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(Gina)

Andrew Davidson: Gargoyle

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Huuh, was für ein Cover! Wenn dieses Buch nicht auf der Leseliste unseres Bookclubs gestanden hätte, hätte ich es bestimmt nicht gekauft. Die englische Taschenbuchausgabe sieht einfach zu sehr nach Splatter-Kitsch aus: Ein brennendes Herz prangt auf einem mit goldenen Pfeilen verzierten Lederimitat. Der Buchschnitt ist pechschwarz, als wäre der Roman ins Feuer gefallen. Die deutsche Ausgabe, die im Berlin-Verlag erschienen ist, wirkt ein bisschen seriöser, aber auch sie lenkt den Leser auf eine falsche Fährte, wie ich finde.

Nur weil es auf der Leseliste stand, hab ich „Gargoyle“ gekauft und zu lesen begonnen, zuerst mit einem leichten Widerwillen, aber dann ...:

Der Roman erzählt die Geschichte eines drogensüchtigen Pornodarstellers, der mit seinem Wagen – völlig zugedröhnt – in eine Schlucht rast und im Krankenhaus wieder aufwacht. Sein Körper ist verbrannt und völlig entstellt. Er ist ein Monster – ein Gargoyle, wie die grotesken Wasserspeier an gotischen Fassaden genannt werden.

Das Leben des namenlosen Ich-Erzählers ist zu Ende, und beginnt dann ganz neu, als er im Krankenhaus die schizophrene Marianne Engel trifft. Marianne, die ihm erzählt, dass sie beide vor sechs Jahrhunderten schon einmal gelebt haben. Im Deutschland des 14. Jahrhunderts war sie eine Nonne und er ein Söldner, die vom Schicksal zueinander geführt und dann wieder auseinandergerissen wurden.

Historischer Mittelalterschmöker, Fantasyroman und Liebesromanze – alle drei Genres lassen mich für gewöhnlich kalt, und „Gargoyle“ ist eine Mischung daraus. Und doch viel mehr.

Davidsons Sprache ist faszinierend – flapsig, zynisch, und sehr präzise, wenn er den Unfall beschreibt, die Schmerzen, die Ängste, den Selbsthass, die Verzweiflung des Ich-Erzählers. Paradoxerweise hält ihn in der ersten schrecklichen Zeit nur der Gedanke an seinen Selbstmord aufrecht. Sorgfältig, fast liebevoll, plant er ein ganzes Kapitel lang jeden einzelnen Schritt, um sich selbst das Leben zu nehmen.

Bevor es dazu kommt, kommt Marianne Engel, die im Gegensatz zum Unfallopfer jung und schön ist – aber eben verrückt. Eine erfolgreiche Künstlerin mit dem Herzen einer mittelalterlichen Nonne, lust- und körperfeindlich und von zerstörerischer Selbstverleugnung. Marianne Engel, die den Ich-Erzähler nicht trotz, sondern wegen seiner Entstelltheit liebt, die sein hässliches Äußeres genauso begeistert annimmt wie die Tatsache, dass auch der Penis des ehemaligen Porno-Stars ein Opfer der Flammen geworden ist.

Die beiden Erzählstränge aus der Gegenwart und dem späten Mittelalter werden durch kurze, recht rätselhafte Liebesgeschichten ergänzt, die Marianne dem Unfallopfer erzählt. Am Ende wächst alles zusammen – Krankengeschichte, Mittelalterepisoden und die Liebes-Fragmente – aber wie der entstellte Körper des Ich-Erzählers behält auch der Roman viele Narben, Widersprüche, offene Fragen.

„Gargoyle“ ist ein hin- und mitreißender Roman über die Liebe und über das Böse, das in uns Menschen und in der Welt steckt. Auf der Suche nach dem anderen, warnt der Roman, wirst du dich unwiederbringlich selbst verlieren. Aber es lohnt sich.

 

(ich würde das Cover gerne hochladen, damit ihr es bewundern könnt, aber ich weiß nicht wie ...)

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Stephanie Schuster

Danke, Rebecca! Wie geschickt! Wie hast du das gemacht? Warum kann ich das nicht? Es gibt noch eine englische Taschenbuchausgabe, die noch scheußlicher ist als die abgebildete: (Link ungültig)

Liebe Grüße

Gina

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Irgendwo hab' ich schon Lobendes über dieses Buch gehört.

 

Danke für den Tipp!

 

Herzlichst

jueb

"Dem von zwei Künstlern geschaffenen Werk wohnt ein Prinzip der Täuschung und Simulation inne."  

AT "Aus Liebe Stahl. Eine Künstlerehe."

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Ein Mann erleidet bei einem Autounfall schwerste Verbrennungen und hat in den Wochen seiner Rkonvaleszenz nur einen Gedanken: wie er nach seiner Entlassung Selbstmord begehen kann. Bis eines Tages eine mysteriöse Frau an seinem Krankenbett auftaucht, die behauptet, sie seien einst Liebende gewesen - vor siebenhundert Jahren, als sie eine Nonne war und er ein Söldner auf der Flucht...

 

Es gibt Bücher, die liest man, weil sie einen unterhalten, weil sie sprachlich relativ unfallfrei sind und eine Weile Entspannung und Vergnügen bereiten.

Später findet man sie in seinem Bücherregal wieder und muss ziemlich intensiv darüber nachdenken, was denn eigentlich drin steht. Man erinnert sich nur noch daran, dass sie nicht schlecht waren.

 

Dann gibt es Bücher, die wirken wie ein schwarzes Loch. Sie saugen einen geradezu an und man versinkt vollständig darin und kann nur mit großer Mühe ihrer Anziehungskraft entgehen, wenn es äußere Umstände erfordern. Es gibt eigentlich nur ein Entrinnen: man muss sie zuende lesen, so schnell wie möglich, heute Nacht noch oder eher schon heute Morgen.

Doch wenn man die letzte Seite dann erschöpft erreicht hat, ist da dieser Abschiedsschmerz, das große Bedauern, dass es vorbei ist.

 

Gargoyle gehört zur zweiten Kategorie.

 

Gargoyle ist ein Werk wie ein Frontalzusammenstoß, wie er dem Protagonisten widerfährt. Hier der Kopf des Lesers und dort ein Buch von einer sprachlichen Wucht, einer atemberaubenden Dramaturgie und einer Emotionalität und Sinnlichkeit, dass es einen an mehr als einer Stelle zu Tränen treibt.

 

Ich habe es auf einem Fantasy-Tisch gefunden, doch es reicht weit, weit über das Genre hinaus. Es entzieht sich in seiner unglaublich stimmigen und großartig authentischen (ja, tatsächlich, so etwas gibt es in diesem Bereich), überbordenden, detailfreudigen Dichte jeder Zuordnung.

Auf der einen Seite ist da die medizinisch akribische Geschichte eines weitgehend verbrannten Menschen und auf der anderen Seite die nicht weniger genaue und nachfühlbare, mittelalterliche Existenz, die er einmal geführt haben soll, zusammen mit der geheimnisvollen Erzählerin dieses dem Protagonisten absurd und unmöglich erscheinenden Teils seines angeblich bereits einmal gelebten Lebens.

Doch Schritt für Schritt wachsen die Menschen im Einst und im Jetzt zusammen wie die beiden Geschichten im Abstand von 700 Jahren, wobei beide aber weiter zwischen Realität und Drogentraum changieren.

Der Autor lässt den Leser im gleichen Maße im Unklaren darüber, was Realität ist und was Fantasie und führt diese herzzerreißende Liebesgeschichte aus zwei völlig verschiedenen Jahrhunderten trotzdem am Ende zu einem großartigen und mehr als bewegenden Schluss.

 

Für Freude des historischen Romans ist Gargoyle meiner unmaßgeblichen Meinung nach genau so ein Muss wie für die Fans von Zeitreise-Geschichten, für Liebhaber der Phantastik im Allgemeinen und Genießer schlicht genialer Literatur im Besonderen.

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