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Angelika Jo

Hier kommt Michelle

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Schon der Klappentext sagt, wie es um diesen Roman steht: Er ist

larmoyant, verbittert, arrogant, ungerecht und unpsychologisch; er enthält Stereotypen, Versatzstücke, Gesellschaftskritik, Verhöhnungen, Polemik und ein negatives Weltbild.

 

In der Tat, Michelle, eine „reizende junge Abiturientin mit einem schmalen, flinken Körper, einer raschen Auffassungsgabe und einer ausgeprägten Schwäche für Katzen“ könnte es in vielfacher Ausführung geben. So wie sie sich durch die – analog zum modernen Unibetrieb „Module“ genannten – vier Kapitel arbeitet, ist sie der papiergewordene studentische Input in eine Universität, wo die Studenten nach credit points schnappen, die wissenschaftlichen Mitarbeiter nach Drittmitteln, ein Mensch in der Verwaltung nach Entlassungsgründen für Vertreter unrentabler Fachbereiche und der Rektor nach dem Titel „Elite-Universität“. In so einem sozialen Gehäuse muss doch eine Entwicklung der Heldin drin sein, und die Erzählerin verpasst sie ihr prompt: Michelle wird brav studieren, dennoch einiges verschlampen, ihre erste Arbeit „fußnoten- und kommafrei“ abgeben, sich bei ihren Eltern und einem flaumweicher, jugendlicher Haut zugetanen älteren Professor ausweinen, wenn die Note nicht in ihrem Sinne war, sie wird eine Liebeskrise erleben und schließlich doch noch lernen, wie man Essays über ungelesene Bücher schreibt. Als sie gar eine Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft ergattert, ändert sich auch ihr Streben: Wollte sie vorher „was mit Kindern“ machen, so findet sie jetzt in der Uni „einen Sinn im Leben, jedenfalls vorübergehend“. Der Bologna-Prozess frisst seine Kinder.

 

Oder liegt die Lesefreude an der Erzählerin, die sich „die Hände reibt“ angesichts ihrer Simplifizierung der eigenen Heldin? Die es überdies schafft, neben Michelle, diesem „liebenswerten, verletzlichen Mädchen“ einen herrlichen Kosmos an Unipersonal zu zeichnen - stellvertretend sei hier der Keltologe Georg Hahnel präsentiert, der als Vertreter einer Orchideenwisssenschaft mit ganzen siebzehn Studenten als erster entlassen wird. Kurz nachdem der Rektor geruht hat, ihn zu fragen, warum

die Iren rote Haare haben. Georg Hahnel errötete sofort, mit dieser Frage hatte er nicht gerechnet, er könnte dem Rektor die altirische Metrik erklären oder die Heiligenviten des Mittelalters, aber doch nicht diesen touristischen Unsinn ... Nicht sehr redselig, was, sagte der Rektor leutselig, und tätschelte Georg Hahnel die Schulter, eine unerträglich väterliche Geste. Dann musterte er ihn kurz und wandte sich ab, und Georg Hahnel glaubte, im Blick des Rektors Ekel zu erkennen. Sobald es ging, schlich er sich weg und suchte im Institut nach den siebzehn Getreuen, aber niemand war da, und so ging er nach Hause, wo eine seiner Frauen auf ihn wartete (er lehnte Monogamie ab), die ihn mit Rückenmassage und Harfenklängen besänftigte, du musst mit diesem Arschloch nicht reden können, flüsterte sie ihm ins Ohr, es ehrt dich sogar, mach dir nichts draus.

 

Es ehrt den winzigen jos fritz.verlag, das Büchlein herausgebracht zu haben. Die zweite Auflage ist schon auf dem Markt, und da jetzt Bd. 1 auf dem Cover steht, darf der Leser sich auf eine Fortsetzung freuen.

 

Annette Pehnt, Hier kommt Michelle. Ein Campusroman. josfritz.verlag.

 

Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

www.angelika-jodl.de

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Hallo Angelika,

 

vielen Dank für diese interessante und Laune machende Rezension. Ich muss mir das Buch definitiv auf meine Liste setzen. Im Übrigen fühle ich mich gerade an den grandiosen Roman "Ich bin Charlotte Simmons" von Tom Wolfe erinnert, der quasi das amerikanische Pendant zu diesem Roman hier sein könnte. War eines meiner absoluten Lese-Highlights der letzten Jahre. Auch dort die Demaskierung der akademischen Bildung in epischer Breite.

 

Viele Grüße

 

Thomas

"Man schreibt nicht, was man schreiben möchte, sondern was man zu schreiben befähigt ist."&&- Jorge Luis Borges -

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Das freut mich, Thomas.

 

"Ich bin Charlotte Simmons" kenne ich. Epische Breite trifft zu, amerikanisch natürlich auch, aber ob die beiden Campusromane sonst noch kompatibel sind? Bei Wolfe haben wir einen klassischen Entwicklungsroman, in dem sich das hausbackene Landei nach allerlei qualvollen Erfahrungen zu einem besseren Menschen mausert.

 

Die "Entwicklungsschritte" der reizenden Michelle sind dagegen sehr doppelbödig gemeint. Und das ist neben der knappen Schreibe auch das außergewöhnlich Erfrischende an diesem Roman.

 

Da ich die Knappheit erwähne: Die Sexszene bei Wolfe ist eine seitenlang in allen Einzelheiten geschilderte Vergewaltigung. Madame Pehnt braucht für ihre Sexszene eine halbe Seite. Die hat mir für lang anhaltendes Gelächter (Zeugen vorhanden!) durchaus gereicht.

 

Herzlich,

Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

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Hallo Angelika,

 

gut, da geht der Roman von Pehnt dann wirklich in eine andere Richtung. Macht es nur umso spannender für mich zu lesen. :)

 

Allerdings habe ich interessanterweise das Buch von Wolfe ganz anders verstanden. Denn eigentlich habe ich die Entwicklung der Figur der Charlotte Simmons gar nicht so positiv gesehen - im Gegenteil: Sie ist zwar am Ende nicht mehr das hausbackene Landei, aber mMn nach ihrer Persönlichkeit beraubt und zu einem austauschbaren Rädchen im amerikanischen Gesellschaftssystem geworden.

 

Gut, aber das soll hier keine Diskussion über "Ich bin Charlotte Simmons" werden, sondern bleiben wir lieber bei Annette Pehnt. Lang anhaltendes Gelächter mit Zeugen ist jedenfalls für mich schon mal mehr als Grund genug, mir das Buch zu kaufen.

 

Viele Grüße

 

Thomas

"Man schreibt nicht, was man schreiben möchte, sondern was man zu schreiben befähigt ist."&&- Jorge Luis Borges -

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Tja, sieht so aus, als müsste ich beide Bücher lesen. Vielen Dank euch beiden.

Liebe Grüße

Claudia

Baronsky&Brendler: Liebe würde helfen  Ein Staffelroman 
Februar 21, Kampa

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Claudia - nachdem ich gerade gehört habe, dass du auf deine lustige Sexszene stolz bist - take first die Michelle. Wo die sich soeben hingebende Frau denken muss, dass das Denken der Hingabe nicht förderlich ist - da kommt einfach Frohsinn auf!

 

Schwer pathetisch,

Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

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Eine Sexszene? Nee, viele! Stolz bin ich nur darauf, niemals pathetisch geworden zu sein, obwohl ich doch so gern ... noch nicht mal bei der Sache mit den Zwerggeckos.

Wenn du meinst, dann bestell ich die Michelle (der Reim ist nicht beabsichtigt)

Hingabephilosphie, da kann ich nicht widerstehen.

Freu mich auf unsere Currywurst-Diskussionsschlacht

Claudia

Baronsky&Brendler: Liebe würde helfen  Ein Staffelroman 
Februar 21, Kampa

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