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(AndreaG)

Die Faszination des Bösen

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"Gewalt", lieber Ulf, ist doch etwas anderes als "das Böse".

 

Sieh dir das Wort "Staatsgewalt" an. Wittert da irgendjemand Böses? Noch nicht mal dann, wenn die Gewalt offen zutage tritt wie beim Niederknüppeln von Demonstranten. Egal, wie man zu solchen Aktionen stehen mag - was sie immer sofort deutlich sichtbar vom "Verbrechen" unterscheidet, ist das Fehlen eines partikularen Interesses. Auch wenn das Resultat blutige Köpfe sind - Nutznießer davon ist nicht ein Einzelner (oder sollte es zumindest nicht sein).

 

In den vorbürgerlichen Zeiten und Regionen, die du ansprichst - Mittelalter, Clans mit Blutrachegesetz - hast du die Variante dazu. Auch der einsamste Rächer, der da als Bluträcher oder lynchmäßig unterwegs ist, handelt nicht, um sich hinterher eins ganz persönlich zu kichern, sondern vollstreckt das, was ihm gesetzesgemäß scheint.

 

Das ist ein Unterschied zu dem unter "Folter" Gesagtem.

 

Angelika

 

P.S. Dass dein Held den Bösen verschont, macht ihn auf alle Fälle edel. Auch wenn das Herz von ein paar Leserinnen nach Haudrauf verlangt.

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

www.angelika-jodl.de

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Da stimme ich dir zu. Lust am Quälen kann einem Prota gewiss nicht gut tun.

 

Ulf

Die Montalban-Reihe, Die Normannen-Saga, Die Wikinger-Trilogie, Bucht der Schmuggler, Land im Sturm, Der Attentäter, Die Kinder von Nebra, Die Mission des Kreuzritters, Der Eiserne Herzog, www.ulfschiewe.de

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Die Diskussion verankert sich gerade stark um die Frage, ob wer wie viel wen oder überhaupt foltern darf.

 

Aber um noch einmal den Schwenk zum Ausgangspunkt zurückzuvollziehen:

 

Wie verhält sich die Sache bei jemandem, dessen Moral- und Wertekodex einfach gegenüber den allgemeinen gesellschaftlichen Normen verschoben ist, der aber innerhalb dieses eigenen Wertegerüsts sehr wohl konsistent agiert?

Da stellt sich doch vor allem die Frage, wie man diesen anderen Wertekodex dem Leser nahe bringt, so dass er ihn akzeptiert.

Ich persönlich glaube, dass die Annäherung in 'kleinen' Werten bei der Akzeptanz von Diskrepanz in 'großen' Werten hilft. Beispiel (wieder ein Film) - Leon der Killer, tötet Menschen, ohne mit der Wimper zu zucken, aber gießt jeden Tag seine Topfblume. Also folgert man, da muss etwas Gutes, Liebevolles in ihm sein, auch wenn es tief vergraben liegt, er ist also wert, gerettet zu werden. Das Böse in ihm fasziniert, weil es so traurig ist, weil sein Job ihn so einsam macht, weil man sich fragt, was sonst aus ihm hätte werden können, wenn er vielleicht einen anderen Menschen anstatt einer Blume zum kümmern gehabt hätte.

Also sprich - ein Killer wird sympatisch, wenn er alten Damen die Tür aufhält und sich um eine Katze sorgt, weil das dem Leser ein Fenster zu seiner Seele zu öffnen scheint?

 

- Andrea

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Aber um noch einmal den Schwenk zum Ausgangspunkt zurückzuvollziehen:

 

Wie verhält sich die Sache bei jemandem, dessen Moral- und Wertekodex einfach gegenüber den allgemeinen gesellschaftlichen Normen verschoben ist, der aber innerhalb dieses eigenen Wertegerüsts sehr wohl konsistent agiert?

Da stellt sich doch vor allem die Frage, wie man diesen anderen Wertekodex dem Leser nahe bringt, so dass er ihn akzeptiert.

 

Ich denke, das ist durch konsequentes Erzählen aus seiner Perspektive recht einfach zu erreichen. Indem man erzählerisch ganz dicht an ihn rangeht, die Emotionen spürbar werden lässt, die sich mit seinen Überlegungen verbinden, und so weiter.

 

Angenommen, man wollte über Adolf Eichmann schreiben, den "Verwaltungschef" der Judenvernichtung im Dritten Reich. Von ihm wird berichtet, er habe sich bei seinem Arzt beklagt, er schlafe so schlecht, schlimme Träume quälten ihn. Der Arzt, in der Vermutung, seinen Patienten quäle, dass er mit seiner täglichen Arbeit so viele Menschen dem Tod überantworte, hakte behutsam nach, doch Eichmann erklärte ihm zu seiner Betsürzung, was ihn quäle, sei, dass er dem Führer bis zu dem Zeitpunkt so und so viel getötete Juden versprochen habe, aber mit dem Zeitplan so weit hinterher sei, dass das nicht mehr aufzuholen sei – und nun habe er ein schlechtes Gewissen Hitler gegenüber! Also glasklar ein "verschobenes Wertesystem", um es behutsam zu umschreiben.

 

Ich bin überzeugt, dass man das angemessen (und auch fesselnd) darstellen könnte, indem man in Szenen aus Eichmanns Perspektive konsequent in seiner Perspektive bleibt. Das liefe nach dem Motto "verstehen ist nicht dasselbe wie teilen": Man würde die Figur verstehen und ihr auch folgen können, ohne ihre Werte und Einstellungen teilen zu müssen.

 

Man könnte, wenn man wollte, heißt das. Das wäre jetzt so eine Geschichte, die ich nicht schreiben wollte.

 

Ein Lesetipp dazu: Scott Smith, "Ein ganz einfacher Plan". Grandioser Roman und für mich die Referenz zum Thema "das Böse darstellen - wie geht das?". Ich kenne keinen anderen Roman, der das Böse je besser seziert und dargestellt hätte. Es schüttelt einen beim Lesen, aber man kann nicht aufhören.

 

Ich persönlich glaube, dass die Annäherung in 'kleinen' Werten bei der Akzeptanz von Diskrepanz in 'großen' Werten hilft. Beispiel (wieder ein Film) - Leon der Killer, tötet Menschen, ohne mit der Wimper zu zucken, aber gießt jeden Tag seine Topfblume. Also folgert man, da muss etwas Gutes, Liebevolles in ihm sein, auch wenn es tief vergraben liegt, er ist also wert, gerettet zu werden. Das Böse in ihm fasziniert, weil es so traurig ist, weil sein Job ihn so einsam macht, weil man sich fragt, was sonst aus ihm hätte werden können, wenn er vielleicht einen anderen Menschen anstatt einer Blume zum kümmern gehabt hätte.

Also sprich - ein Killer wird sympatisch, wenn er alten Damen die Tür aufhält und sich um eine Katze sorgt, weil das dem Leser ein Fenster zu seiner Seele zu öffnen scheint?

 

Mag sein, aber damit ändert man ja die Figur. Ein Auftragskiller, der seine Jobs nur deswegen tut, weil ihm das der einzige Weg zu sein scheint, die Kosten des guten Pflegeheims aufzubringen, in dem er seine Mutter untergebracht, die ihn unter vielen Mühen aufgezogen hat - daraus ließe sich natürlich eine nette Geschichte machen, aber es ist eine andere Figur als der Auftragskiller, der seine Opfer tötet, weil er gern Leuten beim Sterben zusieht.

 

Wie gesagt: Ich denke, richtig angewandtes perspektivisches Erzählen ist der Schlüssel.

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Beispiel (wieder ein Film) - Leon der Killer, tötet Menschen, ohne mit der Wimper zu zucken, aber gießt jeden Tag seine Topfblume. Also folgert man, da muss etwas Gutes, Liebevolles in ihm sein, auch wenn es tief vergraben liegt, er ist also wert, gerettet zu werden. Das Böse in ihm fasziniert, weil es so traurig ist, weil sein Job ihn so einsam macht, weil man sich fragt, was sonst aus ihm hätte werden können, wenn er vielleicht einen anderen Menschen anstatt einer Blume zum kümmern gehabt hätte.

Also sprich - ein Killer wird sympatisch, wenn er alten Damen die Tür aufhält und sich um eine Katze sorgt, weil das dem Leser ein Fenster zu seiner Seele zu öffnen scheint?

 

Du sagst "scheint", Andrea, woraus ich entnehme, dass du selbst nicht daran glaubst. ;)

Wenn ein Killer Topfblumen gießt, alten Damen die Tür aufhält und für seine Katze sorgt, würde ihn das für mich noch unsympathischer machen, weil es mir zeigt, wie mühsam er seine Fassade aufrecht erhält oder wie zwanghaft er ist. Hitler hat sich schließlich auch um Hunde gesorgt. Näher bringen würde ihn mir eher eine gewisse Art der Selbsterkenntnis, vielleicht eine Prise Humor. Oder, wie hier schon erwähnt, dass sich eine Geschichte herausstellt, die klarmacht, warum er so böse geworden ist, wie er ist. Mir fallen spontan drei böse Gestalten ein, die mir unvergesslich geworden sind. Unvergesslich und faszinierend, aber nicht sympathisch, müssen sie auch gar nicht sein. "Psycho" von Hitchcock, der bis zum Schluss alle Faszination auf sich zieht, der Mörder im "Parfüm", der konsequent das lebt, was in seiner Kindheit und Jugend in ihm angelegt wurde und Silas in Sakrileg" von Dan Brown. Die faszinieren mich ungemein.

Wenn deine Figur Kain so mitreißend ist, dann frage dich, was genau ihn so mitreißend und faszinierend macht und mache ihn damit zur Hauptfigur. Aber versuche, ihn nicht die Grenzen überschreiten zu lassen, zum Beispiel Lust am Foltern zu haben, denn dann würde ihn-für mich-auch seine Vergangenheit, seine kranke Mutter, seine Topfblumen und Katzen nicht mehr rausreißen.

 

Grüße

Christa

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Noch eine halb OT-Frage zu den Befürwortern der Fraktion: Helden foltern nicht.

 

Wäre es in euren Augen eigentlich Folter, oder einfach legitim, wenn der Schurke ein Alkoholiker ist (Spiegeltrinker) und der Held ihn sich schnappt, fesselt und vor den Augen des alkoholkranken Bösewichts die Alkoholika auskippt, die der arme Kerl so dringend braucht, bis er die Antworten kriegt, die er braucht?

Ich fand das für mein neues Projekt eine gute Lösung, ich fand den Helden dadurch noch sympathischer, weil es ein richtig fiesen Typen trifft. Allerdings muss man aus medizinischer Sicht wissen, dass ein Alkoholiker, dem man seinen Stoff entzieht, in ein Delir rutschen kann und das endet unbehandelt in 30% der Fälle tödlich. (Nun gut, das wusste man im Mittelalter noch nicht). Und so ein echter Entzug ist genauso gemein wie Folter.

 

Ist das Folter oder ist das gerechtfertigt?

 

Gruß, Melanie

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Liebe Melanie,

 

das finde ich total ok. Der Ausschütter weiss ja nicht, wie gefährlich das sein kann, und auch der normale Leser wird sich darüber keine Gedanken machen. Gute Lösung!

 

Mascha

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Ist das Folter oder ist das gerechtfertigt?

 

Hm, darüber musste ich jetzt eine Zeit lang nachdenken. Streng genommen wäre das natürlich Folter für den fiesen Alkoholiker, für den, der es tut, pädagogisch-ermittlerisch stringent. Das Risiko, dass er stirbt, besteht ebenso bei weiterer Verabreichung des Stoffes. Also, ich würde das bei einer Hauptfigur akzeptieren.

 

Mir ist noch was eingefallen. Warum waren "Die Henkerstochter" und Folgebände so erfolgreich? Da es mehr um den Henker als um seine Tochter geht, hätten wir eine Hauptfigur, die berufich gezwungen ist zu foltern. Ich habe den ersten Band gelesen und erinnere mich nicht, dass der Henker jemandem die Knochen gebrochen oder aufgezogen hätte. Und wenn, dann wäre es ja nicht die Lust daran gewesen, sondern sein Job. Es wurde gezeigt, wie sauber und handwerklich geschickt er diesen Job verrichtet, daneben wurden seine heilenden Kräfte aufgeführt. So ist diese Frage natürlich vielschichtig und individuell zu sehen.

Und was ich noch zu bedenken finde: Was mutet man sich sebst als Autor zu? Ich habe einmal den Gedanken verworfen, über eine echte historische Hexe zu schreiben, weil die am Schluss grausam gefoltert und verbrannt wurde. Zudem war sie noch sehr unsympathisch geschildert, da hätte ich schönen müssen. In Sachberichten habe ich schon oft über so etwas gelesen, auch über Mörder, die grausamste Verstümmelungen an ihren Opfern anrichteten. Aber ob ich die als Hauptfiguren in einem Roman haben wollte?

 

Christa

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