begeisterte Grüße

Claudia

(die noch nie in ihrem Leben eine Currywurst gegessen hat. Und man kann noch so sehr Veggie sein: Man kriegt Appetit drauf.)

Baronsky&Brendler: Liebe würde helfen  Ein Staffelroman 
Februar 21, Kampa

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Also, wenn wir mit "Novelle" anfangen, liebe Currywurstfreunde, muss ich mich gleich als unwissend outen, weil ich noch nie richtig verstanden habe, was eine Novelle eigentlich ist. Es wäre ja toll, wenn ich das hier gleich mitlernen könnte!

 

Ich habe eben den Wikipedia-Eintrag zu "Novelle" gelesen. Findet ihr, dass er einigermaßen wiedergibt, was man unter Novelle versteht? Dort werden ja sehr viele Merkmale aufgezählt - genau das ist immer mein Problem, wenn es um dieses Thema geht. Viele Merkmale, aus denen für mich trotzdem kein Bild entsteht. Manche Punkte, die in dem Artikel genannt werden, scheinen mir auf die Currywurst durchaus zuzutreffen (der Konflikt zwischen Ordnung und Chaos!). Bei anderen (Schwester des Dramas, dialogische Form) sehe ich das nicht so ganz. Aber wenn ich so an die Frage herangehen, komme ich mir auch irgendwie ... laienhaft vor. ;)

 

Und was wäre denn das Dingsymbol? Die Currywurst?

 

Sehr gespannt auf eure Beiträge grüßt

 

Barbara

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Die feldplane ist es! Das dingsymbol.

LG jueb

"Dem von zwei Künstlern geschaffenen Werk wohnt ein Prinzip der Täuschung und Simulation inne."  

AT "Aus Liebe Stahl. Eine Künstlerehe."

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Angelique redet ja von Dingsymbolen, also mehreren.

Isch werf auch noch eins ein: Den Dingsda äh Pullover.

Hab den Wikipedia-Eintrag zur Novelle nicht gelesen, ich arbeite lieber mit meinen unordentlichen, bestimmt lückenhaften Erinnerungen an früher gelernte Definitionen ... und dialogische Form z.B. kommt in denen nicht vor. Ich finde, wie im ersten Beitrag schon bemerkt, der Erzähler weist uns selbst auf die Form hin, in dem er die zu einem Roman führenden Stränge wissentlich kappt.

 

Laienhafte Grüße

Claudia

Baronsky&Brendler: Liebe würde helfen  Ein Staffelroman 
Februar 21, Kampa

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Obwohl mein Germanistikstudium schon viele Jahre zurückliegt, bin ich hier wohl in der Pflicht.

 

Die Novelle wird gerne als „die epische Schwester“ des Dramas bezeichnet. Das heißt, sie verzweigt sich nicht in viele Nebenhandlungen, sondern folgt mehr oder weniger konsequent dem Hauptstrang; auch die Zahl der Figuren und Handlungsorte ist begrenzt. Analog zum Drama könnte man daher von einer „geschlossenen Handlung“ sprechen. Die Novelle ist länger als eine Kurzgeschichte, aber kürzer als ein Roman. (Heutzutage ist ja alles, was keine Kurzgeschichte ist, ein Roman. Vor langer, langer Zeit hießen längere Texte, die keine Novellen waren, noch „Erzählung“.)  Die Novelle ist formal streng, das heißt sie erlaubt keine essayistischen Einschübe,  lyrische Stimmungsbilder oder dergleichen. Sie arbeitet mit Vorausdeutungstechniken, z. B. Dingsymbolen. Der Erzähler bzw. der Erzählvorgang ist in der Regel sehr präsent. Aufhänger bzw. Auslöser der Handlung ist stets eine „unerhörte Begebenheit“, Gegenstand ist aber nicht diese Begebenheit selbst, sondern ihre Auswirkung auf den Charakter der Hauptfigur. Die Hauptfigur durchläuft eine Entwicklung und ist am Ende verwandelt. Es wird aber keine ganze Lebensgeschichte erzählt.

 

Ich hoffe, die novellenartig knappe Darstellung macht den Unterschied zum Roman deutlich. Da sich heute viele Romane auch an der Dramen- bzw. Filmtechnik orientieren, sind sie eigentlich nur sehr, sehr ausführliche Novellen.

 

Das Dingsymbol ist natürlich die Wurscht. Weil es eben um die Wurscht geht. Oder?

 

Liebe Grüße

Andreas

"Wir sind die Wahrheit", Jugendbuch, Dressler Verlag 2020;  Romane bei FISCHER Scherz: "Die im Dunkeln sieht man nicht"; "Die Nachtigall singt nicht mehr"; "Die Zeit der Jäger"

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Ich muss gleich los und kann mich erst spät abends wieder melden. Danke für so viel Frage und Antwort bisher schon.

 

Andreas, bei dem, was du zur Novelle sagst klingelt bei mir auch was irgendwo in den hinteren Gedächtniskammern. Ich glaube, es würde sich lohnen, die Currywurst daraufhin anzuschauen.

 

Und noch schnell zum Dingsymbol. Es wimmelt davon: der Pullover, das Reiterabzeichen, das Kreuzworträtsel, die Wurst natürlich. In der Sekundärliteratur wird auch die Feldplane genannt, die find ich jetzt nicht so sehr ergiebig. Aber das Kreuzworträtsel ist ein richtiges Versteck für Entschlüsselungsmomente, ein Punkt, an dem ganz viele Fäden zusammen laufen. Was macht der Bremer damit? Wieso rätselt er? Was fällt ihm ein? Tilsit! Das geflügelte Pferd? Nein, davon hat er keine Ahnung. Und "Novelle" - kennt er auch nicht. Aber am Schluss steht das Wort ja dann doch drin! Also hat er das Rätsel doch gelöst! Ich bin erst dieses Mal beim Lesen drauf gekommen, warum mich der Schluss bei diesem Buch in solche Hochstimmung versetzt. Deswegen. Weil auch ein Bremer über diesen Zwangsurlaub bei Lena Brücker so was gelernt hat.

 

Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

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Mir scheint die Wurst nur ein dingsymbol in parodierter Form zu sein. Sie ist nicht wirklich das Thema des Buches. Außerdem möchte ich nochmals für die feldplane plädieren, da meine ich steckt die ganze Geschichte drin.

"Dem von zwei Künstlern geschaffenen Werk wohnt ein Prinzip der Täuschung und Simulation inne."  

AT "Aus Liebe Stahl. Eine Künstlerehe."

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Erstmal ganz kurz zum "Leseerlebnis"  :s13

Für mich war die Currywurst neu, hab sie also extra für hier gelesen, als Curryextrawurst. Hab mich gemächlich in die Geschichte gleiten lassen, den Text selbst als erstmal gemächlich empfunden. Ich mochte gleich dieses Ineinandergleiten Erzähler / Frau Brücker jetzt / Frau Brücker früher / Bremer und alles was noch zur Geschichte der Currywurst gehört oder sich hineindrängen will. Und auf einmal war ich gefangen. Als die zwei "Nutten aus dem Billigpuff" die ersten Currywurste der Geschichte essen, sind mir ob ihrem "det macht Musike" und "det isses, wat da Mensch braucht" die Tränen in die Augen geschossen. Als dann Bremer wieder schmecken konnte, habe ich endgültig ein Taschentuch gebraucht, möglichst unauffällig, ich saß im gut besetzten Bus.

Warum diese Wirkung? (außer, dass ich grundsätzlich eher nah am Wasser gebaut bin) - ich freu mich drauf, (u.a.) das hier mit euch herauszufinden.

 

Novelle

Darüber wusste ich bisher auch nicht recht viel, danke Andreas für die knackige Erklärung. Gemessen an den Kriterien, die du anführst, ist die Currywurst geradezu eine Bilderbuchnovelle:

 

- Hauptstrang ohne Verzweigung in Nebenhandlungen

Wie Claudia schon geschrieben hat, können wir mitverfolgen, wie der Erzähler Hereindrängendes kappt, weil es nicht zur Currywurst gehört (die Gechichte der Denunziantin, aber auch mancherlei, was Frau Brücker einschmuggeln will).

 

Der Vater des Erzählers, dachte ich erst, wäre nur durch Vitamin B in die Novelle gekommen, aber dann näht er am Ende den Pelzmantel!

 

- die Zahl der Figuren und Handlungsorte ist begrenzt

Stimmt auch, oder? Von Bremers Frau und Kind erfahre ich, damit ich erfahren kann, dass er sie verschweigt, sogar verleugnet. Wehrs Geschichte zeigt, welche Gefahr durch Lammers droht. "Braucht" es Holzinger? Jedenfalls gehört er zu Frau Brückers Arbeitsort. Holger? Gibt dem Schauplatz Altersheim ein Gesicht. Ach ja, und zeigt, dass die Zeit der Currywurst abgelaufen ist: Er mag keine.

 

- Die Novelle ist formal streng, das heißt sie erlaubt keine essayistischen Einschübe,  lyrische Stimmungsbilder oder dergleichen

Scheint mir auch eingehalten zu sein.

 

- Sie arbeitet mit Vorausdeutungstechniken, z. B. Dingsymbolen

Wie Angelika und Claudia sehe ich auch mehrere Dingsymbole, also mit (möglicher) Bedeutung aufgeladene Gegenstände:

- die Currywurst (es geht um die Wurscht, finde ich auch)

- die Plane: schützt Frau Brücker und den Bootsmann auf dem ersten und letzten gemeinsamen Heimweg; bildet das Vordach der ersten Currywurstbude und ersetzt eine alte, zerschlissene Plane; kennt der Erzähler selbst als alt und zerschlissen, nun ihrerseits mit einer Plastikplane verstärkt/überdeckt

- den Pullover

- das Kreuzworträtsel

 

Gibt es eine sinnvolle Definition für so ein "Dingsymbol"? Es würde sich ja noch manches anbieten, wie das Reiterabzeichen.

 

- Der Erzähler bzw. der Erzählvorgang ist in der Regel sehr präsent.

Eindeutig. Es beginnt damit, dass sich der Erzähler nach einem von vielen Wer-hat-die-Currywurst-erfunden-Gesprächen auf die Suche macht. Es endet damit, dass der Erzähler das Originalrezept bekommt - mit den Ingredienzien der "Novelle" im Kreuzworträstel auf der Rückseite.

 

- Aufhänger bzw. Auslöser der Handlung ist stets eine „unerhörte Begebenheit“, Gegenstand ist aber nicht diese Begebenheit selbst, sondern ihre Auswirkung auf den Charakter der Hauptfigur.

Als "unerhörte Begebenheit" würde ich werten, dass Bremer fahnenflüchtig wird und dann natürlich, dass Frau Brücker ihm vorspielt, der Krieg sei noch nicht zu Ende.

 

- Die Hauptfigur durchläuft eine Entwicklung und ist am Ende verwandelt.

Ist sie das? Gute Frage...

 

- Es wird aber keine ganze Lebensgeschichte erzählt.

Stimmt.

 

Jueb, wo und wie steckt für dich die ganze Geschichte in der Feldplane?

 

Liebe Grüße,

Reingard

 

edit: verständlichkeitsfeindlichen Tippfehler korrigiert

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Hallo Reingard,

 

deinen Leseeindruck mit Analyse finde ich sehr erhellend, danke! Genauso wie Andreas' Germanistikstudiumserinnerungen.

Aber wenn Jueb zwischendurch immer mal ein kleines die feldplane ist das dingsymbol einstreuen könnte ... das hat was. Absolut. So sind wir schon mal 'n tolles Team ...

Liebe Grüße

(ich weiß, der Beitrag bringt uns gar net weiter, musste aber sein)

Claudia

Baronsky&Brendler: Liebe würde helfen  Ein Staffelroman 
Februar 21, Kampa

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Erst mal nur kurz: Falls ihr es heute gegen Mittag mehrfach klatschen gehört habt, war ich das, wie ich mir mit der Hand vor die Stirn schlug. Ich hatte nämlich gleich zwei Aha-Erlebnisse (sagt man das noch?):

 

- Wo ist die strenge Form der Novelle? Mein erster Leseeindruck ging nämlich in die entgegengesetzte Richtung, mich hat vor allem das Verschlungene beeindruckt und beschäftigt. Aber dank Claudia sehe ich jetzt sowohl die strenge Handlung (die Geschichte von Lena und Bremer) als auch den Rahmen um diese Handlung, in der uns erzählt wird, wie der Ich-Erzähler diese Novelle aus einem ganzen Gewirr von Geschichten herauspräpariert.

 

- Und die Dingsymbole. Da hat mich nämlich juebs Feldplane völig überzeugt. Klar gibt es viele Gegenstände, die immer wieder leitmotivisch auftauchen, aber das Ding, das den Hauptkonflikt symbolisiert (wie Wikipedia es sagt) - das ist für mich die Feldplane. jueb, ich bin auf deiner Seite!

 

Liebe Grüße

 

Barbara

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Nun komme ich nochmals mit der Feldplane, ich meine da steckt drin: der Krieg, die Liebesgeschichte, ihr Scheitern und die Erinnerung an das verronnene Glück. Die Feldplane wurde mehrfach zweckentfremdet und dabei gewissermaßen humanisiert: als Liebesnest, als Windschutz für die gebratenen Currywürste usw. Das finde ich ein sehr starkes, dichtes Bild...

 

Was die Dingsymbolik im Allgemeinen betrifft, bin ich mir allerdings nicht sicher, ob der Autor da nicht etwas übertrieben hat. Sehr viele Gegenstände oder auch Momente der Geschichte werden symbolisch aufgeladen und dabei auch ein Bisschen plakativ ausgestellt - so dass der Leser sofort weiß: Vorsicht! Das bedeutet noch mehr als nur das Buchstäbliche! Und das lässt sich dann mitunter - finde ich - zu glatt interpretieren. Ich bin mir da wirklich nicht ganz sicher, ob ich das immer gut finde. Auf der einen Seite macht es natürlich Spaß, nach den zusätzlichen Bedeutungsebenen zu suchen, auf der anderen Seite empfinde ich das manchmal etwas gewollt, und auch ein Bisschen didaktisch.

 

Ich hoffe, ich habe mich da halbwegs verständlich ausgedrückt...

 

Für mich ist das Buch alles in allem eine vorbildliche Umsetzung der klassischen Novellenform, wie ich sie während meines Germanistikstudiums gelernt habe. Aber das ist - fragt nicht! - auch schon lange her...

 

Herzlichst

jueb

"Dem von zwei Künstlern geschaffenen Werk wohnt ein Prinzip der Täuschung und Simulation inne."  

AT "Aus Liebe Stahl. Eine Künstlerehe."

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Novelle: Fäden statt Stränge und der Erzähler selbst lässt uns teilhaben, welche Fäden er weiterverfolgen will oder nicht. Er legt seine Prämisse offen: Ihn interessiert nur, was mit der Currywurst zu tun hat, alles andere, was Frau Brücker ihm an "Romanhandlung" aufdrängen will, versucht er, wegzudrängen, ganz offen, vor unseren Augen.

 

So, da stimme ich nur bedingt zu. Denn dass er immer wieder auf die Currywurst zurückkommt, eröffnet doch erst der Frau Brücker die Rolle einer ironisierten Scheherezade. Der Ich-Erzähler besucht sie, um zu erfahren, ob und wie sie die Currywurst entdeckt hat. Das ist sein Ziel, sobald er es weiß, geht er wieder. Und Frau Brücker, einsam im Altersheim, hat endlich einen Zuhörer. Den lässt sie sie sich so wenig gleich wieder wegnehmen wie Jahre vorher den Bremer:

 

Ja, sagte sie. Ich hab die Currywurst entdeckt.

Und wie?

Is ne lange Geschichte, sagte sie. Musste schon n bisschen Zeit haben. p. 18

 

Ganze sieben mal muss er sie besuchen. Wäre es wirklich nur um die Entdeckung der Currywurst gegangen, hätte Frau Bremer das auch in protokollarischer Kürze runternudeln können: War nach dem Krieg, Tauschhandel, diese Idee mit der Wurst und dann noch Currypulver - hat mir einer eingeredet - der Unfall auf der Treppe und zack.

 

Das macht sie nicht, sondern benützt das Interesse des Zuhörers an der Wurst, um die schönste Geschichte ihres Lebens zu erzählen. Und um überhaupt zu erzählen. Denn das hat sie schon früher gern gemacht:

 

Das ist meine Erinnerung: Ich sitze in der Küche meiner Tante in der Brüderstraße, und in dieser dunklen Küche, deren Wände bis zur Lamperie mit einem elfenbeinfarbenen Lack gestrichen sind, sitzt auch Frau Brücker, die im Haus ganz oben unter dem Dach wohnt. Sie erzählt von den Schwarzmarkthändlern, Schauerleuten, Seeleuten, den kleinen und großen Ganoven, den Nutten und Zuhältern, die zu ihrem Imbissstand kommen.

 

So - und jetzt kommt schon der nächste Dreh: Am Ende erzählt ja doch der Erzähler die Geschichte. Der benützt wieder das Interesse der Frau Brücker an ihrer Liebesgeschichte, um den Leser bei der Stange zu halten. Und zwar doppelt. Denn jetzt will man ja nicht nur wie angeblich er selbst wissen - Was ist denn nun mit der Wurst? - sondern auch: Was ist mit Bremer und Lena?

 

Und noch eine Windung: der Erzähler selbst, der ja nur wissen wollte, wie die Wurst denn nun ... - nachdem es um die Frage ging, was denn einen guten Liebhaber ausmacht und nachdem die Rede von einem Briefe schreibenden weiteren Lover namens Klaus war, bringt das den Erzähler selbst aus dem Konzept. Er fragt jetzt aus der Geschichte raus und Frau Brücker ist es, die ihn wieder rein treibt:

 

... die Briefe, ein paar von ihrem Sohn und, säuberlich gebündelt, vor allem die von ihm, Klaus, dem Vetreter für Knöpfe. Wer ist das?, fragte ich. Das is, sagte Frau Brücker, ne andere Geschichte. Hat nix mit der Currywurst zu tun. p. 112

 

So unauffällig sagt er hier was über das Schreiben: Dass eine gut erzählte Geschichte alles mögliche ändern kann. Und zwar in Richtung - alles wird gut, alles fügt sich. So wie aus der ganzen Bremergeschichte über den Ringtausch dann am Ende doch noch diese Wurst rausspringt. So lese ich es jedenfalls.

 

Deshalb gehts mir auch wie dir Reingard, mich rührt das Buch auch und immer wieder. Dass wir dem Warum dabei nachgehen, ist also ganz in meinem Sinne (man muss doch wissen, weshalb man flennt!)

 

jueb - ich bin überzeugt. Die Feldplane ist auch ein Dingsymbol!

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

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- Wo ist die strenge Form der Novelle? Mein erster Leseeindruck ging nämlich in die entgegengesetzte Richtung, mich hat vor allem das Verschlungene beeindruckt und beschäftigt. Aber dank Claudia sehe ich jetzt sowohl die strenge Handlung (die Geschichte von Lena und Bremer) als auch den Rahmen um diese Handlung, in der uns erzählt wird, wie der Ich-Erzähler diese Novelle aus einem ganzen Gewirr von Geschichten herauspräpariert.

 

Herauspräpariert, du sagst es, Barbara. Und an allen Seiten hängen noch die Fäden rum, die diese Geschichte mit vielen anderen verbinden: die der Tante, die man nicht besuchen durfte, die von Klaus, dem Knöpfevertreter, die von Bremers Familie, vom Reiterabzeichen, von Gary, der vor die Tür gesetzt wurde ...

 

Die klassischen Novellen - Kleists Marquise von O. und Boccaccios Falkengeschichte - sind personalbezogen da doch eher spärlich bestückt. Die gehen wirklich nur auf diese unerhörte Begebenheit los. Timm hat seine Begebenheit mit einem ganzen Kosmos außen rum und innen drin verwoben. Das macht das Realistische daran für mich aus.

 

Und ist das nicht die wundervollste Art mit einer alten Kunstform umzugehen? Dass man sie erhält, indem man sie erneuert? Kennt ihr das Sonett von Gernhardt "Ich find Sonette so was von beschissen"? - Daran erinnert mich die Currywurst in methodischer Hinsicht auch.

 

Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

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So - und jetzt kommt schon der nächste Dreh: Am Ende erzählt ja doch der Erzähler die Geschichte.

Ich glaube auch, man muss unterscheiden, was der Ich-Erzähler zu tun behauptet - nämlich der Entdeckung der Currywurst nachforschen - und was der Erzähler tatsächlich tut: nämlich die Geschichte von Lena und Bremer erzählen.

 

Vielleicht kann man sagen, dass es den Erzähler doppelt gibt? Einmal den Ich-Erzähler, der sich innerhalb der (Rahmen-)Geschichte befindet, der Frau Brücker Torte mitbringt und sich an seine Kindheit erinnert, der sich immer mal wieder von seiner Neugier auf Seitenwege locken lässt, um dann wieder an passender oder auch unpassender Stelle zu fragen: "Aber wie war das jetzt mit der Currywurst?" Und dann gibt es denn (Ich-)Erzähler, der zielstrebig und geordnet erzählt, wie Lena und Bremer sich kennenlernen, wie sich der Konflikt zwischen ihnen aufbaut und steigert, wie sie sich trennen und am Ende noch einmal wiedersehen. Da wird er ja zum allwissenden Erzähler, der lässig auch Bremers Perspektive einnehmen kann und dann Dinge über Bremer weiß, die Lena Brücker vermutlich nicht wusste.

 

Aber ich greife vor, merke ich gerade. Wir sind ja noch beim Thema Novelle.

Dazu würde ich euch gern noch etwas fragen. Andreas schrieb oben:

 

Aufhänger bzw. Auslöser der Handlung ist stets eine „unerhörte Begebenheit“, Gegenstand ist aber nicht diese Begebenheit selbst, sondern ihre Auswirkung auf den Charakter der Hauptfigur.

Das auf die Currywurst anzuwenden, bereitet mir noch Probleme. Was ist für euch die "unerhörte Begebenheit"? Bremers Fahnenflucht? Mir fällt es etwas schwer, das für die Zeit so kurz vor Kriegsende als "unerhört" zu betrachten, aber vielleicht sehe ich das zu eng? Was meint ihr?

 

Herzliche Grüße

 

Barbara

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Ja, das ist eine Frage, Barbara!

 

Die zwei Top-Novellen, die mir einfallen, haben je eine unerhörte Begebenheit. Bei der einen schlachtet der Ritter den heiß geliebten Falken, um dessentwillen die verehrte Dame ihn nur aufgesucht hat. In der anderen wird eine aristokratische junge Witwe schwanger und weiß partout nicht, wie das passiert sein könnte.

 

So was gibt es in der "Currywurst" nicht, finde ich. Ein junger Krieger bleibt lieber zu Haus beim letzten Gefecht - unerhört? Eine nicht mehr ganz junge Frau leistet sich einen junger Lover - unerhört? Die Art, wie sie ihn sich erhält, ist originell - unerhört jedoch nicht . Sie erfindet ein Kochrezept ... und auch die kleineren Geschichten außen rum - der schmuggelnde Gary, der Ringtausch... So schön sie erzählt sind, stammen sie alle aus dem Bereich des - zumindest damals - Alltäglichen.

 

Das ist auch einer der Gründe, warum ich denke, dass Timm diese strenge Form der Novelle gewählt hat, um darin einerseits (fast) alle Register zu ziehen mit Dingsymbol und Drum und Dran. Und sie gleichzeitig erzählt, dass man das Gefühl hat - die Leute kenn ich, das ist so passiert. Eben nicht: Unerhört. Sondern - so könnte es gewesen sein. So was flicht er sogar in die Rede der Frau Brücker ein, als sie das Verschwinden Bremers beschreibt:

Und was er seiner Frau für eine Geschichte erzählen würde, war ihr egal. Denn die Geschichte, seine, ihre Geschichte konnte er niemandem erzählen, das war keine dieser Kriegsgeschichten, die überall und immer wieder die Runde machten. Das war keine Stammtischgeschichte.

Das ist eine Geschichte, die nur ich erzählen kann. es gibt darin nämlich keine Helden.

 

Am Ende geht es deshalb vielleicht auch um die Einsicht: Es geht, man kann eine Novelle schreiben, also Kunst, Literatur, E und all so was, die Spaß macht! Die alle Leute unterhält. Für diese Novelle muss man kein gesalbter Literaturkenner sein, um sie zu genießen.

 

Könnte doch sein, oder?

Angelika

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Guten Abend,

meiner Meinung nach erfüllt die Novelle auch das Kriterium der unerhörten Begebenheit, nämlich: Lena behauptet einfach, der Krieg geht weiter, um ihren Geliebten zu behalten, das ist meiner Meinung nach auch die interessanteste Verhaltensweise in der ganzen Geschichte. Es erinnert mich übrigens an goodbye lenin.

LG jueb

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Ihr Lieben,

ich hinke noch ein bisschen hinterher, nicht mit lesen, aber mit hier mitmachen. Aber gegen WE wird es bei mir ruhiger. Derweil lese ich begeistert und wild mit dem Kopf nickend mit :-)

 

Guten Abend,

meiner Meinung nach erfüllt die Novelle auch das Kriterium der unerhörten Begebenheit, nämlich: Lena behauptet einfach, der Krieg geht weiter, um ihren Geliebten zu behalten, das ist meiner Meinung nach auch die interessanteste Verhaltensweise in der ganzen Geschichte. Es erinnert mich übrigens an goodbye lenin.

LG jueb

 

Mir ging es mit der unerhörten Begebenheit wie dir, Jueb. Dass Lena einfach behauptet, der Krieg geht weiter, um ihren Geliebten zu behalten, das war für mich die unerhörte Begebenheit.

 

Liebe Grüße

Lisa

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Als unerhörte Begebenheit sehe ich auch das Kriegverlängern. Den Vergleich mit Goodbye Lenin finde ich klasse. Wobei der Sohn dort die DDR weiter bestehen lässt, um die Mutter zu schonen. Lena Brücker lässt den Krieg weiter bestehen, um Bremer länger für sich zu haben.

 

Erst dachte ich, eine unerhörte Begebenheit sei auch noch die Fahnenflucht - aber das war wohl zu häufig in den letzten Kriegstagen und nur für das System "unerhört", für viele Zeitgenossen aber nicht - und gewiss nicht für uns Leserinnen und Leser.

 

Fraglich finde ich, ob sich der Erzähler mit der Lena/Bremer-Geschichte von der Currywurst entfernt. Einerseits stimmt's natürlich. Andererseits: "Det macht Musike" ist doch nur so herzanrührend, weil wir wissen, wie viel nötig war, um diesen unerhörten Geschmack zu "entdecken". (Weil er zufällig aus einem Missgeschick entstand, passt entdecken wohl doch besser als erfinden.) Ohne erfundene Kriegsverlängerung keine Lachtraum-Currygeschichte, und ohne diese Geschichte und Bremer hätte sich Lena beim grandiosen Tauschgeschäft nicht für Curry entschieden.

 

Also: Ich finde, Bremer und die Liebesgeschichte sind unerlässlich für die Entdeckung der Currywurst, keinesfalls ein Abweg, auf den der Erzähler gerät.

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Ohne erfundene Kriegsverlängerung keine Lachtraum-Currygeschichte' date=' und ohne diese Geschichte und Bremer hätte sich Lena beim grandiosen Tauschgeschäft nicht für Curry entschieden.[/quote']

 

Allerdings, Reingard.

 

Lisa und jueb - für euch ist also die Lüge der Lena unerhört?

 

Dann ist unerhört, dass eine Frau nach einer schönen Nacht den Kerl in den Krieg/Endsieg/Tod ziehen lassen will,

unerhört, dass sie ihren Geliebten nicht einfach zu seiner Frau zurückgehen lassen will,

unerhört, dass eine alternde Frau sich nicht eingestehen will, dass sie alt wird,

unerhört, dass sie deshalb - so richtig gar nicht lügt und ein Gebäude um die Lüge herum errichtet wie der Junge in Good bye Lenin, sondern nur - ein bisschen was von der Wahrheit wegschweigt bzw auf später verschiebt.

 

Nein, da überzeugt ihr mich bis jetzt nicht. Nach wie vor fände ich das Unerhörte darin, dass diese Novelle - so sehr sie alle Kriterien erfüllt - nix Unerhörtes sagen will (und darin eine programmatische Botschaft hat: Kunst ist nix Elitäres. Kann richtig gut schmecken. Allen.)

 

Und dito Reingard - du hast es ja selbst wieder zurücknehmen wollen mit der Fahnenflucht. Aber wenn du noch mal hinsiehst - was der Bremer macht, ist doch noch viel nixiger als eine Fahnenflucht: Er weiß bis zuletzt nicht so recht, was er tun soll und bleibt dann einfach lieber im warmen Bett liegen. Das ist so was von normal!

 

Aber es ist natürlich nicht schlimm, wenn wir uns über diese eine Sache nicht einigen. Sollen wir darüber noch ein bisschen weiter streiten? Oder Barbaras Gedanken angehen, dass es hier mehr als einen Erzähler gibt?

 

Angelika, "unerhört, unerhört", vor sich hin murmelnd

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Oh ihr Götter, ihr Götter, wie weit seid ihr schon gekommen.

 

Angelika - äh, wir haben uns gar nicht widersprochen!

Denn dass er immer wieder auf die Currywurst zurückkommt, eröffnet doch erst der Frau Brücker die Rolle einer ironisierten Scheherezade.

Yo! Der "disziplinierte" Erzähler und die romanhaft ausufernde Frau.

Der Ich-Erzähler besucht sie, um zu erfahren, ob und wie sie die Currywurst entdeckt hat. Das ist sein Ziel, sobald er es weiß, geht er wieder.

Eben, und sie hält ihn fest wie damals den Bremer, saach isch doch. (Anscheinend kann ich mich nur nicht so ausdrücken, dass man mich versteht).

Ja, der Erzähler wird selbst so in dieses verschlingend Romanhafte reingezogen, dass er dem selbst verfällt, er forscht in den Archiven nach, er ruft sich selbst zur Ordnung, dann will er wissen, was eigentlich mit diesem Klaus, diesem Vertreter ist und wird prompt von Frau Brücker diszipliniert, genau diese Stellen machen den zärtlichen Charme der Geschichte aus ... (für mich).

 

So - und jetzt kommt schon der nächste Dreh: Am Ende erzählt ja doch der Erzähler die Geschichte. Der benützt wieder das Interesse der Frau Brücker an ihrer Liebesgeschichte, um den Leser bei der Stange zu halten. Und zwar doppelt. Denn jetzt will man ja nicht nur wie angeblich er selbst wissen - Was ist denn nun mit der Wurst? - sondern auch: Was ist mit Bremer und Lena?

Ja, das ist ein - jetzt benutze ich das Wort ganz bewusst - genialer Trick.

 

Bin gespannt, was wir über den Erzähler herausfinden, wenn wir in die Sprache und die Grammadigg einsteigen ...

 

Zur unerhörten Begebenheit. Mein erster Gedanke war (bevor ich eure gelesen habe) Unerhört ist, dass die Bude von Frau Brücker weg ist (mitsamt der FELDPLANE!), dass sich etwas geändert hat, das wie unvergänglich schien. (ääh ... naja. Ich habs halt gedacht und werfs mal ein.)

 

Ganz ehrlich: Die Novelle und ihre Eigenheiten interessieren mich hier weniger ... es ist ja auch nicht so, dass heute keine mehr geschrieben werden, die letzte, die ich las, ist von Dirk Kubjuweit: Zweier ohne, ich glaub von 2002.

Es geht, man kann eine Novelle schreiben, also Kunst, Literatur, E und all so was, die Spaß macht! Die alle Leute unterhält. Für diese Novelle muss man kein gesalbter Literaturkenner sein, um sie zu genießen.

Sicher. Als ich das Buch das erste Mal las (ich war jung und hatte das Geld für ein Taschenbuch von Kiwi), hab ich keinen Gedanken an Novellen und gesalbte Literaturkenner verschwendet. Ich finde, dass er die Form meisterlich nutzt, wie dies ja z.B. auch viele neue Komponisten tun.

 

Vielleicht kann man sagen, dass es den Erzähler doppelt gibt? Einmal den Ich-Erzähler, der sich innerhalb der (Rahmen-)Geschichte befindet, der Frau Brücker Torte mitbringt und sich an seine Kindheit erinnert, der sich immer mal wieder von seiner Neugier auf Seitenwege locken lässt, um dann wieder an passender oder auch unpassender Stelle zu fragen: "Aber wie war das jetzt mit der Currywurst?" Und dann gibt es denn (Ich-)Erzähler, der zielstrebig und geordnet erzählt, wie Lena und Bremer sich kennenlernen, wie sich der Konflikt zwischen ihnen aufbaut und steigert, wie sie sich trennen und am Ende noch einmal wiedersehen. Da wird er ja zum allwissenden Erzähler, der lässig auch Bremers Perspektive einnehmen kann und dann Dinge über Bremer weiß, die Lena Brücker vermutlich nicht wusste.

 

Jaaa ... darüber möcht ich mehr wissen!

Liebe Grüße, ich hoff, ich war nicht zu chaotisch

Claudia

Baronsky&Brendler: Liebe würde helfen  Ein Staffelroman 
Februar 21, Kampa

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Ach so, und weil es so aussehen könnte, als würde ich mich über die Feldplane lustig machen, mitnichten. Ich finde diesen Gedanken:

Nun komme ich nochmals mit der Feldplane, ich meine da steckt drin: der Krieg, die Liebesgeschichte, ihr Scheitern und die Erinnerung an das verronnene Glück. Die Feldplane wurde mehrfach zweckentfremdet und dabei gewissermaßen humanisiert: als Liebesnest, als Windschutz für die gebratenen Currywürste usw. Das finde ich ein sehr starkes, dichtes Bild...
sehr einleuchtend, kam noch nicht darauf.

Liebe Grüße

Claudia

Baronsky&Brendler: Liebe würde helfen  Ein Staffelroman 
Februar 21, Kampa

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Lisa und jueb - für euch ist also die Lüge der Lena unerhört?

 

Dann ist unerhört, dass eine Frau nach einer schönen Nacht den Kerl in den Krieg/Endsieg/Tod ziehen lassen will,

unerhört, dass sie ihren Geliebten nicht einfach zu seiner Frau zurückgehen lassen will,

unerhört, dass eine alternde Frau sich nicht eingestehen will, dass sie alt wird,

unerhört, dass sie deshalb - so  richtig gar nicht lügt und ein Gebäude um die Lüge herum errichtet wie der Junge in Good bye Lenin, sondern nur - ein bisschen was von der Wahrheit wegschweigt bzw auf später verschiebt.

 

Liebe Angelika,

was du da aufzählst, ist für mich die Begründung, warum diese Frau das macht - und da stimme ich dir voll und ganz zu. Aber die Verschiebung des Krieges an sich ist für mich die unerhörte Begebenheit. Erstmal losgelöst von allem. Und das unerhört wird für mich eben genau durch das, was du aufzählst zu einem "ich versteh sie". Verstehst du, was ich meine? Ich hab grade wieder einen Knoten im Hirn vom vielen Buchstabenpuzzeln heute...

 

Liebe Grüße!

Lisa

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Meines Erachtens wird die „unerhörte Begebenheit“ (nicht unüblich für Novellen) bereits im Titel benannt. Es ist: „Die Entdeckung der Currywurst“. Sie bringt die Geschichte (oder besser: den Erzählvorgang) ins Rollen, weil der Erzähler partout meint, die Herkunft dieser Speise – nein, nicht sachlich aufklären zu müssen. Er will beweisen, dass sie in Hamburg erfunden wurde, von einer Frau Brücker, die er kennt und bei der er diese Wurst so gerne gegessen hat. Er ist also ein Historiker? Jein. Oder doch eher: Nein. Er ist ein Erzähler. Er tut genau das, was er entschieden von sich weist:

 

„Die meisten bezweifeln, daß die Currywurst erfunden worden ist. Und dann noch von einer bestimmten Person? Ist es nicht wie mit Mythen, Märchen, Wandersagen, den Legenden, an denen nicht nur einer, sondern viele gearbeitet haben? Gibt es den Entdecker der Frikadelle? Sind solche Speisen nicht kollektive Leistungen?

(…) Schon möglich, sage ich, aber bei der Currywurst ist es anders.“ (dtv-Ausgabe 9f)

 

Selbstverständlich tut der Erzähler dann genau das, was er vorgibt, nicht zu tun: Er erschafft einen Mythos. Krieg, Nazis, Fahnenflucht, Liebe, Ehebruch … Er spart nicht an saftigen Zutaten, alles bietet er auf. Natürlich ist nicht er derjenige, der sich da verplaudert und die Sache aufbläht (= überhöht): Es ist Frau Brücker. „Ist ne lange Geschichte, sagt sie. Mußte schon n bisschen Zeit haben.“ (dtv-Ausgabe 15) Na ja, die gute Frau erzählt dann von vielem, bloß wenn’s um die Wurst geht, bleibt sie lange wortkarg. So eilig kann es aber auch unser Erzähler nicht haben, sonst würde er ihren abschweifenden Bericht nicht mit Beschreibungen und Begebenheiten anreichern, die er selbst nicht in Erfahrung gebracht, sondern nur erfunden haben kann. (Ein zuverlässiger Historiker ist der Erzähler sicher nicht, aber ist er wenigstens ein zuverlässiger Erzähler? Zweifel sind angebracht. Das ist ihm bewusst: „auch wenn es mir niemand glauben wird“, sagt er über seine letzte erzählerische Volte [dtv-Ausgabe 187]. Man darf das meines Erachtens getrost auf den Gesamttext beziehen.)

 

Das Dingsymbol ist in meiner Lesart der Pullover. Nicht nur Frau Brücker strickt hier (blind) an einem Text(il), der Erzähler macht das nicht weniger. Aber seltsam: Am Ende wird trotzdem was Ganzes daraus. Ob es Uwe Timm darum ging zu zeigen, dass Kunst nichts Elitäres ist? Vielleicht, aber ich glaube, er wollte – sehr ironisch – zeigen, wie untrennbar Geschichte und Mythos ineinander verstrickt sind. Jeder strickt sich halt seine eigene Wahrheit.

 

So, nach diesen Nachgedanken geh ich ins Bett.

 

Liebe Grüße

Andreas

"Wir sind die Wahrheit", Jugendbuch, Dressler Verlag 2020;  Romane bei FISCHER Scherz: "Die im Dunkeln sieht man nicht"; "Die Nachtigall singt nicht mehr"; "Die Zeit der Jäger"

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Dem Schlaflosen gehört die Welt, wenn auch unfreiwillig :-)

Lustig, wie unterschiedlich wir die Currywurst lesen, was ja unbedingt für das Buch spricht... Wenn ich meine Leseeindrücke resümiere, kann ich tatsächlich sagen, dass mich der Erzählstrang um die Entdeckung der Currywurst eigentlich viel weniger interessiert, als alles andere, und je weiter die Geschichte voranschreitet, desto weniger interessiert mich dieser Baustein des Buches. Vermutlich deshalb, weil sie von Beginn an wie ein "joke" angelegt ist, wie eine humoristische Arabeske - klar ist doch früh, dass wir das, was uns da als Erfindung aufgetischt wird, nicht wirklich ernst nehmen können und auch müssen...

 

Das Kernthema bleibt für mich, Lenas Lüge oder auch Inszenierung, der Krieg dauert noch an. Und dieses Paradoxon ist herzzerreißend. Weil Lena nämlich damit ihre Liebe im selben Maße möglich macht - Liebe braucht Zeit, um wachsen und sich entfalten zu können - wie auch unmöglich: dem geliebten Menschen das Kriegsende vorzuenthalten ist so unverzeihlich, dass damit quasi auch das Liebesverhältnis keine Zukunft mehr hat - wenn es denn überhaupt je eine gehabt hat.

 

Irgendwie nehme ich dem Erzähler (ein Schelm?) auch deshalb nicht ab, dass für ihn angeblich die Erfindung der Currywurst das Ziel seines Erzählens ist...

 

Noch ein Gedanke. Wie klassisch die "Currywurst" als Novelle gebaut ist, zeigt mir auch ein Vergleich mit dem "Schimmelreiter" von Theodor Storm, der vermutlich bekanntesten Novelle Deutschlands, und millionenfach von Generationen im Deutschunterricht herauf- und herunterinterpretiert.  Dort gibt es einen Rahmenhandlung, die die "Binnenhandlung" - wie es im Fachjargon, glaube ich, heißt - spiegelt und so zu noch mehr Wirkung und Dramatik verhilft. Das gilt eben als sehr typisch für die Novelle und diesen Aufbau haben wir in der "Currywurst" auch...

 

Herzlichst

jueb

"Dem von zwei Künstlern geschaffenen Werk wohnt ein Prinzip der Täuschung und Simulation inne."  

AT "Aus Liebe Stahl. Eine Künstlerehe."

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