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Longlist des deutschen Buchpreises, Rezi zu Leseproben

Empfohlene Beiträge

Ich habe alle 20 Leseproben der Longlist gelesen und mir erlaubt, mir dazu eine Meinung zu bilden. Wer will, kann das im folgenden lesen. Allerdings möchte ich dreierlei vorausschicken:

 

1 – wer es unmöglich findet, die Bücher von Verlagen zu kritisieren, sollte das hier nicht lesen

2 – alle Meinungen beruhen einzig auf der (manchmal sehr kurzen) Leseprobe, müssen also nicht unbedingt die Bücher richtig beschreiben.

3 – alles ist natürlich meine persönliche Meinung, wer ebenfalls Leseproben gelesen hat oder ganze Bücher oder anderer Meinung ist oder überhaupt was dazu sagen will, ist gerne dazu aufgefordert.

 

Was mir auffiel, dass nicht nur viele Tiere vorkamen, sondern noch mehr Kinder und Jugendliche in den 50er-70er Jahrzehnten, in der DDR und der BRD.

 

Dass es einige Bücher gab, die mich an James Woods „hysterischen Realismus“ erinnerten, zeigt, wie sehr mich „Die Kunst des Erzählens“ beschäftigt hat, trotz all meiner Kritik an einigen Dingen daran.

Bei einigen Büchern hatte ich den Eindruck, dass wirklich möglichst viele nicht zusammenhängende Eigenschaften auserzählt wurden, in der Hoffnung, daraus werde sich ein Bild ergeben. Oder mit sprödem Stil & etwas Manierismus die Personen verjagt wurden. Erstaunlich, was einem alles auffällt, wenn man erst mal nur Leseproben liest.

 

Die meisten Leseproben haben mich trotz aller Kritik durchaus interessiert. Ich habe sie nach dem Amazon Bewertungssystem mit 1- 5 Sternen bewertet, natürlich bezieht sich die Bewertung nur auf die Leseproben.

 

Volker Harry Altwasser: Letzte Fischer (Matthes & Seitz, September 2011) ***

Ein Fischer vor dem Horn von Afrika, Angst vor Piraten und Hoffen auf den Ankauf spezieller Seefledermäusen, einer Fischart mit ebenso giftigen wie teuren Häuten.

Interessant, liest sich gut, aber es fehlt der Funke.

 

Jan Brandt: Gegen die Welt (DuMont, August 2011) ****

Ein Junge, schlecht in Englisch und die Englischlehrerin ist ohne Gnade in der tiefsten Provinz der Siebziger. Jan Brandt weckt seine Figuren zum Leben und tut etwas, was man eigentlich nicht tun sollte: Er wechselt unvermittelt mitten in der Szene die Perspektive vom Schüler in die Englischlehrerin und obendrein dann gleich in den Flashback. So was geht meist schief, doch hier gelingt es.

Macht Lust auf mehr

 

Michael Buselmeier: Wunsiedel (Das Wunderhorn, März 2011) **

Ein junger Schauspieler in den Sechzigern, hätte gern die große Rolle, hat aber nur eine Verpflichtung an einem Provinztheater bekommen. Nun sitzt er im Zug und ihm fallen alle möglichen Einzelheiten auf, die wohl den Text lebendig machen und im Leser Bilder wecken sollen, leider tun sie genau das nicht.

 

Leon und Louise, Alex Capus, Hanser *****

Die Familie Le Gall beerdigt ihren Patriarchen und zwar in Notre Dame. Der ist zwar wie alle Le Galls strikt gegen die Pfaffen, doch Notre Dame zur Totenmesse war sein lange gehegter Wunsch.

Klar: Wir haben es mit einem Familienroman zu tun. Auch hier kommt der Autor vom Hölzchen aufs Stöckchen, aber er versteht es, durch Szenen seine Geschichte lebendig zu machen, die Hölzchen und Stöckchen wachsen im Leser zu einem Baum zusammen und auch der Erzähler wird lebendig, etwas, vor dem offenbar viele Literaten mehr Angst haben als der Papst vor Präservativen.

Zweifelsohne „gehobene Unterhaltung“ wie Kritiker empört angemerkt haben, aber lockt zum Weiterlesen.

 

Wenn wir Tiere wären, Wilhelm Genazino, Hanser ***

Auch hier geht ein Mann und zwar durch sein Viertel, das verfällt und in dem nur noch alte Leute leben. Er ist Architekt und der Freund, der ihm immer Aufträge zuschanzte, gerade gestorben. Der Mann fühlt sich vom Leben ein bisschen schlecht behandelt und hätte das gerne durch Taten ein bisschen außerhalb der Legalität kompensiert, doch im Gegensatz zum verstorbenen Freund traut er sich nicht.

Das verfallende Umfeld wirkt ein wenig wie Science Fiction, eine untergehende Zivilisation und liest sich gut. Genazino versteht sein Handwerk. Aber was will er eigentlich erzählen?

 

Navid Kermani: Dein Name (Hanser: Augus 2011) ***

Ein Iraner und der alte Vater wird am Herzen operiert. Anfänglich sehr gut, verliert sich aber bald in Details.

 

Esther Kinsky: Banatsko (Matthes & Seitz, Januar 2011) ***

Im hintersten Ungarn steht ein Apfelbaum und der Mann der die Äpfel liebt, steigt eines Tags in den Baum und bleibt dort sitzen. Poetisch und doch wird es bald blaß

 

Angelika Klüssendorf: Das Mädchen (KiWi, August 2011) ***

Es regnet Scheiße, ein zwölfjähriges Mädchen und sein kleiner Bruder sind in einer Wohnung eingesperrt. Die Mutter prügelt und das Mädchen zwingt den Bruder, sich zu verkleiden, was dieser auch nicht mag. DDR Provinz.

Stellenweise interessant, aber so richtig springt der Funke nicht über

 

Gruber geht, Doris Knecht, Rowohlt **

Gruber geht, fliegt und denkt an Dylan und die zahlreichen Frauen und welche er sich auswählen wird. Dazwischen liest er den Kurier, den Standard, Kronenzeitung, Faz, Financial Times (alles, während das Flugzeug seine Flughöhe erreicht) und gibt die anschließend (wen wunderts) an eine Frau in der Nachbarreihe weiter. Dazwischen denkt er und nimmt wahr und wie es heute in der Literatur üblich ist, sind es beliebige Dinge, die möglichst nichts miteinander zu tun haben sollten, aber sehr literarisch aussehen.

Nach der Hälfte der Leseprobe habe ich nur noch auch Pflichtgefühl weitergelesen. Trotz aller Hölzchen und Stöckchen bleibt der Erzähler blass und die Erzählerin auch.

 

Peter Kurzeck: Vorabend (Stroemfeld, März 2011) ***

Ebenfalls Jugend in der Provinz, diesmal Westdeutschland, Pubertät und die Angst des Jungen vor den Mädchen und welche Wünsche sie wecken.

Gut gemacht, nicht ganz mein Fall, aber das ist hier eindeutig Geschmackssache.

 

Ludwig Laher: Verfahren (Haymon, Februar 2011) ***

Ein Schubhäftling, ein AW, ein Ast aus Serbien, Antragsteller auf Asyl, die Familie ist im Haus verbrannt, das von Albanern angezündet wurde. Karge Sprache, die manchmal die Bürokratiesprache nachempfindet, manchmal auch nur maniriert wirkt.

 

Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg (Suhrkamp, September 2011) *****

Blumberg, ein geordneter, rationaler Mensch, erblickt plötzlich einen Löwen in seinem Zimmer, ist überzeugt, dass er ihn verdient, den Löwen, aber nicht sicher, wie er ihn behandeln soll. Hinter dem Ohr kraulen, wie seinen verstorbenen Hund geht wohl eher nicht. „Obwohl er sich ermahnte, ein unerschütterliches Vorbild der Ruhe abzugeben, raste sein Herz. Ein Löwe!

Ein Löwe!

Ein Löwe!

Natürlich hatte er keine Angst vor ihm.“

Ebenso gekonnt wie ungewöhnlich geschrieben, sicher eines der Highlights der Longlist.

 

Thomas Melle: Sickster (Rowohlt, September 2011) **

Auch hier wieder ein Jugendroman, diesmal Schüler nach dem Abitur. Sie wollen feiern, flippen aus. Doch die Personen bleiben blaß, Abkömmlinge reicher oder adliger Familien, wie sie klischeehafter kaum sein könnten und schnell verliere ich die Lust am Weiterlesen.

 

Klaus Modick: Sunset (Eichborn, März 2011) ***

Der Dichter Feuchtwanger an der kalifornischen Pazifikküste, erfolgsgewohnt, schreibt an Jefta und nach der Operation an der Prostata jetzt impotent, dabei wurde seine Arbeitskraft immer von Frauen befeuert. Ein hässlicher kleiner Jude, aber klug, klüger als die meisten, so sieht er sich selbst.

Auch hier trübt das ewige Drehen um sich selbst und eine etwas gewollt kapriziöse Sprache die Freude am Text, schade.

 

Astrid Rosenfeld: Adams Erbe (Diogenes Februar 2011) *****

Der Ich-Erzähler erzählt aus seiner Kindheit, der Vater sei tod, erzählte erst die Mutter, später gab sie zu, dass er sie verlassen habe und eigentlich waren sie nur einmal intim. Die Mutter wollte immer ein Kind. Dann weint der jüdische Opa um seinen jüngeren Bruder Adam, der im dritten Reich mit dem Geld für die Flucht ...

Noch eine Kindergeschichte, diesmal schnörkellos erzählt, reizt zum Weiterlesen.

 

Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts (Rowohlt, September 2011) *****

Alexander erlebt eine Kindheit in der frühen DDR, fast unmerklich, für das Kind im Hintergrund, die politische Bedrohung, bis plötzlich eine Verhaftung wegen falscher Marken eintritt und das Kind Angst bekommt. Die Mutter stammt aus Russland, war Partisanin, der Vater ein Deutscher, der vor den Nazis in die Sowjetunion flüchtete. Sehr dicht erzählt, sehr beunruhigend die Bedrohung im Hintergrund, obwohl die nur gerade eben wahrnehmbar ist.

Reizt zum Weiterlesen

 

Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe (Suhrkamp, September 2011) *

Inge Lohmark ist Biologielehrerin und glaubt an den Darwinismus (oder das, was sie dafür hält). Deshalb hat sie auch kein Mitleid mit den schwachen Schülern ihrer Klasse, die Schwachen werden ausgemerzt, so ist das eben in der Natur und so soll es auch in der Schule sein.

Ziemlich plakativ aufgesetzt, die Lohmark glaube ich der Autorin nicht und deren Neo-darwinistischen Theorien auch nicht, dazu sind sie einfach zu platt.

Froh war ich als die Leseprobe zu Ende war und ich nicht weiterlesen musste. Aber vielleicht weiß ich auch nur zuviel über Biologie.

 

Jens Steiner: Hasenleben (Dörlemann, Februar 2011) ****

Eine junge Frau, Mutter, will aber auch noch was erleben, nachts in Kellerkneipen und das mit ihren Kindern ist ihr eigentlich zuviel. Dann findet sie neue Arbeit in einem Hotel, die Kinder haben sich mit der flippigen Mutter arrangiert.

Dicht und poetisch an den Figuren entlang erzählt, gut

 

Marlene Streeruwitz: Die Schmerzmacherin. (S. Fischer, September 2011) **

Noch nie waren so viele Raubvögel gesehen worden, überlegt sich eine Frau. Und dann sitzt da ein Bussard, der nicht auffliegt, als sie vorbeifährt, was sie zu endlosen Gedanken anstachelt, die aber außer dem Griff zur Wodkaflasche nirgendwohin führen.

Sehr quälend und worum könnte es gehen? Um das Kreisen um sich selbst?

 

Antje Rávic Strubel: Sturz der Tage in die Nacht (S. Fischer, August 2011) ***

Eine Ich-Erzählerin auf einer Insel, auf Gotland, im Zelt, im Winter, im Sommer, sehr assoziativ, aber nicht mein Fall. Aber das hier ist ganz sicher Geschmacksfrage.

 

Meine Favoriten wären:

Leon und Luise, Blumenberg, In Zeiten des abnehmenden Lichts, Adams Erbe.

 

Und gelesen habe ich noch einen Jugendroman, der mir besser gefiel: Der Mond ist unsere Sonne. Dazu kommt noch eine Rezi.

 

herzliche Grüße

 

Hans Peter

 

PS: Ach ja, die Leseproben könnt ihr hier runterladen:

 

(Link ungültig)

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Vielen Dank, Hans-Peter!

 

"Adams Erbe" habe ich vor einigen Monaten gelesen. Der erste Teil hat mich sehr entzückt und der zweite dann immer mehr wieder abrücken lassen. Was den ersten Teil leicht macht (flotte Sprache, Komisches im Alltag), fand ich im zweiten Teil gar nicht mehr vor. Der wirkt mit all seinen Verweisen auf Holocaust und allertragischste Entscheidungen leider sehr erfunden.

 

Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

www.angelika-jodl.de

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Ich habe "Léon und Louise" gelesen - in einem Rutsch und bereue es jetzt, das Buch bereits weitergegeben zu haben, weil ich es gerne noch ein Mal, etwas langsamer, genüsslicher lesen möchte. Aber es kommt sicher in einem Jahr - meine Familie ist gross  ;) - wieder zu mir zurück ... und darauf freue ich mich.

 

Bereits am Anfang hat mich der feine Humor - die Sache mit den flachen Hinterköpfen!  ;D - für die Erzählung eingenommen. So etwas mag ich sehr. Auch die weitere Geschichte wird nie larmoyant, obwohl die beiden Ls doch reichlich Grund zum Klagen hätten. Im Gegenteil, die unterschwellige Hoffnung, dass sich die Zwei doch noch ... aber ich will nichts verraten.  ;)

 

Ich kann das Buch wärmstens empfehlen und drücke Alex die Daumen.

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