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BarbaraS

Jenny Erpenbeck: Heimsuchung

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Ein Waldgrundstück an einem See irgendwo in Brandenburg. Zwölf Menschen, deren Leben auf die eine oder andere Weise mit diesem Grundstück verknüpft war. Die es an Sommerfrischler verkauften, ein Sommerhaus darauf bauten, ihr Sommerhaus verlassen und aus Deutschland fliehen mussten oder umgebracht wurden, die sich vor der Roten Armee dort versteckten, die es als Rotarmisten besetzten, die aus dem Exil dorthin zurückkehrten, die als heimatlos Gewordene dort zu Gast waren, die das Haus schließlich nach der Wende an Alteigentümer und Investoren abgeben mussten.

 

Zwölf Geschichten, zwölf Leben. Jedes auf wenigen Seiten erzählt, in einer wunderbar präzisen Sprache, die alles Bekannte und schon Gehörte ausspart und direkt auf das Wesentliche, den Kern der Geschichte zusteuert. Mit einer Konzentration, die bezaubert, die aber auch weh tut – wenn wir zum Beispiel von dem Mädchen lesen, das sich in einem dunklen Schrank im Wahrschauer Ghetto versteckt, während ringsum die Häuser geräumt und die Menschen abtransportiert werden, und das sich in ihrem Versteck an die Sommer auf dem Seegrundstück ihrer Großeltern erinnert.

 

„Heimsuchung“ ist eins der vielschichtigsten Bücher, die ich kenne. Es erzählt auf 190 Seiten hundert Jahre deutsche Geschichte – aber es erzählt auch von Heimat, dem Erschaffen einer Heimat, dem Abschiednehmen, dem Dableiben, dem Aufgeben, dem Vertriebenwerden. Es gibt jeder Person, die darin auftritt, den Raum, den sie braucht, verhilft jeder zu ihrem Recht, so unterschiedlich sie sind. Zum Beispiel dem Architekten, der das Sommerhaus für sich und seine Frau gebaut hat:

 

„Heimat planen, das ist sein Beruf. Vier Wände um ein Stück Luft, ein Stück Luft mit steinerner Kralle aus allem, was wächst und wabert, herausreißen, und dingfest machen. Heimat. Ein Haus die dritte Haut, nach der Haut aus Fleisch und der Kleidung. Heimstatt. Ein Haus maßschneidern nach den Bedürfnissen seines Herrn. Essen, Kochen, Schlafen, Baden, Scheißen, Kinder, Gäste, Auto, Garten. Ob all das – oder das und das nicht, umrechnen in Holz, Stein, Glas, Stroh und Eisen. Dem Leben Richtungen geben, den Gängen Boden unter den Füßen, den Augen einen Blick, der Stille Türen. Und das hier war sein Haus. ...“

 

Dies wird erzählt in dem Moment, da der Architekt zum letzten Mal durch sein Haus geht und abschließt, weil er sich nach Westberlin absetzen muss, bevor er verhaftet wird. (Wir befinden uns in den Anfangsjahren der DDR.) So wie hier wird sehr oft ein ganzes Leben aus einem Moment der Stille oder des Wartens heraus erzählt, in Rückblenden und Vorgriffen, die immer das Besondere treffen und immer das genau richtige Wort dafür finden. Erzählkunst auf höchstem Niveau.

 

Obwohl jede Person und jedes Leben für sich steht, sind alle eng miteinander verwoben – über den Ort, aber auch über Motive und sprachliche Wendungen, die immer wieder auftauchen. Das letzte Kapitel zum Beispiel greift fast wörtlich Passagen aus dem zweiten Kapitel wieder auf, nur eben in ganz anderem Kontext. Und dann ist da noch der Gärtner: jedes zweite Kapitel erzählt von ihm, wie er Jahr für Jahr fast die gleichen Arbeiten verrichtet. So dass man lange Zeit meint, er sei zeitlos. Bis er sich doch zu verändern beginnt.

 

"Heimsuchung" ist ein Roman, den ich immer wieder lesen möchte. Weil ich bei ihm das Gefühl habe, dass ich aus wirklich jedem Satz etwas lernen kann. (Wieso benutzt sie ausgerechnet dieses Wort? Wie bringt sie es fertig, so knapp zu erzählen und trotzdem so vollständige Bilder zu malen? Woher zum Teufel weiß sie so genau, wie viel sie mir sagen muss, damit ich ihr immer weiter folge?) Aber auch, weil ich ihn einfach wunderschön finde.

 

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Wow!

Jetzt bin ich aber angefixt.

 

Herzlichst

jueb

"Dem von zwei Künstlern geschaffenen Werk wohnt ein Prinzip der Täuschung und Simulation inne."  

AT "Aus Liebe Stahl. Eine Künstlerehe."

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Ach Barbara, schöner kann man nicht auf den Punkt bringen, was diesen Roman so besonders macht!  :-* Ich unterstreiche jedes Wort deiner schönen Rezension. "Heimsuchung" von Jenny Erpenbeck ist eines meiner absoluten Lesehighlights der letzten Jahre - ein Buch, das ich wieder und wieder zur Hand nehmen werde.

 

Liebe Grüße

Lisa

PS: Irgendwann bekommen wir auch noch unsere Bücher signiert - muss ja nicht im LCB sein ;-)

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Danke! Ich hab vor ein paar Monaten schon einmal eine Besprechung zu dem Buch gelesen, aber irgendwie war ich mir danach nicht sicher. Aber deine Rezension klingt so faszinierend, dass ich´s direkt bestellt habe.

Liebe Grüße

Gina

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Hand hoch, wer noch alles nach Lisas Workshop das Buch bestellt hat ... http://smilies.montsegur.de/04.gif

 

Ich habe noch in Büroklamotten im Flur angefangen, zu blättern und hätte am liebsten alles andere stehen und liegen gelassen.

Liebe Grüße, Susanne

 

"Books! The best weapons in the world!" (The Doctor)

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