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Angelika Jo

Ferdinand von Schirach: Verbrechen

Empfohlene Beiträge

Vor ein paar Wochen hörte ich im Autoradio zufällig von ihm in einer Literatursendung und bestellte mir daraufhin sein Buch, das sofort auf den großen Stapel neben dem Bett wanderte. Dann sahen mein Mann und ich ihn in einer Talksendung, auf die wir beim Herumzappen gestoßen waren und fanden ihn klug und interessant. Ich muss das Buch demnächst lesen, dachte ich. Kurz darauf gab es ein Interview von ihm auf der letzten Seite der Samstags-SZ. Diesmal war es kein Zufall: Die Samstags-SZ lese ich immer. Nach der Lektüre holte ich das Buch von seinem Stapel und schlug es auf:

 

Verbrechen von Ferdinand von Schirach, Piper Verlag 2010

 

Ferdinand von Schirach ist Strafverteidiger. Die elf Geschichten in seinem Buch stammen alle aus dem Bereich, den er über seinen Beruf kennt, die Helden sind Angeklagte, denen er – das sagt er in einem Interview sinngemäß so – auf irgendeine Weise tatsächlich begegnet ist. Dass sich aus den Gesichtern, Polizeiberichten, anwaltlichen Gesprächen und Gerichtsverhandlungen das Material zu Erzählungen mischte, ist die schriftstellerische Leistung des Autors, die gerade über den knappen, nüchternen Tonfall wirkt. Erzählt werden die Geschichten von Drogendealern, Auftragskillern und Verzweiflungsnutten. Von Kindern aus gutem Hause, die psychisch so aus dem Leim gegangen sind, dass sie ihre Liebe aufessen wollen, von pflichtbesessenen, gütigen Mördern und einem Museumsangestellten, den die Empathie mit der Statue, die er bewacht, um den Verstand bringt. Fast immer gesellt sich erzählerisch sehr zurückhaltend der Strafverteidiger in Ich-Form zu ihnen und bringt den einen Fall zu einem Abschluss, den man als gerecht empfindet im moralischen Sinne mehr als im juristischen, der andere missglückt in dieser Hinsicht, wobei die Justiz ihre Arbeit korrekt erledigt hat. Und manchmal bleibt ein Fall unaufgelöst - Zufälle, Dummheiten und das Gesetz selbst lassen nichts anderes zu. Da weiß Herr von Schirach einfach, wovon er spricht:

Der Satz des Kriminalkommissars, dass eine Lösung zu einfach sei, ist eine Erfindung von Drehbuchautoren. Das Gegenteil ist wahr. Das Offensichtliche ist das Wahrscheinliche. Und fast immer ist es auch das Richtige.

 

Was ist denn das Richtige? Dass der Verbrecher aus Liebe bestraft wird? Der Auftragskiller von seinen betuchten Auftragsgebern gerettet wird? Dass ein kluger Mensch seinem Bruder den Arsch rettet, indem er dem Richter ein Dummerchen vorspielt? Kann sich die Justiz überhaupt rechtfertigen vor Logik oder gar der Moral? Nein. Die Geschichten beweisen das: Wie zufällig und verquer passieren die Delikte. Wie unerschütterlich blind und positiv gestimmt schreitet dagegen Justizia darüber hinweg. Aber im Wechsel von Gemeinheit und gnädigem Zufall, Klugheit und Brutalität belegen die Geschichten eine Justizauffassung des Autors, die lautet: Im Streit der zwei Parteien vor Gericht kann es gar nicht um Wahrheit oder das Richtige gehen, jeder ist Partei. Das Kräftegleichgewicht stellt sich über die vielen Streits her, wo mal die Seite des Strafrechts siegt, mal die des Strafverteidigers. Einen Sinn gibt’s nicht im Einzelfall, nur im allgemeinen. Genauso hat er seine Erzählungen aufgebaut: Das sinnvolle Ende löst sich ab mit dem entsetzlichen. Oder der Held kriegt zu Unrecht eine auf den Deckel, aber wenigstens profitiert ein anderer davon, der den Geschädigten nicht einmal kennt. Alles ist sinnlos und kriegt dennoch Sinn. Das Leben des Museumswächters war schon länger vermurkst. Aber die junge Restauratorin hat deswegen jetzt einen Job und breitet die Scherben auf einem Tisch aus:

Gegenüber dem Tisch stand ein kleiner hölzerner Buddhakopf aus Kyoto. Er war uralt und hatte einen Riss in der Stirn. Der Buddha lächelte.

 

Nach der Lektüre habe ich alle Geschichten noch einmal gelesen. Dann jeweils nur den letzten Satz oder Absatz. Das mit dem Sinn hat der Autor da irgendwo kunstvoll versteckt.

 

Man kann sich grausen bei manchen Geschichten, bei anderen lachen. Die letzte rührt zu Tränen. Das Buch ist toll für Juristen, Kriminologen und Krimifreunde, für Psychologen, Mediziner und Sozialarbeiter und für alle Freunde kluger und spannender Unterhaltung.

 

Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

www.angelika-jodl.de

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Schau mal hier: (Link ungültig)  ;)

 

 

Ich habe es inzwischen auch gelesen und kann die gesammelten Leseeindrücke nur bestätigen. Es lohnt sich.

 

Grüße

Joergen

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Danke Joergen. Und danke Rebecca - du liebe Zeit, ich hatte übersehen, dass du das Buch schon so schön rezensiert hattest!

 

Korrekturmeldung: "Verbrechen" ist schon letztes Jahr erschienen.

Aber letzten Monat ist ein neuer Band des Autors herausgekommen: Schuld.

 

Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

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Und heute steht in der Süddeutschen Zeitung die Rezension dazu im Feuilletonteil. Heribert Prantl hat sie passenderweise geschrieben.

 

Angelika

Laudatio auf eine kaukasische Kuh. Eichborn 2021. 

Alicia jagt eine Mandarinente. dtv premium März 2018. Die Grammatik der Rennpferde. dtv premium Mai 2016

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Heribert Prantl hat sie passenderweise geschrieben. Angelika

 

... da muss ich doch heute gleich reinschauen und überhaupt nochmals ins "Verbrechen" genauer reinlesen. Vor ca. einem Jahr bin ich mit der 1. Geschichte gar nicht warm geworden.

LG

Bea

"Wer nicht weiß, in welchen Hafen er will, für den ist kein Wind der richtige." Seneca

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